Wilhelm Neurohr

Zur aktuellen politischen Religionsdebatte in Deutschland

Selten zuvor hat es eine so lebhafte und anhaltende politische Religionsdebatte in der deutschen Öffentlichkeit gegeben wie derzeit, aus verschiedenen Anlässen:

Gläubige Christen am rechten Rand

Da bilden sich im rechten Lager Vereinigungen wie „Christen in der NPD“ oder „Juden in der AfD“ sowie eine „Arbeitsgemeinschaft Christen in der AfD“ – Letztere mit dem Segen des evangelischen Landesbischofs von Hannover mit seiner Aussage: Christ und AfD-Mitglied zu sein, schließe sich nicht aus –damit vertritt er allerdings eine Minderheitenmeinung in seiner Kirche. (Das konservativ-christliche Milieu wird jedoch auf 20% bis 30% der Kirchenmitglieder einschließlich Rechtsradikaler geschätzt und soll gehegt werden). In Sachsen zeigen evangelikal geprägte bibeltreue Christen auf Pegida-Demonstrationen schwarz-rot-goldene christliche Kreuze als Zeichen der islamfeindlichen Bewegung. Zugleich landet das neue Buch des SPD-Mitglieds Thilo Sarrazin wiederum auf den Bestsellerlisten mit dem Titel: „Feindliche Übernahme - wie der Islam den Fortschritt bedroht“. Dabei hatte der damalige Papst 1980 auf seiner Deutschlandreise die „islamische Frömmigkeit“ als Vorbild für seine nachlassenden Christen hervorgehoben.

Und nachdem der bayrische Ministerpräsident Markus Söder als eine seiner ersten Amtshandlungen das Aufhängen von Kreuzen in öffentlichen Einrichtungen verfügte und so die Religion parteipolitisch instrumentalisierte und zweckentfremdete , überraschte ausgerechnet CSU-Chef und Bundesinnenminister Horst Seehofer („Der Islam, gehört nicht zu Deutschland“) mit der liberalen Frage: „Wie gestalten wir das Zusammenleben in einer religiös und weltanschaulich pluraler gewordenen Gesellschaft und das Verhältnis zwischen Religion und Staat?“

Religionsstreit bei den Linken

Aber nicht nur im rechten Lager, auch in der Linkspartei ist genau dieses Thema virulent, nachdem es auf ihrem letzten Parteitag umstrittene Anträge und religionskritische Debatten gegeben hat über das Ende oder die Reform aller Staatsverträge mit den Kirchen – also hin zum Laizismus im säkularen Staat. Daraufhin debattierte die Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Wissenschaftlern, Politikern und Vertretern von Christentum, Islam und humanistischen Weltanschauungen über das Verbindende statt Trennende zwischen Linken und Gläubigen bei dem gemeinsamen Ziel der Weltverbesserung zugunsten der Armen und Benachteiligten (siehe hierzu Beitrag von Jürgen Klute an anderer Stelle). Allerdings wären dann die 16 Mrd.€ bei den Bedürftigen besser aufgehoben, die stattdessen seit Gründung der Bundesrepublik durch alle Steuerzahler (einschließlich Nichtmitglieder der Kirchen) als üppige Gehälter allein an die obersten kirchlichen Würdenträger geflossen sind, zuletzt 538 Mio. € auf Rekordhöhe in 2018.

Schon die Humanistische Union fordert seit 1961 die konsequente Abschaffung staatlicher Kirchenprivilegien und Gleichberechtigung aller Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften. (In deren Vorstand und Beirat engagieren sich prominente Schriftsteller und Politiker aus dem rot-grünen Spektrum). In deren Sinne dürfte deshalb auch das viel diskutierte aktuelle BAG-Urteil sein, wonach kirchliche Arbeitgeber bei Stellenausschreibungen künftig von Bewerbern nicht mehr zwingend eine Religionszugehörigkeit verlangen dürfen, wenn diese für die konkrete Tätigkeit nicht objektiv geboten ist.

Skandale, Austrittswelle und abnehmender Gottesglaube

In die Religionsdebatte hinein platzte die veröffentlichte Studie über den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, in den 1.670 kirchliche Autoritäten und Würdenträger involviert waren, denen zuvor beigebracht wurde, dass man Gott nicht näher käme, wenn man nicht per Zölibat der Sexualität entbehre, obgleich sie sich danach verzehren. Und aus dem Mund der obersten kirchlichen Autorität aus Rom kam zu allem Übel (während der politischen Debatte um Abschaffung des § 219 a) die Gleichsetzung der Abtreibung mit „Auftragsmord“, die einen Aufschrei der Empörung hervorrief. Derweil singt der Liedermacher Funny van Dannen auf seinem neuen Album gegen den „religiösen Fanatismus“, weil für ihn laut taz-Interview Religionen antiquiertes Gedankengut sind.

Diese lebhafte politische Religionsdebatte spielt sich vor dem Hintergrund von 10 Millionen Kirchenaustritten bei den beiden großen Konfessionen in Deutschland seit 1990 ab. Nur noch 55% sind Mitgliedereiner christlichen Kirche. In Ostdeutschland sind 52% bekennende Atheisten. Laut einer Umfrage des Allensbach-Instituts von 2017 glauben nur noch 48% der Deutschen an die Existenz einer überirdischen Macht (in Ostdeutschland nur 13%) und nur die Hälfte hält noch ihr Land stark vom Christentum geprägt. Hunderte Kirchen in Deutschland wurden mittlerweile entweiht, umgenutzt oder abgerissen. In den beiden großen Konfessionen fehlen bis 2030 über 7.000 Pfarrer als Nachwuchs.

Verflechtung zwischen Religion und Politik schafft wechselseitige Abhängigkeiten

Inwiefern ist angesichts einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft noch die enge institutionelle und personelle Verflechtung zwischen den Kirchengremien der privilegierten Religionsgemeinschaften mit ihrem Sonderstatus und den (weltanschaulich neutralen?) politischen Gremien des Staates und der ihn tragenden Parteien gerechtfertigt? Im Zentralkomitee der Katholiken tummeln sich zahlreiche amtierende und ehemalige Spitzenpolitiker. Nicht viel anders verhält es sich beim Pendant der evangelischen Kirche Deutschlands, der Synode der EKD, bei der personellen Zusammensetzung (allerdings mit weniger CDU-Lastigkeit als bei den Katholiken).

Besteht hier nicht die Gefahr der wechselseitigen Instrumentalisierung, Abhängigkeit und Gefälligkeit zwischen Politik und Kirche bzw. Staat und Religion, mit Auswirkungen bis in den verpflichtenden konfessionellen Religionsunterricht in staatlichen Schulen schon vor der Religionsmündigkeit, in Gesetzesverfahren und bei der Eintreibung von Kirchensteuern, die auch berechtigte Begehrlichkeiten auf Gleichbehandlung bei den 5,7% Mitgliedern islamischer Glaubensgemeinschaften in Deutschland wecken. Gerne werfen wir denen im Zusammenhang mit DiTiB die enge Verflechtung mit dem türkischen Staat und die Nähe zur AKP vor, weil diese die Türken in den Islam zwinge. Sind nicht - bei allen Unterschieden – die Probleme im Grundsatz ähnlich, wenn nicht zunächst bei uns im Staat eine grundlegende Trennung von Religion und Politik, von Kirche und Staat erfolgt – als eine zentrale Errungenschaft der Moderne? Genügt nicht die konsequente Orientierung an den allgemeinen Menschenrechen den ethisch-moralischen Ansprüchen einer menschlichen Gesellschaft?

Christsein ohne Kirche? Die Zukunft der Religion - Die Religion der Zukunft

Es stellt sich sogar die zugespitzte Frage: Sind die inzwischen 36% Konfessionslosen in unserem Land allesamt unreligiöser als die Kirchensteuer zahlenden (und oft nicht praktizierenden) Mitglieder der Amtskirchen? Braucht man als mündiger „Gläubiger“ im Zeitalter der (sozial verantwortungsvollen) Individualisierung auf lange Sicht die organisierte „Glaubensgemeinschaft“ und die Institution Kirche mit ihren Autoritäten, Riten und Moralaposteln, oder ist die „Kindergartenzeit“ für den nach innerer Freiheit strebenden Menschen nicht irgendwann vorbei? (Die Begriffe Religion, Glaube, Kirche, Konfession werden oft fälschlich oft synonym statt differenziert gebraucht). Und sind die ethisch handelnden Humanisten ohne metaphysische Ergründung der Seinszusammenhänge weniger wertvolle Zeitgenossen als die eingeschriebenen und konfessionell registrierten Christen? Man kann eigentlich nicht religiös und zugleich ein Christ, ein Moslem, ein Hindu oder Buddhist sein, weil das die Gläubigen eher trennt als verbindet.

Ist nicht die in der menschlichen Natur verankerte Ethik wichtiger als die anerzogene Religion, die Religionszugehörigkeit oder die Gläubigkeit? Man muss also kein „Kirchenchrist“ sein, um den sittlichen Normen und Wertmaßstäbe zu genügen, so hat es auch der bekannte Moraltheologe Rupert Lang in seinem Buch: „Der lebende Jesus und die sterbende Kirche“ als Plädoyer für ein modernes Christentum dargelegt. Der persönliche Glaube im Verhältnis zu „seinem Gott“ wird immer mehr zur Privatangelegenheit des Menschen, der sich aber gemeinschaftlich in der Begegnung mit anderen Menschen aus seinem eigenen ethisch-moralischen Antrieb und Handlungsmotiv in das soziale Leben politisch und öffentlich einbringt, anstatt dies an seine Kirchenfunktionäre oder die Institution zu delegieren und diese für ihn in seinem Namen als Autorität sprechen und handeln zu lassen. Das Ziel der Kirche sollte es sein, sich in ferner Zukunft überflüssig zu machen. Bis dahin könnte sie sich ganz bescheiden an der Seite der Menschen als lernende und lebensnahe statt besserwisserische und moralisierende Kirche verhalten, die den mündigen Menschen etwas Hilfreiches zu sagen hat für die eigene Fortentwicklung.

Freiheit des Menschen bedeutet auch Religionsfreiheit – als Freiheit von Religionszugehörigkeit

Wird es nicht bei einer freien Religiösität des modernen Menschen in Zukunft keines Religionszwanges bedürfen, weil das die wahre Religionsfreiheit von freien Menschen wäre? Denn dann wird jede Menschenbegegnung von vornherein eine Art religiöse Handlung oder Sakrament sein, so dass es zur Aufrechterhaltung des religiösen Lebens keiner besonderen Kirche oder äußeren Einrichtung bedarf, um das religiöse Leben aufrecht zu erhalten. Wäre das nicht ein dankbares Zukunftsthema für Theologen?

Jeder Kultus ist so lange ein "Krücke", ein Hilfsmittel, bis wir so weit sind, die Kommunikation mit der Geistigen Welt aus uns selbst zu führen, ohne äußere Symbole und Vermittler zu brauchen. So wird die Religionsfreiheit, also nicht nur die freie Religionsausübung, sondern auch verstanden als Befreiung von der Kirche oder Glaubensgemeinschaft, zur Handlungsfreiheit und jede Menschenbegegnung zum Kultus, denn das gemeinschaftsfähige Individuum ist das Wesen, das die ganze Menschheit und deren Geschichte in sich trägt. Das religiöse und menschliche Verlangen nach Wahrheit, Weisheit und Liebe ist doch etwas Lebendiges und Bewegliches, also immer weniger in einem Tempel, in einer Moschee oder einer Kirche zu finden, und dahin führt in Zukunft auch keine Religion mehr mit ihren theologischen Ideen und Begriffen. Jeder muss heutzutage zunehmend seine eigene Beziehung zur Welt und damit auch zur geistigen Welt sowie zur spirituellen (d. h. sozialen) Gemeinschaftsbildung suchen und finden.

Wilhelm Neurohr (Erstveröffentlichung in der Ruhrgebietszeitschrift AMOS Nr. 4 - 2018)

„Die Religion der Zukunft wird eine Religion sein der größten Toleranz, des tiefsten Interesses des einen Menschen für den anderen. Die Zukunft der Religion wird im Tempel des Sozialen erlebt werden, wo jede Begegnung als reales Sakrament erlebt wird, wo der Kultus das tägliche Leben selbst sein wird und das tägliche Leben selbst zum realen Kultus werden wird.“

(Pietro Archiati, 1997, Philosoph, Theologe und Ordenspriester)

Der Autor (67) war Jahrzehnte als Stadt- und Regionalplaner und Personalratsvorsitzender sowie Agenda-Beauftragter in der Kreisverwaltung Recklinghausen beruflich tätig (und vor dem 2. Bildungsweg im Bergbau). Er ist in einer katholischen Familie im Ruhrgebiet mit Besuch der konfessionellen Volksschule aufgewachsen und war 10 Jahre lang Messdiener und Lektor sowie in der kirchlichen Jugendarbeit engagiert, bevor er im 28. Lebensjahr aus der katholischen Amtskirche austrat und zeitweilig zur überkonfessionellen Christengemeinschaft wechselte. Heute ist er konfessionslos, aber mit christlicher Orientierung in ethischen und menschenrechtlichen Fragen unterwegs.