Wilhelm Neurohr

Buchrezension

Hrsg. Ulrich Morgenthaler in Zusammenarbeit mit Klaus Starke und Christoph Strawe (Nachwort), VSA-Verlag Hamburg 2007, ISBN 978-3-89965-231-4

Das aus dem Portugiesischen von Elsmarie Pape übersetzte und in Brasilien bereits erschienene Buch von Franzisko „Chico“ Whitaker - mit einem eigenen Vorwort zur deutschen Ausgabe und „allen Kindern dieser Welt gewidmet“ - umfasst die Entwicklung und die sich eröffnenden Perspektiven des Weltsozialforums in seinen vielfältigen Dimensionen und als bedeutende politischen Neuerung des 21. Jahrhunderts. Zugleich ist es Drehbuch und Arbeitsmaterial für die Organisation und die Prozessgestaltung von Sozialforen – über deren Ziel und weiteren Weg im Kampf für eine neue Welt derzeit gerungen wird unter der Fragestellung: Das Weltsozialforum als Bewegung oder als offener Raum? Welche Neuerungen bringt das Weltsozialforum als Form politischen Handelns?

Die positive aktuelle Krise des zu erneuernden Weltsozialforums, das von Porto Allegre im Jahr 2001 bis Nairobi im Jahre 2007 alljährlich zeitgleich und alternativ zum Weltwirtschaftsforum Davos der neoliberalen Globalisierungselite stattfindet, wirft die Zukunftsfrage auf: Wie geht es weiter? Was ist das wesentlich Neue und Bedeutende, das Welt verändernde der Weltsozialforen und ihrer dazu geeigneten Arbeitsweisen? Wird das Weltsozialforum seinem Anspruch im Sinne eines neuen Denkens und veränderten Handelns gerecht oder scheitert es an der Wiederkehr des alten Denkens und hierarchischen oder zentralistischen Handelns, weil die Zeit noch nicht reif ist? Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht die Kernfrage, wie durch eine horizontale Organisation auf gleicher Augenhöhe aller eigenverantwortlich Beteiligten ohne Mehrheits- oder Führungsansprüche erneuernde gesellschaftliche Wandlungs- und Lebenskräfte entstehen können.

Als Mitglied des Organisationskomitees und Mitbegründer des Weltsozialforums hat der 1931 geborene brasilianische Autor, Träger des Alternativen Nobelpreises, eine bewegte Biografie und ein lebenslanges Engagement für soziale Gerechtigkeit vorzuweisen: Beruflich als Stadt-, Regional- und Regierungsplaner begonnen, dann als Berater, Aktivist und Vertreter katholischer Einrichtungen einflussreich tätig, schließlich Planungsdirektor der brasilianischen Bundesinstitutes für Agrarreformen und nach seinem 15-jährigen Exil und Ausbildertätigkeit für Entwicklungshelfer in nationalen und internationalen Funktionen u. a. bei der UNESCO und den Vereinten Nationen in Chile (vor und während der Regierung Allende) tätig sowie zeitweilig Stadtrat in Sao Paulo. Ihm ist es mit zu verdanken, dass sich nach der Jahrtausendwende das Weltsozialforum kraftvoll auf der weltpolitischen Bühne behaupten konnte.

Auf 250 Seiten mit 4 Kapiteln und 14 Anhängen zeichnet er zunächst die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte und den Entwicklungsprozess des Weltsozialforums nach. Vorangestellt ist ein Vorwort von Oded Grajew, ebenfalls Brasilianer und Vorsitzender der Unternehmerstiftung „Ethos“, der im Jahr 2000 die eigentliche Idee zum Weltsozialforum in Porto Allegre hatte und ebenfalls dem Organisationskomitee angehört. Er betont, das die Glaubwürdigkeit und die Fähigkeit zu vernetzen, zu führen, zu sensibilisieren und zu mobilisieren davon abhängt, ob unser Reden und Handeln übereinstimmen im Sinne gelebter positiver Beispiele. Die Flamme der Begeisterung aufrechtzuerhalten sei die zweite Herausforderung, um die Kräfte nicht nur in der Verkündigung unserer Ideen, Pläne und Wünsche zu investieren, sondern hauptsächlich darin, eine andere Gesellschaft selber aufzubauen und zu gestalten, indem wir unseren Geist befreien und Herz und Verstand miteinander sprechen lassen. „Wir sind und werden auch immer das sein, was wir tun und nicht nur das, was wir denken, uns vorstellen oder sagen.“ Das vorliegende Buch von Chico Whitaker werde entscheidend dazu beitragen, diesen gerade begonnenen Weg revolutionärer politischer und sozialer Veränderungen zu begreifen.

In seiner Einführung betont Whitaker, dass es angesichts weltumspannender Herrschaftsstrukturen von grundlegender Bedeutung sei, dass das Projekt des kontinuierlich weiterzuentwickelnden Weltsozialforums sich über den ganzen Planeten ausbreitet und sich überall lokal verankert. Nur wenn andersartiges politisches Handeln freigesetzt werde, sei die Gewalt von Unterdrückung und Militarismus und die Gegengewalt von Terrorismus einzudämmen, um so dass Weiterbestehen des Lebens auf der Erde zu sichern.

Mit der vorangestellten Charta der Prinzipien des Weltsozialforums als grundlegendes Dokument wird der Charakter eines offenen Raumes für die Begegnung von Gruppen, Organisationen und Bewegungen der Zivilgesellschaft betont, die sich dem Neoliberalismus und der Weltherrschaft durch das Kapital widersetzen. Seit dem Auftakt in Porto Allegre befinde man sich in einem permanenten Prozess der Suche nach Alternativen Das Weltsozialforum habe jedoch keinen Beschlusscharakter, sondern eine Mittlerfunktion und niemand könne im Namen anderer für andere oder für alle Teilnehmer sprechen. Vielmehr sei das Weltsozialforum ein Ort des Erfahrungsaustausches, der Auseinandersetzung und eine Bewegung der Ideen zur Lösung sozialer Probleme mit gegenseitiger Anerkennung und Förderung des gegenseitigen Verständnisses und Achtung der Vielfalt.

Insofern seien „soziale Bewegung“ und „sozialer Raum“ mit ihren jeweiligen Eigenarten zwei völlig unterschiedliche Dinge, die auf ihre Weise mit unterschiedlichen Rollen in Koexistenz nach gleichen Zielen streben, aber nicht das Forum in eine Bewegung transformiert werden dürfe. Das Forum lebe von der Macht offener, horizontaler Strukturen, als wichtigste politische Entdeckung der jüngeren Zeit.

Trotz vieler interner Konflikte und Auseinandersetzungen unter den Aktivisten und Bewegungen innerhalb des Weltsozialforums über diese und andere Fragen strahlt das Buch von Whitacker in den weiteren Kapitel einen großen, ansteckenden Optimismus aus. Mit den grundlegenden Optionen für die Organisation von Sozialforen im zweiten Kapitel wird deutlich, was mit dem „offenen Raum“ gemeint ist und was es damit auf sich hat; warum Selbstorganisation, Selbstverwaltung und Mitverantwortung sowie Gleichberechtigung „auf gleicher Augenhöhe“ so wichtig sind auch für das individuelle freie Engagement und die Erfolgsaussichten. Auf der horizontalen Ebene seien alle Teilnehmer und Veranstaltungen des Forums gleich wichtig und wertvoll und eine Vielfalt politischer Aktionen möglich, was durch Hunderte von Seminaren und Workshops zum Ausdruck komme. Die Strukturveränderung und die innere Veränderung gingen einander einher.

Das 3. Kapitel schließlich vertieft die Fragen zur Entwicklung des Sozialforums und verdeutlicht den Unterschied des „offenen Raum“ und einer „Bewegung“. Die Umwandlung des Sozialforums in eine Bewegung sieht Chico Whitacker als eine große Gefahr, weil es sich dann erschöpfen und verschwinden würde. Deshalb dürfe es weder mit Führungsinstanzen ausgestattet noch mit einer ideologischen Richtung versehen werden. Der Ausschluss politischer Parteien oder staatlicher und militärischer Institutionen aus dem zivilgesellschaftlichenoffenen Raum begründet er fundiert und nachvollziehbar, weil es auf die individuelle Einzelpersönlichkeit ankomme, unabhängig von Gruppen- und Parteizugehörigkeiten. Des Weiteren stellt er die Frage nach der politischen Wirksamkeit und Effizienz des Sozialforums, das nur Prozesse anstoßen, aber nicht selber organisieren kann. Deshalb müsse auch der Versuchung „abgestimmter Schlussdokumente“ und Festlegungen am Ende der Foren widerstanden werden.

Im vierten Kapitel zeigt der Autor Perspektiven auf, beginnend bei den gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen des Sozialforums von Mumbai. Als größte Gefahr in den nächsten Jahren sieht er die lähmende Angst und mangelnde Zuversicht an, dass eine andere Welt möglich sei. Da wir aber schon auf dem Weg der Veränderungen seien und die alternativen Ideen immer populärer werden, bestehe die Hoffnung, dass sich immer mehr Menschen weltweit dafür engagieren. Die positive Krise des Weltsozialforums hänge auch mit seinem erfreulichen Wachstum zusammen. Die angefügten zahlreichen Anhänge zu dem Buch sind wichtige Dokumente, in denen auch noch einmal die heutigen Herausforderungen für das Weltsozialforum, die Fragen wo es steht und wo es hingeht und was die eigentliche Neuerung im politischen Handeln ist, in einem Rückblick und Ausblick vertieft werden.

In seinem Nachwort bringt Christoph Strawe, der zusammen mit Ulrich Morgenthaler die deutsche Buchfassung mit initiiert hat, die Kernbotschaften von Chico Whitacker noch einmal prägnant auf den Punkt. Von dem Verständnis des Prinzips des offenen Raumes hänge weit mehr ab, als man zunächst bemerke. Deshalb betone und verteidige Chico Whitacker geduldig immer wieder diesen Open-Space-Charakter gegen alle Versuche, ihn zu beschädigen. Nur so könne verhindert werden, dass immer wieder die Werte und Ideale sozialer Neurungen sich in der Praxis ins Gegenteil verkehren, wie das Scheitern überkommener Strategien zur Veränderung der Welt belege. Bereits in der täglichen Praxis von heute müsse deshalb die Qualität der erstrebten anderen Welt anwesend sein, denn Ziel und Weg seien untrennbar. Es gebe keine soziale Erneuerung ohne ein Miteinander schon auf dem Weg dahin, unter Anerkennung der Mündigkeit jedes einzelnen Menschen. Chico Whitacker habe ein Gespür für die permanente Gefährdung des neuen durch den Rückfall ins Alte.

Die globale Zivilgesellschaft als wirklich relevante soziale Bewegung sei durch ein radikal dezentralistisches Organisationsprinzip wirksam geworden und vertrage keine vertikalen, zentralistischen Führungsstrukturen. Vielmehr komme es auf die einzelnen Akteure an und wie sie zusammenfinden. In der Arbeitsweise des Weltsozialforums sehe Whitacker einen neuen Typ fortschrittlicher Politik im Werden befindlich, bei der die Subjekte dieser neuen Politik keine Organisationen der machtpolitischen Sphäre seine, sondern die Zivilgesellschaft. Nur aus einem solchen sozio-kultuellen Raum heraus, jenseits der Logik von Machtpolitik oder Profit, können Erneuerungsimpulse für Politik und Ökonomie aus freier kultureller Kreativität und aus der Arbeit an sich selber kommen. Der offene Raum der freien Begegnungen mit dem Prinzip der Selbstorganisation schaffe Wärmequalitäten, so Chico Whitacker, die ihn zu einer „Brutstätte des Neuen“ machen mit Offenheit und Durchlässigkeit für neue Ideen. Einiges von der Wärme und Ideenkraft ist beim Lesen des Buches von Chico Whitacker spürbar und wirksam, so dass sich der Leser oder die Leserin angeregt in einen offenen Raum für eine andere Welt begeben kann.