Wilhelm Neurohr

Armutsquote in Deutschland erreicht neuen Höchststand

Laut einer aktuellen Datenauswertung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung erreichte die gegenüber dem Vorjahr gestiegene Armutsquote in Deutschland einen neuen Höchststand. Insgesamt lebten im vergangenen Jahr fast 16% der Bevölkerung mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze, deren Risikoschwelle bei 60% des mittleren Einkommens liegt. Wer darunter fällt, gilt als armutsgefährdet. Noch in ihrer Regierungserklärung am 21. März 2018 hatte Kanzlerin Merkel erklärt: "Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland ist eine Schande“. das klang fast wie eine Selbstanklage, denn wer ist nach 12 bzw. 13 Jahren ununterbrochener Regierungszeit dafür verantwortlich, wenn nicht die "Kanzlerin der sozialen Kälte", die damit die Verlierer dieser Gesellschaft in die rechtspopulistischen Arme der AfD treibt? Aber auch die gebeutelten "Sozialdemokraten" in der großen Koalition mit ihrem neoliberalen Vizekanzler Scholz gehen eher auf Tauchstation als die Probleme beherzt anzugehen - und landen derzeit in den Umfragen bei 17 bis 18 % auf Augenhöhe mit der AfD.

Noch vor wenigen Monaten beschwörte Kanzlerin Merkel nunmehr die „Integration der Schwachen“. Meint sie die Armutsrentner, deren Quote in ihren 12 Regierungsjahren von 11% auf 16% angestiegen ist? Oder meint sie diejenigen Bedürftigen, die auf Tafeln oder Suppenküchen angewiesen sind und deren Zahl in Merkels 12-jährigen Amtszeit sich von 0,5 Mio. auf 1,5 Mio. verdreifacht hat? „Davor hat die Bundespolitik zu lange die Augen verschlossen", sagte Merkel selbstkritisch und wollte bis zum Ende ihrer Amtszeit „unsere Gesellschaft menschlicher machen“. In den nächsten 3 Jahren der restlichen Regierungszeit will sie das schaffen, was sie in den vorherigen 12 Jahren der „sozialen Kälte“ versäumt hat?

Die aktuellen Zahlen deuten darauf hin, dass die ungerechte Armuts- Reichtumsverteilung in diesem Land politisch ungebremst weiter auseinanderklaffen wird. Schon bei der Europawahl im Mai 2019 werden die beiden Regierungsparteien CDU und SPD, die schon jetzt in den Umfragen absinken,von den enttäuschten Wählern dafür wohl ihre Quittung erhalten. Für den Rechtsruck in Europa und die damit verbundene Schwächung der kriselnden Europäischen Gemeinschaft, die damit alles andere als eine solidarische und soziale Gemeinschaft zu werden droht, kann die deutsche Regierung schon jetzt ihren gehörigen Anteil geltend machen - zumal ihre Export,- Finanz- und Austeritätspolitik auch die Armut in den anderen europäischen Ländern massiv befördert.

Die Neuausrichtung einer sozialen Politik in Deutschland und Europa bleibt auch bei den mitverantwortlchen Sozialdemokraten ein bloßes Lippenbekenntnis, das zeigen die halbherzigen und wenig wirksamen Maßnahmen im Rentenrecht, bei den Familienleistungen und bei der Steuerpolitik. Die langjährige Umverteilung von unten nach oben seit den neunziger Jahren nunmehr durch eine sozial gerechte Rückverteilung von oben nach unten wieder auszugleichen, ist kein ernsthaftes Anliegen der beiden ideologisch verschmolzenen und lobbyhörigen Regierungsparteien. Von "Volkspartei" kann bei der SPD schon lange nicht mehr die Rede sein, die immer noch hofft, ihren endgültigen Niedergang aussitzen zu können durch inhaltsleeres Reformgeschwätz.

Was ist den regierenden Parteien noch das "Sozialstaatsgebot" und die "Sozialverpflichtung des Eigentums" im Grundgesetz zur Sicherung der Menschenrechte und Menschenwürde wert, wenn sie ihre Geringschätzung der Menschenrechte auch in der europäischen Flüchtlingspolitk gegenüber den Ärmsten der Armen täglich darbieten? Da sind sie geradezu erleichtert, wenn sie die Armut im eigenen Land demgegenüber als "relative Armut" kleinreden können, während sie sich selber ihre Einkommens- und Rentenprivilegien als zumeist lebenslängliche Berufspolitiker oder als Seitenwechsler in die Wirtschaft auf hohem Niveau sichern. So fördern sie die Entfremdung zwischen oben und unten und befördern den Rechstpopulismus immer weiter, den sie scheinheilig zu bekämpfen vorgeben. Armes Deutschland!

Für viele ist deshalb die neue Sammlungsbewegung "Aufstehen" ein Lichtblick, die bereits wenige Tage nach ihrem Start 50.000 Unterstützer hatte, viele davon auch aus Kreisen der Intellektuellen. Diese Initiative schon vor Beginn als politische "Totgeburt" einiger versprengter Linker abgewertet zu haben, wird sich wohl als hämisches Wunschdenken etablierter Politiker und als Fehlurteil der ihnen nahestehenden Medienschaffenden erweisen. Denn es gärt in der Bevölkerung gewaltig, auch wenn die betriebsblinden Wahrnehmungen in der abgehobenen politischen Subkultur in Berlin andere sind. Dem "Aufstehen" könnte schon bald ein politisches Aufwachen folgen - warten wir die Wahlen in Bayern, Hessen und Europa ab, wenn uns zerknirschte Parteipolitiker in den Talkshows wieder einmal gestehen: "Wähler, wir haben verstanden!". Doch nichts haben sie bis heute verstanden...

Wilhelm Neurohr