Wilhelm Neurohr

Frieden bedeutet mehr als "Nicht-Krieg"

(Aus dem Archiv des bayr. Rundfunks vom 08.01.2013):

Krieg, so können wir im Politlexikon (2003) von Klaus Schubert und Martina Klein nachlesen, "bezeichnet einen organisierten, mit Waffen gewaltsam ausgetragenen Konflikt zwischen Staaten oder zwischen sozialen Gruppen der Bevölkerung eines Staates". Ursachen, Ziele und Formen, die eingesetzten Waffen sowie seine räumlichen Ausdehnung seien die Merkmale, die den Krieg näher bestimmten. So weit die Definition. Dahinter verbergen sich menschliche Schicksale. Krieg, das sind Tote und Verletzte, Zerstörung, Flucht und Vertreibung, sind Bomben, Panzer und Soldaten. Krieg, das bedeutet immer Leid und Trauer, Angst, Hoffnungslosigkeit und oft auch Schuld. Wir alle tragen Bilder vom Krieg in uns. Und wir alle wissen, was gemeint ist, wenn von Krieg die Rede ist.

Was aber, wenn kein Krieg ist, wenn die Waffen schweigen? Können wir dann von Frieden sprechen? Tatsächlich: aus der Fülle an Bedeutungsmöglichkeiten ist es die Abwesenheit von Krieg und Gewalt, die uns spontan in den Sinn kommt, wenn wir Frieden beschreiben wollen. Doch der Begriff umfasst weit mehr als Nicht-Krieg. Der erneute Blick in zuvor genanntes Lexikon gibt uns zu verstehen, Frieden meint nach heutigem Verständnis "eine umfassende und dauerhafte Rechtsordnung und Lebensform, bei der Wohl und Wohlstand der Bürger und Bürgerinnen oberste Ziele sind".

Von einem erweiterten Gewaltbegriff zu einem erweiterten Friedenskonzept

Wenn die Kämpfe vorbei sind, kehrt nicht automatisch Frieden ein. Überhaupt muss ein Friedenszustand nicht zwangsläufig die Zufriedenheit der Menschen nach sich ziehen.

Die Friedensforschung unterscheidet darum zwischen einem negativen und einem positiven Frieden. Unter Ersterem versteht sie die Abwesenheit kriegerischer Gewalt, die Johan Galtung, dem geistigen Vater dieser Friedensauffassung, als direkte Gewalt bezeichnet. Der positiv bestimmte Friedensbegriff ist etwas komplexer. Er richtet sein Augenmerk auf Formen der strukturellen Gewalt, deren Wurzeln in politischen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Verhältnissen liegen, und die, im Gegensatz zu der offenen personalen Gewalt von Krieg und Terror, indirekt vor sich geht. Indirekt deshalb, weil weder ein konkreter Täter, noch eine konkrete Handlung zu erkennen ist. Wenn etwa in Ländern Afrikas Menschen verhungern, tritt niemand direkt auf, der ihnen die Nahrung wegnimmt oder vorenthält. Die Ursachen für den Hunger liegen in den weltweiten Strukturen, für die Menschen (v. a. der westlichen Industrienationen) zwar die Verantwortung tragen, jedoch unabhängig von konkreten Personen Schädigungen erzeugen.

Nach Galtung können strukturelle Verhältnisse dann als gewalthaft gelten, wenn sie vom Stand der gesellschaftlichen Entwicklung als vermeidbar einzustufen sind. Wenn also wider besseres Wissen keine Vorkehrungen getroffen werden, um beispielsweise den Erhalt der Natur und damit den Erhalt der Lebensgrundlagen des Menschen zu gewährleisten, oder wenn gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen zugunsten ökonomischer Effektivität aufrechterhalten werden. Kurzum: Strukturelle Gewalt herrscht überall dort, wo man Menschen infolge von ungleich verteilten Macht- und Herrschaftsverhältnissen politische und soziale Gerechtigkeit vorenthält oder gar verweigert, bis dahin, sie zu unterdrücken, zu entrechten und auszubeuten. Eine derart erweiterte Sicht auf Gewalt führt zu einem erweiterten Friedenskonzept: Positiver Frieden bedeutet danach die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit sowie von politischer und persönlicher Freiheit Einzelner und sozialer Gruppen, ihre Partizipation und Entfaltung eingeschlossen.

Ein Blick in die Friedensgeschichte

Frieden entsteht nicht einfach so. Frieden muss gestiftet werden. Wie aber müsste ein Friedenskonzept beschaffen sein, das alle Menschen gleichermaßen überzeugt und sie zu einem friedvollen Miteinander motiviert? Über diese Frage zerbrechen sich seit Jahrhunderten Philosophen aus allen Denkrichtungen den Kopf. Der historische Schnelldurchlauf macht deutlich, dass der Friedensbegriff im steten Wandel begriffen ist, je nachdem, auf welcher politisch-gesellschaftlichen oder religiösen Folie er entworfen wird und welchen Werten und Visionen er entspringt.

Innerer Frieden und Frieden mit Gott

In der griechischen Antike galten Kriege noch als unvermeidbar, weshalb sich die ersten Friedensüberlegungen ausschließlich um den inneren Frieden des Menschen ranken. Seelenruhe und Gelassenheit zu erreichen, darin sah der griechische Philosoph Epikur die Bedingungen für ein friedvolles Miteinander. Politische oder besser innenpolitische Bedeutung erlangte der Friedensbegriff dagegen im römischen Kaiserreich. Die Pax Romana wurde zum Innbegriff eines Friedens, der das gesamte römische Imperium umspannte und seinen Bürgern durch einheitliches Recht und gemeinsame Grundwerte Sicherheit und Wohlstand versprach. An den Grenzen des Weltreichs tobten indes die Kriege weiter. Der Friede zwischen den Völkern interessierte auch die Römer weniger, Eroberungsfeldzüge standen im Gegenteil für sie auf der Tagesordnung. Mit Aufkommen des Christentums schließlich wurde der Friede zur zentralen christlichen Botschaft. "Über den Gottesstaat" nannte der Philosoph und Kirchenvater Augustinus seine umfangreiche Friedenstheorie, die er im fünften Jahrhundert verfasste und die fast 1000 Jahre das Denken des Abendlandes beherrschen sollte. Ihr zugrunde liegt die Vorstellung eines kosmischen Ordnungsprinzips, in dem der Friede von Gott gestiftet ist, zu Gott hinführt und seine Erfüllung in Gott findet. Voraussetzung für Ruhe und Frieden sei, dass der Mensch den ihm zugestandenen Platz in der Ordnung des Ganzen einnehme und "im gläubigen Gehorsam gegen das ewige Gesetz", ein christliches Leben führe. Bekanntlich stiftete die Religion im Mittelalter keinen Frieden. Im Namen Gottes zogen die Christen sogar in erbitterte Glaubenskriege.

Frieden durch Sicherheit, Freiheit und Recht

Als in der frühen Neuzeit die Trennung von geistlicher und weltlicher Macht erfolgte, rückte auch der politische und soziale Friede verstärkt in das Blickfeld philosophischer Friedensbetrachtung. Der englische Philosoph Thomas Hobbes etwa gelangte zu der Erkenntnis: Der Mensch sei "des Menschen Wolf", und der "Krieg aller gegen alle" der natürliche Zustand unter den Menschen. Hobbes, der im 17. Jahrhundert lebte, forderte darum einen starken Staat, der mit ausreichender Autorität ausgestattet ist, um die Menschen voreinander zu schützen und ihre Sicherheit zu gewährleisten. Ob der Staat gerecht handelt oder nicht, war für ihn dagegen zweitrangig. Seine Kollegen der Aufklärung, allen voran der Schweizer Philosoph Jean Jacques Rousseau, sahen das anders. Nicht der Mensch sei von Natur aus schlecht, sondern die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er lebte. Sie verhinderten sein von Natur aus vorhandenes Gutsein. Um das wieder hervorzuholen, bedarf es darum eines gerechten Staates. Wie Hobbes dachte auch Rousseau an einen "Gesellschaftsvertrag", doch bei dessen Umsetzung stand für ihn nicht die Sicherheit der Bürger im Vordergrund, sondern ihre Freiheit.

Im 18. Jahrhundert schließlich verankert Immanuel Kant den Frieden im moralischen Recht, verstanden als Gerechtigkeit und festgeschrieben in entsprechenden Gesetzen. Kaum befand er den Menschen als friedvolle Natur, wohl aber sah er seine Fähigkeit zur moralischen Vernunft. Der Friede sei darum kein bloßer Wunsch des Menschen, sondern ebenso Pflicht wie die individuelle Moralität. Zur Vision des Philosophen aus Königsberg wurde der Rechtszustand, in dem jeder sich dem gesetzlich verankerten Allgemeinwillen unterwirft. Sein generelles Sittengesetz, der kategorische Imperativ, schuf dafür die Grundlage: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." In seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" (1795) unterbreitete Kant Vorschläge, wie der politische Frieden institutionell herbeigeführt und gesichert werden könne, auch zwischen den Völkern. Mit seiner Idee von einem Völkerbund, in dem sich die Staaten verpflichten, wechselseitig ihre Freiheit und Souveränität zu respektieren und zu schützen, legte er das Fundament, auf dem sich 1919 der Völkerbund und schließlich 1945 die Vereinten Nationen gründeten.

Und heute?

In einer Anti-Kriegs-Demo auf dem Budapester Gellerthügel in 2009 bilden Menschen mit Fakeln das Peace-Zeichen.

Von Frieden zu reden, erscheint fast sinnlos, wenn das Leben auf der Erde zerstört wird, sei es durch Raubbau der Natur, sei es durch den Hungertod von Millionen von Menschen. Seit Erfindung der Atombombe könnte ein globaler Krieg außerdem das Ende der gesamten Menschheit bedeuten, gleichwohl mit den Anschlägen vom 11. September 2001 der internationale Terrorismus als die derzeit größere Bedrohung angesehen wird. So wird der Frieden heute zur Grundbedingung des Lebens und Überlebens der Menschheit. Ihn zu gestalten, bedeutet Weltfrieden zu gestalten. Friedensentwürfe sprechen sich deshalb für die Vermeidung von Gewalt ebenso aus, wie sie für Menschenrechte eintreten und dafür, politische, ökonomische und soziale Gerechtigkeit zu fördern, was auch die Bewahrung der Natur als eine für die Menschen (über)lebenswichtige Ressource bedeutet. Um diese Friedensideen umzusetzen, wäre aus Sicht ihrer Vertreter der Ausbau der UNO zu einem föderalen Weltenparlament einer der notwendigen Schritte in die richtige Richtung.

Vielleicht wird der dauerhafte Friede noch lange in weiter Ferne auf uns warten. Trotzdem sollten wir auf dem Weg zu ihm das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Frieden ist keine leere Idee, das zeigen die Überlegungen der Philosophie. Frieden ist ein Wert an sich, gleichbedeutend mit Freiheit. Und er ist ein gesellschaftlicher Prozess, der uns beständig zum Dialog, zu Bemühung und Anstrengung fordert, und dazu, Position zu beziehen.