Wilhelm Neurohr

Bürgerrat – ein Demokratie-Experiment

Artikel in der Ruhrgebiets-Zeitschrift AMOS 2-2021

Längst sind die „Bürgerräte“ als mögliches Zukunftsmodell einer partizipativen Demokratie in aller Munde. „Denn Bürgerräte sind der Versuch, eingerostete Demokratien wieder ans Laufen zu bringen“, so schrieb die „Zeit“ im Januar 2021: „Sie entstehen weltweit in immer mehr Ländern und Städten, und überall ist ihre Einführung mit großen, manchmal übergroßen Hoffnungen verbunden.“ Gerade startete in Deutschland der dritte nationale Bürgerrat zum Thema „Bildung und Lernen“, der vierte zum Klima startet am 26. April. Vorausgegangen waren die Bürgerräte zur Demokratieverbesserung und zu Deutschlands Rolle in der Welt. In Frankreich beschäftigte sich ein nationaler Bürgerrat bereits mit dem Klimawandel. In 25 Ländern weltweit sind aktuell nationale und über 80 lokale Bürgerräte tätig oder in Vorbereitung, sogar 2 globale Bürgerräte sind geplant. Inzwischen kann man von einer sich ausbreitenden „Bürgerrats-Bewegung“ auch in Deutschland sprechen, mit Landes- und bundesweiter Vernetzung.

Nein – es geht nicht um die Wiederbelebung der vor über 100 Jahren aufgekommenen Idee der „Räte-Republik“, auch nicht um Plebiszite, sondern um ein Stück „Basisdemokratie“ als Demokratie Experiment: Nach dem Zufallsprinzip ausgeloste Bürgerinnen und Bürger als möglichst repräsentativer Querschnitt sollen politische Themen in den Kommunen begleiten und die gewählten Kommunalpolitiker mittels „Bürgergutachten“ beraten, also nicht entscheiden. Denn alle Umfragen belegen: Die Menschen wollen stärker beteiligt, gehört und einbezogen werden und beklagen die Beteiligungsdefizite. In 15 deutschen Städten sind Bürgerräte aktuell zu unterschiedlichen Themen bereits einberufen oder angekündigt, in 30 weiteren Städten sind Initiativen um die Einrichtung von Bürgerräten in ihrer Kommune bemüht – so auch im Ruhrgebiet, bisher in Hagen und Werne sowie in Haltern am See.

Bereits im August 2020 konfrontierte das „Halterner Forum für Demokratie, Respekt und Vielfalt“ auf einer Podiumsdiskussion die 6 Spitzenkandidaten der Ratsparteien erstmalig mit der Idee – mit unterschiedlicher und teils verhaltener Resonanz. Eine Initiativgruppe des Forums blieb bei dem Thema am Ball, kontaktierte bestehende Initiativen, entwarf einen Flyer und eine Informationsbroschüre, sucht Kooperationspartner vor Ort - die VHS ist bereits dabei – und beginnt nun die Gesprächsreihe mit Lokalpresse, Vereinen, Ratsfraktionen und interessierten Bürgerinnen und Bürgern, die auch zu Themenvorschlägen aufgerufen sind. „Demokratie kann nur in Bewegung bleiben, wenn Menschen bereit sind, sich politisch einzumischen“, so lautet auf dem Flyer das Zitat des Ex-Bundespräsidenten Johannes Rau. „Denn unsere lokale Demokratie braucht eine Frischzellenkur, um die Lebendigkeit der Demokratie zu erhalten und das Vertrauen in sie zu erhöhen“, schreiben die Initiatoren in ihrem Anschreiben an die Stadtgesellschaft.

Am 8. Juni wird die Bundesvorsitzende von „Mehr Demokratie e.V.“, Claudine Nierth, die Halterner Initiative auf einer Info-Veranstaltung vor Ort (oder Online) unterstützen. Für die praktische Durchführung des Beteiligungsmodells „Bürgerräte“ sind noch möglichst einfache und kostengünstige statt komplizierte und aufwändige Modelle zu entwickeln, daran wird gearbeitet. Bei der Durchführung werden Experten für fachliche Informationen und Moderatoren für die Kommunikation eingesetzt, damit alle gelosten Bürger unabhängig vom Bildungsstand und politischen Vorerfahrungen sich gleichrangig einbringen können. Das Ganze erfordert „Mut zum Experiment“ und die Bereitschaft, Demokratie neu zu denken.

Autorennotiz:

Wilhelm Neurohr (70) arbeitet in der Initiativgruppe „Bürgerrat“ des Halterner Forums für Demokratie, Respekt und Vielfalt mit. Er hat bereits in den 1970-er Jahren das „Hertener Bürgerforum“ als Partizipationsmodell mit gegründet sowie mit dem IWiPo-Institut in 2017 das Konzept „Bürgerparlament – Schlüssel zu mehr Demokratie“ mit verfasst, ferner in 2017 im Rahmen des Projektes „Mehr Demokratie leben“ im Hertener Glashaus sich an Ideen für eine aktive Bürgergesellschaft beteiligt.