Wilhelm Neurohr

Leserbrief an das Medienhaus Medienhaus Bauer (Politik-Redaktion der Recklinghäuser Zeitung)

Privatisierungswelle bei Autobahnen und Schulen per Grundgesetzänderung?

Sämtliche Medien richten derzeit ihren Fokus vor allem auf Erdogan, Trump und Schulz. Dabei versäumen sie, über die wichtigsten und skandalösesten innenpolitischen Weichenstellungen im Endstadium der großen Koalition im Bundestag zu berichten: Dort wird nämlich in diesem Monat März klammheimlich ohne öffentliche Diskussion das größte Privatisierungsvorhaben noch schnell vor der Bundestagswahl mit Zweidrittelmehrheit durchgeboxt: Per Grundgesetzänderung in 13 Artikeln wird Tür und Tor geöffnet für die Privatisierung der Autobahnen, der Infrastruktur und sogar der Schulen! Deshalb sind den Koalitionsparteien die medialen Ablenkungsmanöver auf andere Themen wohl ganz recht.

Mit einem neuen Artikel 104c sollen öffentlich-rechtliche Partnerschaften (ÖPP) bei Autobahnen und bei der kommunalen Bildungsinfrastruktur wie Kindergärten und Schulen ermöglicht werden, entgegen den bisherigen föderalen Zuständigkeiten auch mit Weisungsrecht des Bundes. Zugleich soll mit einem Begleitgesetz die Privatisierung auch im Schulbau beschleunigt werden. Auf ganzer Linie hat sich hier eine Lobby erfolgreich durchgesetzt, noch vorbereitet vom SPD-Politiker Sigmar Gabriel in seiner Zeit als Wirtschaftsminister mit einer Expertenkommission aus Vertretern von Banken, Versicherungskonzernen und dem Bund der Deutschen Industrie.

Nunmehr werden ÖPP-Investitionsvorhaben für förderfähig erklärt oder sind künftig sogar die Voraussetzung für eine öffentliche Förderung, mit Beratung durch die neue „ÖPP-GmbH“. Diese ist die Nachfolge-Organisation der bisherigen Lobbyorganisation „ÖPP Deutschland AG“, die seinerzeit unter Kanzler Schröder und Minister Steinbrück an der Spitze ins Leben gerufen wurde, ganz im Geiste der neoliberalen Agenda 2010. Angeregt wurde damals diese Einrichtung vom Lobbynetzwerk „Finanzstandort Deutschland“ unter Federführung der Bauindustrie. Für die Kommunen soll künftig eine Infrastrukturgesellschaft (IfK) eingerichtet werden, damit sich öffentliche Ausschreibungen erübrigen.

Es wäre interessant, zu erfahren, was Kanzlerkandidat Martin Schulz zu diesem lobbyhörigen Deal seiner Parteifreunde aus dem Bundestag sagt? Und wie votieren eigentlich unsere heimischen Bundestagsabgeordneten im März im Bundestag? Denn trotz durchweg negativer Berichte der Rechnungshöfe über ÖPP-Projekte an Schulen sollen nebst den Autobahnen vor allem die Schulen und Kindergärten einbezogen werden. Kritiker sehen das größte Privatisierungsprojekt seit den neunziger Jahren auf uns zukommen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund warnt bereits eindringlich vor diesen Plänen mittels der größten Grundgesetzänderung dieses Jahrzehnts. Denn auch die 70 Änderungsvorschläge aus den Bundesländern wurden von der Bundesregierung in ihrem Entwurf nicht übernommen.

Über die Schulprivatisierung per Grundgesetz freuen sich bereits Privatunternehmen, die als Retter mit ihren Geldern „Gewehr bei Fuß“ stehen. Und das nicht nur für die Schulbauten, sondern auch für die Privatisierung in der Bildung insgesamt, von Microsoft über McKinsey bis Bertelsmann und inzwischen gebildeten „Bildungskonzernen“, die bereits in anderen EU-Ländern Fuß fassen. Warum liest man so wenig bis fast gar nichts darüber in unseren Tageszeitungen?

Wilhelm Neurohr