Wilhelm Neurohr

Kommentar (Leserbrief an divese Zeitungen)

Thüringen ist überall: Scheinheiligkeit nach einer ganzen Serie politischer Tabubrüche

Handelt es sich bei dem skandalösen Verhalten von FDP und CDU im Thüringer Landtag bei der Ministerpräsidentenwahl mit Hilfe der rechtsradikalen AfD tatsächlich um den „ersten“ Tabubruch? Kritiker und Medien haben wohl aus ihrem Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis gelöscht, dass CDU und FDP zurückliegend schon mehrere solcher Tabubrüche begangen und damit ihre politische Unschuld längst verloren haben – mögen sie auch noch so oft scheinheilig beteuern, dass sie eine Zusammenarbeit mit Rechtsnationalen ablehnen. Wenn es um Machtfragen geht, kennt man keine Scham und keine Tabus.

Dammbruch im Europa-Parlament

Zur Erinnerung: Erst vor einem halben Jahr hat sich die CDU-Kommissionspräsidentin von der Leyen nach vorausgegangenen Hinterzimmer-Gesprächen die Mehrheiten von 383 Stimmen im Europa-Parlament mit Hilfe von Rechtspopulisten und Nationalisten gesichert, nachdem die Grünen ihr die Zustimmung als Mehrheitsbeschaffer verweigerten. Benötigt wurden daraufhin 26 Stimmen von Rechtsaußen.

Nicht nur die Rechtsnationalen aus der eigenen konservativen bis rechtspopulistischen EKR-Fraktion – darunter Orbans Fidez-Partei und Polens PIS-Partei – zählten zu den willkommenen Mehrheitsbeschaffern. (Im Vorfeld waren Merkel und Ziemiak eigens nach Polen gereist um die Stimmen der PIS für die CDU-Kandidatin einzuwerben). Sondern auch Matteo Salvinis rechtsnationale Lega aus Italien stimmte für die deutsche CDU-Kandidatin. Aus der rechtspopulistischen ID-Fraktion im Europa-Parlament hatten zwar die AfD-Vertreter eine Zustimmung für Frau von der Leyen abgelehnt, ebenso die FPÖ aus Österreich. Aber von anderen Teilen der rechtsextremen Fraktion konnte Frau van der Leyen einzelne Stimmen wohl zusätzlich abschöpfen, (unter anderem von Le Pen aus Frankreich und sogar von der niederländischen Wilders-Partei), wie Beobachter bemerkten. Die öffentliche Empörung hielt sich in Grenzen.

Nationalliberale bei den Freien Demokraten und Nazis bei den Christdemokraten

Und die politischen Dammbrüche der FDP sind sogar legendär: Deren Vorsitzender Lindner distanzierte sich nach dem Thüringen-Debakel nicht eindeutig von dem Vorgang, sein Stellvertreter Kubicki verteidigte sogar den Vorgang und gratulierte dem FDP-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich, den 95% der Wähler nicht als Landesvater gewollt und gewählt haben – doch wen interessiert schon der Wählerwille?

Die FDP hat seit Anbeginn einen starken nationalliberalen Flügel und hatte lange Zeit mehrere Landesverbände rechts von der CDU. Wir erinnern uns an die „Unterwanderung“ durch den „Naumann-Kreis“ in NRW oder an die internen Flügelkämpfe mit den Rechten auf dem FDP-Bundesparteitag 1952 in Bad Ems, die dort ein „Deutsches Programm“ vorlegten. Denn schon nach dem Krieg wollte der rechte FDP-Flügel ehemaligen NSDAP-Anhängern und Wehrmachtsoldaten sowie NS-Beamten eine politische Heimat bieten.

Gleiches gilt für die CDU nach 1945, wo ehemals führende Richter der NS-Justiz und leitende Mitarbeiter der Gestapo problemlos in führende Positionen bei der CDU gelangten. Von Ministerpräsident Filbinger über Bundeskanzler Kiesinger bis zum BND-Chef Gehlen und dem Kanzleramtschef Globke. Und als CDU-Mitglied bis 2013 war der heutige AfD-Chef Alexander Gauland von 1987 bis 1991 Leiter der hessischen Staatskanzlei unter CDU-Ministerpräsident Walter Wallmann (Mitglied der Burschenschaft Germania). Landes-Chef der hessischen CDU war zu der Zeit Alfred Dregger (ehemaliges NSDAP-Mitglied), der zusammen mit seinem CDU-Generalsekretär Manfred Kanther für eine rechte "Law- und Order-Politik" und gegen alles Linke stand. Später betrieb CDU-Ministerpräsident Roland Koch seine Wahlkämpfe mit ausländerfeindlichen Parolen. (Übrigens schaffte CDU-Generalsekretät Wallmann im Zuge des CDU-Parteispendenskandals fast 21 Mio. € Schwarzgeld über die Schweiz nach Liechtenstein). Alles keine Tabubrüche, sondern nur kleine personelle Betriebsunfälle am äußerst rechten Rand der CDU?

Politische Tabubrüche auch auf komunaler Ebene, z. B. in Recklinghausen

In Recklinghausen hatte 2002 der FDP-Kreisverband mit Unterstützung des FDP-Landesvorsitzenden Möllemann dem damaligen grünen Landtagsabgeordneten Jamal Karsli nach umstrittenen antisemitischen Äußerungen (und einem Beitrag in der extrem rechten Zeitschrift „Junge Freiheit“) eine Aufnahme in der FDP-Landtagsfraktion angeboten. Daraufhin drohte die FDP-Ikone Hildgard-Hamm-Brücher nach 50 Jahren mit Austritt aus der FDP, den sie später auch wegen des Rechtstrends ihrer Partei vollzog. (Karsli gründete dann eine eigene rechte Partei namens „Fakt“).

Und ebenfalls in Recklinghausen, im CDU-Kreisverband, hatte man keine Skrupel, für den Posten des Verbandsvorsitzenden des „Ruhrparlaments“ einen Hinterzimmer-Deal mit der rechtspopulistischen UBP – von denen sich später viele Mitglieder der AFD zuwendeten – zu machen. Gegen den Wählerwillen bekam so ein CDU-Landtagsabgeordneter mit Hilfe der UBP den begehrten Posten statt ein Vertreter der von den Wählern gewollten Mehrheit.

Schon im Stadtparlament Recklinghausen hatten CDU und FDP keine Berührungsängste, mit der rechtspopulistischen UBP jahrelang ein Mehrheitsbündnis als „Dreier-Koalition“ zu schließen. Die „Dammbrüche“ sind also schon längst passiert, statt die „braune Flut“ einzudämmen und aufzuhalten!

Wilhelm Neurohr