Wilhelm Neurohr

„Der klägliche Fehlstart der neuen GroKo“

Ein politisches Trauerspiel in 13 Akten

Was wurde den Wählern und Wählerinnen nicht alles versprochen von den beiden abgestraften „großen“ Parteien: „Wir haben verstanden“ oder „ein Weiter so darf es nicht geben“, so hieß es bei der Begründung für eine nochmalige GroKo, um die kritische SPD-Basis „auf Linie zu bringen“. Doch bereits in den ersten zwei Wochen nach der Vereidigung der neuen Bundesregierung wird dagegen täglich erlebbar: Es kommt in der neuen GroKo sogar noch schlimmer als jemals zuvor – ein kläglicher Fehlstart, der nichts Gutes für die restlichen 3,5 Regierungsjahre verheißt:

Erster Akt: Gleich zu Beginn gab der Super-Heimat- und Innenminister Horst Seehofer mit seiner umstrittenen Äußerungen zur Nichtzugehörigkeit des Islam den neuen rechtspopulistischen Takt vor und provozierte den umgehenden Widerspruch aus der eigenen Regierung. Sodann blähte er sein Ministerium im „Hauruck-Verfahren“ um 100 neue Stellen auf und berief 8 ausschließlich männliche Staatssekretäre. Als erste Amtshandlung beauftragte er sie mit der Erstellung eines Masterplanes für schnelle Abschiebungen von Asylbewerbern. Ein „Musterpolizeigesetz“, Grenzkontrollen und Videoüberwachung sowie zentrale Abschiebelager sind sein erklärtes Anliegen.

Zweiter Akt: Auch der neue Gesundheitsminister Jens Span wollte sich als erstes mit provokanten Äußerungen statt mit einem Gesundheitskonzept profilieren, indem er sich herablassend zu den angeblich „auskömmlichen“ Hartz-IV-Sätzen äußerte. Sodann verkündete er, billige Pflegekräfte aus dem Ausland abzuwerben, die dort selber benötigt werden, anstatt die versprochene bessere Bezahlung der heimischen Pflegekräfte zunächst anzupacken. Zugleich traten die drastisch erhöhten Zuzahlungen zu Medikamenten für Krankenversicherte ungebremst in Kraft als „Altlast“ der letzten GroKo.

Dritter Akt: Der neue Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz beruft (nach dem Vorbild von Trump) ausgerechnet einen Investmentbanker von Goldman-Sachs zu seinem neuen Staatssekretär – ein von den öffentlich-rechtlichen Medien ausgeblendeter Skandal. Zugleich verteidigt er die Aufblähung der neuen Bundesregierung um 209 neue Stellen noch vor den neuen Haushaltsberatungen, davon 41 im eigenen Finanzministerium, worauf ihm der Steuerzahlerbund „mangelnde Ehrfurcht vor dem Wähler“ vorwarf. Zudem will Olaf Scholz nun seinen Parteifreunden in der SPD untersagen, eine Debatte über Alternativen zu Hartz IV zu beginnen und in der Regierung auf den Prüfstand zu stellen. Generell will er auch die umstrittene Spar- und Austeritätspolitik seines Vorgängers Schäuble unverändert fortführen.

Vierter Akt: Der neue Arbeitsminister Hubertus Heil, den die Medien als letzten „Schröderianer“ titulieren, bezeichnete zunächst eine neue Debatte über Hartz IV als notwendig, machte aber nach wenigen Tagen auf Geheiß von Olaf Scholz und nach einem Aufschrei der Wirtschaft einen Rückzieher und hielt die Debatte über Abschaffung von Hartz IV als „nicht hilfreich“. Aus der losgetretenen Hartz-IV-Debatte von Jens Spahn hat er sich als eigentlich zuständiger Minister herausgehalten. Er hält es für ausreichend, lediglich 150.000 Langzeitarbeitslosen (von insgesamt 860.000 Betroffenen) mit einem öffentlich geförderten Job zu versorgen mittels Lohnkostenzuschüssen für Betriebe.

Fünfter Akt: Kanzlerin Angela Merkel beklagt in ihrer Regierungserklärung „die Schande der Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland“, ohne zu merken, dass sie sich als dafür Hauptverantwortliche nach 12 Jahren Regierungszeit damit selber anklagt. Denn in ihrer langjährigen Regierungsära der „sozialen Kälte“ sind die Kinderarmut, die Altersarmut und die Bedürftigkeit der auf Tafeln und Suppenküchen Angewiesenen dramatisch angestiegen (was sie in den jährlichen Armutsberichten ihrer Bundesregierung hätte nachlesen können). Für ihr leeres Versprechen der „Integration der Schwachen, um die Gesellschaft menschlicher zu machen“, reichen die verbleibenden 3,5 Regierungsjahre kaum aus. Und ob es die neuen Wissenschaftsministerin Anja Karliczek schafft, allein mit Geld – nämlich 3,5 Mrd. € für die Digitalisierung der Schulen und 2 Mrd. € für die Ganztagsbetreuung – die Bildungsbenachteiligung der Kinder aus den unteren Schichten zu beseitigen, darf bezweifelt werden.

Sechster Akt: Die Justizministerin Katarina Barley bestellt nach dem Facebook-Skandal die europäischen Firmenvertreter ins Ministerium, um ihnen Zugeständnisse abzutrotzen. Doch diese zeigen ihr die kalte Schulter und erklären nur süffisant und arrogant, die Forderung nach mehr Transparenz „wohlwollend zu prüfen“. Die großspurige Justizministerin steht als machtlos da. Gleich zu Beginn der neuen Regierung ist sie zusammen mit der neuen Familienministerin Franziska Giffey und der SPD-Bundestagsfraktion bei der geplanten Reform des § 219 (Schwangerenkonfliktberatung) umgefallen und vor dem frauenfeindlichen Kurs der CDU eingeknickt.

Siebenter Akt: Während die umstrittene PKW-Maut vom vorherigen Verkehrsminister Dobrindt für spätestens 2019 angekündigt wurde, legt sich der neue Verkehrsminister Andreas Scheuer terminlich nicht fest und verweist nun ohne konkrete Zeitvorgabe auf das Ende der Legislaturperiode bis 2021 – weil „noch nicht alle technischen und organisatorischen Details geklärt“ seien. Über die Zukunft des alten Berliner Flughafens Tegel möchte er in eine neue Diskussion einsteigen, gegen die bisherige Meinung der Kanzlerin. Zuvor mischte er sich – obwohl nicht zuständig – in den öffentlichen Streit um die Rolle der Muslime und den Islam-Streit in Deutschland im Sinne von Seehofer ein.

Achter Akt: Die neue Umweltministerin Svenja Schulze aus dem Industrie- und Kohleland NRW möchte erklärtermaßen weder Fahrverbote für Diesel noch eine blaue Plakette, sondern glaubt, dass sie in der Regierung unter der „Autokanzlerin“ mittels Druck auf die Autohersteller die technische Nachrüstung erzwingen kann. Der Kohleausstieg ist bis auf Weiteres auf eine zu bildende „Kommission“ vertagt und damit auch keine klare Aussage zum hinterher hinkenden Klimaschutz von ihr bekannt. Ein Klimaschutzgesetz, um die nicht eingehaltenen Ziele bis 2020 und 2030 zu erreichen, hat bei ihr keine Priorität. Mit dem Verkehrs-Wirtschafts- und Landwirtschaftsministerium will sie lieber „vorsichtig umgehen“. Der Deutsche Industrie-und Handelskammertag warnte die neue Umweltministerin bereits vor zu viel Einmischung in die Belange der Wirtschaft, denn Vorrang habe „die industrielle Wettbewerbsfähigkeit und Wertschöpfungskette.“. Vogel- und Insektensterben sowie Umweltgifte aus der Landwirtschaft sowie Landschaftszersiedelung – in diese und weitere Themen habe sie sich „noch nicht eingearbeitet“. Ihre Kollegin im Landwirtschaftsressort, Julia Klöckner, bezeichnet Pestizide oder Ackergifte verharmlosend als „Pflanzenschutzmittel“ und hat kein Ausstiegsprogramm für Glyphosat und auch kein Umverteilungsprogramm für Agrarsubventionen etwa zugunsten des ökologischen Landbaus.

Neunter Akt: Anstelle einer offensiven Entspannungs- und Abrüstungspolitik beteiligt sich Außenminister Heiko Maas (mit Rückendeckung der Kanzlerin) an dem Schüren des neuen kalten Krieges gegen Russland: Er unterstützt – im Gegensatz zu einem Dutzend zurückhaltender EU-Länder - die voreiligen diplomatischen Strafsanktionen gegen Russland aus falsch verstandener „Solidarität“ mit der EU-Aussteigerin Theresa May anlässlich der unbewiesenen Behauptungen und Schuldzuweisungen zu dem Urheber des Giftgas-Anschlags auf einen Ex-Agenten. Zur wichtigen Frage der Zukunft Europas (Kapitel 1 im Koalitionsvertrag) kamen von Maas wie von Merkel weiterhin nur Allgemeinplätze; bei ihrem Antrittsbesuch beim französischen Staatspräsidenten Macron ging die frisch vereidigte Kanzlerin Merkel weiterhin nicht konkret auf seine Reform-Vorschläge ein, die er bereits vor 6 Monaten vorgelegt hatte.

Zehnter Akt: In einem Interview mit Spiegel-online spricht sich der neue Wirtschaftsminister Peter Altmaier für mehr staatliche Subventionen für die Industrie aus und will sich ausgerechnet „an Franz-Josef Strauß orientieren“. Als Staatssekretär holte er Ulrich Nussbaum ins Wirtschaftsministerium, ein ehemaliger Fischhändler aus Bremerhaven, den die Medien als erfolgreichen „Fischmillionär“ bezeichneten. Bei seinem Antrittsbesuch in den USA bekräftigte Wirtschaftsminister Altmaier das Ziel der neuen Bundesregierung, die Militärausgaben bis 2024 auf 2% anzuheben und damit von bisher 37 Mrd. € auf künftig 70 Mrd. € fast zu verdoppeln.

Elfter Akt: Die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen trommelt in der neuen Regierung unaufhörlich für die drastische Erhöhung des Verteidigungs-und Rüstungsetats sowie für w eitere und verlängerte Auslandseinsätze der personell aufzustockenden Bundeswehr, gegen die Mehrheitsmeinung der Deutschen. Erst gar nicht zu reden von den Alleingängen der Verteidigungsministerin (noch vor der Vereidigung der neuen Regierung in der bloß geschäftsführenden Zuständigkeitsphase) – indem sie den Standort des Nato-Logistik-Quartiers bei Bonn mit Folgen für den Rüstungsetat einfädelte und eine aggressivere Verteidigungsstrategie gegenüber Russland unwidersprochen auf der privaten Sicherheitskonferenz vor zahlreichen Rüstungslobbyisten verkündete - sowie den panzergerechten Ausbau der Autobahnen und Schienenstränge gen Osten bis an die polnische Grenze für den Fall einer etwaigen Mobilmachung durch die NATO…

Zwölfter Akt: Die Bundesregierung stärkt ihrem dafür zuständigen deutschen EU-Kommissar in Brüssel, Günther Öttinger, den Rücken bei einem skandalösen Personal-Deal: Der ehemalige Bertelsmann-Lobbyist Martin Selmayr (bisheriger Büroleiter von Kommissionspräsident Juncker) wird ohne ordnungsgemäßes Auswahlverfahren per Blitzbeförderung in die machtvolle Stelle des EU-Generalsekretärs (als Chef der Brüsseler Behörde mit 32.000 EU-Beamten) gehievt – trotz Empörung des EU-Parlaments von der Bundesregierung für gutgeheißen.

Dreizehnter Akt: Ebenfalls noch vor offiziellem Amtsantritt der noch nicht vereidigten neuen Bundesregierung sind deren drei zuständige Minister mit einem unabgestimmten ad-hoc-Vorschlag außerhalb des Koalitionsvertrags zugunsten eines kostenlosen öffentlichen Personennahverkehrs in mehreren Musterstädten gescheitert, indem sie ihn nach medienwirksamer Propagierung kleinlaut wieder zurückgezogen haben. Eine Neuauflage ist nicht in Sicht und steht auch nicht im Koalitionsvertrag.

Frage nach dieser desaströsen Bilanz der ersten Zwei Wochen der neuen GroKo: Ist es das, was die Wählerinnen und Wähler von der neuen Regierung erwarten und was ihnen versprochen wurde – oder hat sich diese innerhalb von 2 Wochen noch weiter von den Menschen entfernt als ihre zwei GroKo-Vorgänger-Regierungen in 8 Jahren? Diese Frage möge jeder für sich selber beantworten.

Eine Antwort sei hier zitiert: Kurz nach dem misslungenen GroKo-Start warnt jedenfalls Juso-Chef Kevin Kühnert in einem Interview seine Regierungspartei SPD vor „Siechtum, wenn sie als beliebige Partei der Mitte agiere“ ohne Umverteilung bei Hartz IV. Seine größte Sorge ist, dass wesentliche Projekte nicht angegangen werden. Zahlreiche Menschen könnten mit der Regierungsarbeit und den mutlosen Programmen nicht überzeugt werden. Er vermisst ein anderes Auftreten der SPD in der Regierung sowie eine stärkere Besetzung der Themen Umwelt und Nachhaltigkeit als Lebensgrundlagen der Zukunft statt des „Herumwaberns zwischen den Interessen“.

Wilhelm Neurohr

2. April 2018