Wilhelm Neurohr

20 Jahre Kinderarmut und soziale Ungerechtigkeit im reichsten Land Europas

Für einen sozialen Klimawandel im Staat der sozialen Kälte

„Fehlt einem Staate die soziale Gerechtigkeit, was ist er dann anderes als eine große Räuberbande! (Staatsrechtslehrer Augustinus 354-430)

Rasanter Anstieg von Armut und sozialer Ungleichheit

Seit dem Jahr 2000, also seit 20 Jahren, verzeichnet Deutschland einen rasanten Anstieg von Armut und sozialer Ungleichheit, so stellte die OECD fest. Jahr für Jahr sind seither Armuts- und Reichtums-Berichte der Bundesregierung und vieler Institute veröffentlicht worden, die einerseits das dramatische Ausmaß der ungebremst steigenden Kinderarmut und auch der zunehmenden Altersarmut aufzeigten sowie andererseits die Diskrepanz der ungerechten Einkommens- und Vermögensverteilung.

Durch die Corona-Folgen ist trotz der milliardenschweren Rettungspakete (vornehmlich für die Wirtschaft) eine Verschlimmerung und Verfestigung der Armutsrisiken zu befürchten, obwohl die sozialen Probleme „wie in einem Brennglas“ sichtbar wurden und deren Problemlösung allenthalben beschworen wurde. Vor allem die nicht hinnehmbare Kinderarmut in Deutschland ist ein ernst zu nehmendes Problem von höchster Priorität und Dringlichkeit. Sie spürbar zu reduzieren, ist bislang nicht gelungen und ernsthafte Anstrengungen, das zu verändern, sind nicht erkennbar, obwohl es dazu eines entschlossen handelnden Krisenstabes und Finanzprogramms wie bei Corona bedürfte.

Heute wachsen fast 3 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut auf – der deutsche Kinderschutzbund spricht inklusive Dunkelziffer sogar von 4,4 Mio. Kindern - und über 3 Mio. Rentner sind bereits von Altersarmut betroffen, Jahr für Jahr werden es mehr. Daran ändern weder die eingeführte Grundrente noch die geringfügige Erhöhung des Kindergeldes etwas. Zumeist wurden die Armutsberichte politisch ignoriert oder es folgten politische Lippenbekenntnisse und ebenso halbherzige wie wirkungslose „Gegenmaßnahmen“ zur „Armutsbekämpfung“ wie jüngst die Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes um armselige 7,- Euro. So vererbt sich Kinderarmut über Generationen, und die Betroffenen spüren die Perspektivlosigkeit dieser sozialen Kälte gnadenlos, bis hinein in die Bildungsbenachteiligung. Auch hier verfestigt sich die soziale Ungleichheit in schulischer und außerschulischer Bildung.

„Kinderarmut als größte gesellschaftliche Herausforderung in Deutschland“

Ausgerechnet die neoliberal ausgerichtete Bertelsmann-Stiftung legte nun am 22. Juli 2020 eine Studie vor über die vielfältigen Benachteiligungen der Kinder aus Armutsfamilien: „Seit Jahren ist der Kampf gegen Kinderarmut eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland“, heißt es darin. (Zuvor verfolgte die Bertelsmann-Stiftung die Idee eines Niedriglohnsektors; sie war an der Ausgestaltung des früheren Bündnisses für Arbeit, der Agenda 2010 und von Hartz IV wenn auch nur indirekt, aber doch prägend beteiligt).

Bereits im Juni 2020 hatte der glaubwürdigere Paritätische Wohlfahrtsverband veröffentlicht, dass jedes dritte Kind im Ruhrgebiet in Armut lebt, in Städten wie Gelsenkirchen sind es sogar 42%, also fast jedes zweite Kind. Doch die Politik ging nach den Veröffentlichungen zur Tagesordnung über und verschanzte sich hinter die tagespolitische Corona-Aktivitäten. Überlesen wurde wohl die Zeitungsschlagzeile: „Corona macht Kinder arm.“

Die Problematik verschärft sich noch für die Armutsfamilien durch die ungebremste Mietpreisentwicklung und die Engpässe am Wohnungsmarkt, denn die so genannte Mietpreisbremse erwies sich als weitgehend wirkungslos oder kontraproduktiv. Auch hier bleibt die Politik tatenlos, so dass die Zahl der Obdachlosen im Wohlstandsland Deutschland auf fast 700.000 angestiegen ist. Hinzu kommen demnächst diejenigen, die infolge von Corona ihre Miete nicht mehr zahlen können, wenn der temporäre Kündigungsschutz aufgehoben ist. Zugleich wird der Arbeitsmarkt noch lange mit Corona kämpfen und die Zahl der Arbeitslosen und Geringverdiener sowie Hartz-IV-Empfänger wird steigen und die Zahl der Ausbildungsplätze für Jugendliche sinken.

„Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland ist eine Schande“

Schon vergessen scheint auch die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin vom 21. März 2018, in der sie selbstkritisch beklagte: „Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland ist eine Schande“. Bis zu diesem Zeitpunkt blickte Frau Merkel auf 12 Jahre Amtszeit als Regierungschefin zurück, in der die Kinderarmut von 14,7% in 2005 auf fast 16% angestiegen war und seither weiter gestiegen ist auf über 20%. Betroffen sind drei bis vier Mio. Kinder, deren Schicksal bislang politisch nahezu tatenlos hingenommen wurde. Zugleich war die Quote der Armutsrentner in Merkels Amtszeit bis 2018 bereits von 11% auf 19% gestiegen. In keiner der von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen ist der Zuwachs damit so groß wie bei Rentnern und Pensionären. Seit 2010 beträgt er mehr als 33 Prozent. Das entspricht einer Zunahme von 803.000 Menschen. Und die Zahl derjenigen Bedürftigen, die auf Tafeln oder Suppenküchen angewiesen sind, hat sich von 0,5 Mio. auf 1,5 Mio. verdreifacht.

Daraufhin erklärte die Bundeskanzlerin: " Davor hat die Bundespolitik zu lange die Augen verschlossen. Ich möchte, dass am Ende dieser Legislaturperiode diese Bilanz gezogen wird: Unsere Gesellschaft ist menschlicher geworden, Spaltungen und Polarisierung konnten verringert, vielleicht sogar überwunden werden, und Zusammenhalt ist neu gewachsen." Seit dieser Aussage sind weitere 1 bis 2 Jahre vergangen und ihre Amtszeit nähert sich dem Ende, ohne dass sie ihrem Regierungsversprechen bis heute nachgekommen ist. Stattdessen empörte sich ihre Fraktion im Europawahljahr 2019, als der linke Spitzenkandidat Schirdewan ihr den Vorwurf machte: „Seitdem Angela Merkel Kanzlerin ist, hat sich die Zahl der Kinder in Armut verdoppelt - aber auch die Zahl der Vermögensmillionäre. Und das macht doch ganz deutlich, dass das völlig in die falsche Richtung geht, wie der gesellschaftliche Reichtum verteilt wurde."

Die Reichen besitzen fast alles und Millionen Menschen fast gar nichts

Im Kontrast zu der Armutsbilanz veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Mitte Juli 2020, dass demgegenüber 0,1 % der Bevölkerung über 20% des Netto-Gesamtvermögens besitzt bzw. das reichste 1% Prozent der Bevölkerung sich bereits 35 % des individuellen Nettovermögens angeeignet hat. Die reichsten 10% kommen auf über 67%. Rund 700 Millionäre sind mit mehr als 250 Mio. € in der Hitliste aufgeführt, während die Milliardäre über ihr Vermögen eisern schweigen. Die wenigen Reichen besitzen also fast alles und Millionen Menschen besitzen fast nichts. Weder über Vermögenssteuern noch über Erbschaftssteuern gedenkt der Sozialstaat hier gegenzusteuern. So wird hingenommen, dass ein Topmanager von Dax-Konzernen in Deutschland so viel verdient wie 50 Mitarbeiter und auch beim Scheitern mit Abfindungen und Pensionszahlungen in zweistelliger Millionenhöhe rechnen kann.

Die im Jahr 2000 erfolgte Senkung der Spitzensteuersätze für die Spitzenverdiener hat die sozialpolitischen Verteilungsspielräume und himmelschreienden Ungerechtigkeiten jahrzehntelang verschärft, ebenso wie die Steuerhinterziehung in Höhe von 100 Mrd. € jährlich durch die Eliten nach Schätzung der Hans-Böckler-Stiftung. Hinzu kommt der europaweite Steuerbetrug in ebenfalls dreistelliger Milliardensumme, wobei das „Stopfen von Steuerschlupflöchern“ bisher trotz zwischenzeitlichen Datenabgleichs nur Absichtserklärungen sind.

Dass keine größeren Summen für Sozialleistungen zur Armutsbekämpfung verfügbar sind, ist vor diesem Hintergrund sowie vor dem exorbitant steigenden Rüstungsetat eine skandalöse politische Haltung in einem reichen Sozialstaat, der die falschen Prioritäten setzt. Wenn inzwischen sogar ein Netzwerk von 200 Millionären eine angemessene Besteuerung großer Vermögen fordert, vor allem Mit Blick auf die Corona-Probleme, und die Bundesregierung abwinkt, so grenzt das fast an Veruntreuung nicht eingenommener öffentlicher Gelder. (Was erwartet man von einstigen Spitzenpolitikern wie Schröder oder Gabriel, die das Armutsproblem mit verantworteten, aber nach ihrem Ausscheiden selber zusammenraffen, was immer sich darbietet, von Gazprom über Tönnies bis zur kriminellen Deutschen Bank, Zitat Gabriel: „Für normale Menschen sind 10.000 € viel Geld“ – für ihn sind das Peanuts?).

Fehlende Gesamtstrategie gegen Kinderarmut und Altersarmut.

Die Regierung und ihre Sozialpolitiker, aber auch die Mehrzahl der Abgeordneten im Bundestag, haben offenbar kein erfolgversprechendes Gesamtkonzept zur Armutsbekämpfung vor Augen, sondern sie beschränken sich auf punktuelle Einzelmaßnahmen aus dem Arbeits- und Familienministerium, die nicht den erhofften Durchbruch bringen. Weitergehende Konzepte etwa für eine Kindergrundsicherung bleiben im Konzeptstadium stecken. Es fehlen darüber hinaus gehende Visionen und der politische Wille, wie das Deutsche Kinderhilfswerk beklagt. Nicht einmal zu einer krisenbedingte Aufstockung der Hartz-IV-Sätze in spürbarem Umfang konnte man sich durchringen. Aber auch ein Gesamtkonzept für armutsfeste Renten fehlt weiterhin, so dass die Angst vor Altersarmut in der gesamten Gesellschaft weiter grassiert.

Gleichgültiger kann man die soziale Kälte gegenüber der jungen und alten Generation politisch nicht zum Ausdruck bringen, die seit 20 Jahren den Armutsfamilien, den Kindern und Armutsrentnern entgegengebracht wird. Das zeugt vom politischen Totalversagen der Sozialpolitiker, die das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes, die soziale Eigentumsverpflichtung und die Erklärung der Menschenrechte nur in einer fehlinterpretierten Sparversion ernst nehmen. Wir brauchen deshalb nicht nur einen ökologischen, sondern auch einen sozialen Klimawandel mit einer entsprechenden sozialen Bewegung, die weit über die behäbigen Gewerkschaften und rührigen Sozialverbände hinausreicht. Sonst geht die klimabedingte Erderwärmung einerseits mit einer vom Sozialklima erzeugten sozialen Kälteperiode andererseits einher, das wäre eine zerstörerische soziale Klimakatastrophe.

Erwärmen wir uns stattdessen für das Soziale und Gerechte - und legen der vom Wirtschafts- und Rüstungslobbyismus verdorbenen staatlichen „Räuberbande“ im Sinne des Hl. Augustinus das Handwerk. Ansonsten ist nach Corona ein bloßes „Weiter so“ zu befürchten und wir haben aus der Krise nichts gelernt für das menschliche Zusammenleben in solidarischer Gemeinschaft. Das wäre ein Armutszeugnis für diese reiche Land und seine Reichen, die allzu gerne wieder zu den Krisengewinnern gehören möchten und sich um die Verlierer weiterhin nicht scheren wollen.

Wilhelm Neurohr

Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit“.

Artikel 25 der Allg. Erklärung der Menschenrechte: „Jeder Mensch hat das Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohl für sich selbst und die eigene Familie gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen gewährleistet sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.
2. Mütter und Kinder haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche wie außereheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz."

Artikel 1 (1) GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.

Artikel 20 (1)GG: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundessstaat“.

Artikel 14 (2) „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“