Wilhelm Neurohr

Ukraine-Konflikt

DGB-Aufruf: „Statt Konfrontation sind Entspannungspolitik und Kooperation mit Russland das Gebot der Stunde“

Gewerkschafter aus dem Ruhrgebiet erinnern angesichts der zunehmenden Eskalation mitsamt medialer Kriegsrhetorik im aktuellen Ukraine-Konflikt an das Jahr 2020: Vor zwei Jahren war es mit umgekehrten Vorzeichen die NATO, die das größte Militärmanöver seit Ende des kalten Krieges mit 38.000 Soldaten aus 18 NATO-Staaten entlang der russischen Grenze in Polen und im Baltikum unter dem Namen „DEFENDER 2020“ vorbereitete, mit Unterstützung von kampfstarken Großverbänden aus den USA mit 20.000 Soldaten und tonnenschwerem Kriegsgerät aus den USA. Daraufhin gab es zu dieser militärischen Konfrontation 2020 einen Gegenaufruf des DGB: „Nein zu NATO-Manöver – ja zu Frieden, Entspannungspolitik und Abrüstung“.

Angesichts der militärischen Zuspitzung des aktuellen Ukraine-Konfliktes mit Russland sollten sich die politischen „Heißsporne“ auf beiden Seiten an die gemeinsame „Charta von Paris“ erinnern: Dort wurde 1990 das „Ende des Zeitalters der Konfrontation und der Teilung Europas“ ausgerufen. Heute sind wir von diesem Anspruch wieder weit entfernt. Aus mehreren NATO-Ländern wird entsprechend der Übung Kriegsgerät auch über den Atlantik und quer durch Europa an die russische Grenze transportiert, als Gegenreaktion auf die Stationierung russischer Soldaten vor der ukrainischen Grenze.
Weil Russland und "der Westen" massiv in den Ukraine-Konflikt involviert sind, wächst in Deutschland die Sorge vor einem neuen Kalten oder sogar "heißen" Krieg. Nach einer Umfrage von infratest dimap haben fast drei Viertel der Bundesbürger große Angst davor.

„Internationale Beziehungen auf Achtung und Zusammenarbeit gründen“

Auch in der aktuellen und sich gegenseitig hochschaukelnden Konfliktsituation muss unverändert das Ziel gültig bleiben, auf das sich alle europäischen Staaten einschließlich Russland, USA und Kanada in der Charta gemeinsam verpflichtet haben : „Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden.“ Dieses Bekenntnis muss laut DGB-Aufruf von 2020 wieder ins Zentrum der internationalen Beziehungen rücken – sowohl seitens der NATO als auch seitens Russland.“

„Nach dem Schrecken der beiden Weltkriege: „Nie wieder!“

Weiter heißt es in dem (zeitlos gültigen) DGB-Aufruf von 2020: „Unsere Lektion aus den Schrecken der beiden Weltkriege lautet: Nie wieder!“ Allein im zweiten Weltkrieg starben 27 Millionen Sowjetbürger als Opfer des Deutschen Krieges, darunter 10 Mio. Soldaten der Roten Armee. Vor 77 Jahren haben Soldaten der Roten Armee die Konzentrationslager von Auschwitz befreit. Mehr als eine Million Menschen hatten die Nazis dort ermordet. Der 27. Januar als Tag der Befreiung ist mittlerweile bundesweiter Holocaust-Gedenktag – und ausgerechnet während dieses Gedenkens im Januar 2022 spitzte sich der aktuelle Konflikt mit Russland zu.

„Von deutschem Boden soll nur Frieden ausgehen“

Deshalb engagiert sich der DGB mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene für die Sicherung des Friedens und die Verhütung bewaffneter Konflikte und kriegerischer Auseinandersetzungen. Im zwei-Plus-Vier-Vertrag von 1990 als Grundlage der deutschen Einheit wurde vereinbart: „Von deutschem Boden soll nur Frieden ausgehen“. Dies ist auch Kerngedanke des Grundgesetzes – dies muss die Grundlage deutscher und europäischer Politik sein.

„Schluss mit dem Konfrontationskurs!“

Deshalb fordert der DGB: „Schluss mit dem Konfrontationskurs! Dafür muss sich Deutschland stark machen, auch innerhalb der NATO! Konfliktprävention, Entspannungspolitik und politische Konfliktlösung statt militärischer Konfrontation! Abrüsten statt aufrüsten! Zukunftsinvestitionen statt Wettrüsten!“
Stattdessen wurde das neue NATO-Kommando für Truppen- und Materialtransporte ausgerechnet nach Ulm in Deutschland als Drehscheibe der Transporte verlegt. (Sollte es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen, würde diese logistische Kommandozentrale der NATO in Deutschland als erstes zum Angriffsziel russischer Raketen).

Rüstungsausgaben und Armut auf Höchststand

2020 erreichten die weltweiten Rüstungsausgaben ein Rekord-Niveau von fast 2 Billionen US Dollar, das ist trotz COVID-Pandemie und schrumpfender Weltwirtschaft eine Steigerung um 3,3 %. Das sind die höchsten Rüstungsausgaben in der Menschheitsgeschichte. Gleichzeit leben fast 750 Millionen Menschen in extremer Armut und 11 Hungertote pro Minute zeugen laut Oxfam von der Zunahme der Hungersnöte. Ende 2020 waren über 82 Millionen Menschen auf der Flucht infolge von Gewalt und Kriegsursachen.
Deutschland steht bei den Militärausgaben weltweit an siebter Stelle mit 53 Mrd. € jährlich und als Rüstungsexporteur an vierter Stelle – und wo Waffen hergestellt oder exportiert werden, handelt es sich um Geräte und „Exporte des Todes“ (Friedensnobelpreisträger Willy Brandt), da die Waffen meist recht bald bald zum Einsatz kommen, denn dafür sind sie hergestellt.

DGB lehnt Zwei-Prozent-Ziel für Erhöhung des Rüstungshaushaltes ab

„Durch Klimawandel, Digitalisierung und Globalisierung vollziehen sich in Arbeitswelt und Gesellschaft tiefgreifende Umbrüche. In Deutschland, Europa und der Welt werden erhebliche Mittel für Investitionen und für Maßnahmen der sozialen Absicherung benötigt, um diese aktuellen Herausforderungen im Sinne der Beschäftigten zu gestalten“, so die Feststellung des DGB. Aktuell bemängeln auch die Sozialverbände in Deutschland, dass z. B. der von der Ampelregierung vorgesehene Sozialzuschlag für arme Kinder von nur 25 € im Monat für die Überwindung der Kinderarmut bei weitem nicht ausreicht.

„Gleichzeitig wird in den NATO-Staaten zielgerichtet auf die Erhöhung des Rüstungshaushaltes auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes hingearbeitet. Diese Ressourcen würden für die dringend notwendigen Zukunftsinvestitionen fehlen. Deshalb lehnt der DGB das Zwei-Prozent-Ziel der NATO entschieden ab“ und plädiert für Abrüsten statt Aufrüsten. Er ist sich damit einig mit den Kirchen, den Sozialverbänden und der Friedensbewegung sowie einer großen Mehrheit der Bevölkerung, die als Souverän in unserer Demokratie mehr Gehör finden muss bei den politischen Entscheidungsträgern.

Sorge vor Ausweitung des Ukraine-Konfliktes zum großen Krieg

Laut einer Emnid-Umfrage ist die Sorge vieler Deutscher: Der Ukraine-Konflikt könnte sich zu einem größeren Krieg ausweiten. So glaubt fast die Hälfte der Bundesbürger, "dass der Konflikt zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der NATO führen wird", so die Zeitungsmeldungen. Aus derselben Umfrage geht hervor, dass 81 Prozent Waffenlieferungen der Nato an die Ukraine ablehnen. Im Bundestagswahlkampf 2021 gab es keine intensiven Debatten zu außenpolitischen Fragen. Die deutsch-russischen Beziehungen waren da keine Ausnahme. Die Fortführung eines Dialogs zwischen Berlin und Moskau ist jedoch einer der Punkte, zu dem in der deutschen Politik ein Konsens besteht.

Zweidrittel Mehrheit für Fertigstellung der Ostsee-Pipeline NordStream2

Eine große Mehrheit der Bundesbürger und Bundesbürgerinnen ist für die Fertigstellung der umstrittenen Ostsee-Pipeline Nord Stream 2, die russisches Erdgas nach Deutschland bringen soll. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft von 2021 hervor. Demnach sprechen sich 75 Prozent von 1000 Befragten ab 18 Jahren für die Fertigstellung der Erdgaspipeline aus, nur 17 Prozent sind dagegen.

Mit wachsendem Unverständnis registrierte man auch in der Wirtschaft den Sanktionsdruck aus den USA gegen die Pipeline, „der demokratische Entscheidungsprozesse in Europa beschädigt und legitime Interessen Deutschlands ignoriert. Dass die USA mit ihrer Blockadepolitik einen Milliardenschaden auf Kosten europäischer Steuerzahler und Unternehmen provozieren, in die Souveränität demokratischer Staaten eingreifen, aber gleichzeitig eigene Energieinteressen mit Russland verfolgen, ist nicht hinnehmbar“, sagte der Vorstandsvorsitzende des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft, Oliver Hermes.

Mehrheit der Bundesbürger für Gewaltfreiheit und diplomatische Mittel

In der Verteidigungs- und Rüstungspolitik trauen nur 31% der deutschen Bundesregierung Problemlösungen zu. Deutschland sollte in Krisenzeiten Entscheidungen auch gegen die Positionen der europäischen Partner durchsetzen, so das Ergebnis einer Infratest-Umfrage. Es lohnt vor allem auch ein Blick in das Sicherheits- und verteidigungspolitische Meinungsbild in der Bundesrepublik Deutschland, veröffentlicht 2020 vom Zentrum für Militärgeschichte und
Sozialwissenschaften der Bundeswehr:

Bei der Wahl der außenpolitischen Mittel besteht in allen Wählergruppen eine Präferenz für diplomatische Mittel. Die Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert den Einsatz des Militärs als legitimes Mittel der Außenpolitik, steht aber der Anwendung von Gewalt eher kritisch gegenüber. Hinsichtlich ihrer außenpolitischen Grundhaltungen sind die Bundesbürger als eher anti-militaristisch, anti-atlantizistisch und klar multilateralistisch zu charakterisieren, d.h. sie halten militärische Gewalt nicht für ein effektives oder moralisch angemessenes Mittel der Außenpolitik.

Bundesbürger für außenpolitische Emanzipation von den USA

Die Bundesbürger wünschen sich eine außenpolitische Emanzipation von den USA und sprechen sich eindeutig für eine Zusammenarbeit mit befreundeten Staaten und Bündnispartnern aus. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unterstützt außerdem den Parlamentsvorbehalt des Deutschen Bundestags bei der Entsendung der Bundeswehr in Auslandseinsätze. Die positive Haltung der Bürgerinnen und Bürger zur NATO bleibt allerdings selbst dann bestehen, wenn der Wunsch nach einer außenpolitischen Emanzipation von den USA besonders stark ausgeprägt ist. Der Blick der Bevölkerung auf die USA ist von großer Skepsis geprägt.

Die Meinungen zu Russland gehen in der deutschen Bevölkerung weit auseinander: Jeweils eine relative Mehrheit lehnt die Einschränkung der wirtschaftlichen Beziehungen ab oder ist nicht bereit, der russischen Position (mehr) Verständnis entgegenzubringen.

Bürgerrat will friedensstiftende Rolle Deutschlands zwischen USA und Russland

Vor einem Jahr hat der nationale Bürgerrat unter der Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten zum Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ unter anderem folgende Empfehlungen zur Außenpolitik beschlossen: „Deutschland soll sich aufgrund seiner historischen Verantwortung und engen kulturellen Beziehung zu Russland in der EU für ein partnerschaftliches Verhältnis zu Russland engagieren und durch die Partnerschaft demokratische Werte vermitteln. Deutschland soll zwischen Russland und USA eine vermittelnde und friedensstiftende Rolle einnehmen.“ Dies sollte die Politik beherzigen.

Wie denkt die russische Bevölkerung über Militär und Kriegsgefahr?

In Konfliktsituation steht die Fixierung auf die jeweiligen Machthaber im Vordergrund und das Hineinversetzen in die betroffene Bevölkerung und deren Sichtweise wird dabei vernachlässigt. Die Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichte deshalb Umfrageergebnisse eines Meinungsforschungsinstitutes von 2015 unter den Russen über Militär und Kriegsgefahr zu der Fragestellung: „Wer stellt aktuell die größte Bedrohung für Russland dar, China im Osten des Landes oder doch die NATO-Staaten?“ Außerdem thematisiert die Umfrage Meinungen der dortigen Bevölkerung zur russischen Außenpolitik.

Ist Russland Aggressor oder Opfer von Konflikten?

Demnach sehen 53% der befragten Russen die Gefahr eines Angriffs auf Russland durch die USA und/oder die NATO. 59% äußerten die Auffassung, dass Russland noch nie ein Aggressor oder Initiator von Konflikten mit anderen Ländern war; 26% sehen Russland eher als Opfer oder Geschädigter von Konflikten. Auf die Frage, wie man über die Feindseligkeit des Westens gegenüber Russland denkt, antworteten 46%, der Westen ziele darauf ab, sich die Ressourcen Russlands anzueignen. Insgesamt 80% beantworteten die Frage mit „sicher nicht“ oder „eher nein“, dass Russland sämtliche Nachkriegsabkommen, Vereinbarungen der post-sowjetischen Zeit sowie das Völkerrecht verletzt habe, indem es die Krim an sein Territorium angegliedert habe.

Sorge vor militärischen Konflikten zwischen Russland und der NATO an der Grenze

Auf die Frage, ob Russland eine Verantwortung für das Blutvergießen und den Tod von Menschen in der Ukraine habe, meinten 79 %, dies treffe „sicher nicht“ oder „eher nicht“ zu. Und nur jeder zweite ist der Meinung, die Verteidigungsausgaben Russlands seien zu hoch (vor dem bekannten Hintergrund der um ein Vielfaches höheren NATO-Verteidigungsausgaben). 55% waren zum Befragungszeitpunkt 2015 der Meinung, dass es in den nächsten 10 Jahren zu größeren militärischen Konflikten zwischen Russland und der NATO an den Grenzen oder auf dem Territorium Russland kommen könnte.

Die Rolle der Propaganda in den Medien

In der Bewertung dieser Meinungsumfrage in der russischen Bevölkerung könnte man geneigt sein, diese Meinungen als Ausfluss der erfolgreichen Propaganda in den russischen Medien abzutun. Doch erleben wir nicht derzeit in Deutschland und in der EU nahezu unisono in allen Leitmedien propagandistische Einseitigkeiten der westlichen Sichtweise bis hin zum massiven Druck auf die „zögerliche“ Ampelregierung mit ihren „nostalgischen Entspannungspolitikern“, doch endlich mit Waffenliegerungen an die Ukraine zu beginnen und „Härte gegenüber dem russischen Aggressor zu zeigen“. So wird jede vernünftige De-Eskalation in der öffentliche Meinungsmache konterkariert und von den Rüstungslobbyisten aus der privaten Militär-lastigen „Münchener Sicherheitskonferenz“ und von der US-hörigen „Atlantikbrücke“ flankiert.

Dem steht der wohltuende Aufruf des DGB als Kontrastprogramm entgegen, der den meisten Menschen „aus der Seele spricht“. Derweil laufen die Vermittlungsbemühungen, wie die aktuellen Nachrichten vom 1. Februar 2022 verkünden, so z.B. die Tagesschau: „Die Bemühungen um eine diplomatische Lösung im Ukraine-Konflikt laufen auf Hochtouren. Staatsmänner und Außenminister sprechen über einen "großflächigen Krieg in Europa", den sie verhindern wollen. Auch Kreml-Chef Putin zeige sich weiter gesprächsbereit.

Zwischen echter Kriegsgefahr und taktischen Drohungen

Putin mahnte erneut, dass ein Land seine eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Interessen eines anderen Landes durchsetzen könne. Dennoch betonte er: "Ich hoffe, dass wir am Ende eine Lösung finden werden." Dies werde "nicht einfach" werden. Hauptziel Washingtons sei es, Russland "einzudämmen". "Die Ukraine ist nur ein Instrument, um uns in einen bewaffneten Konflikt zu verwickeln", sagte Putin. Er kritisierte, dass Russlands Forderung nach einem Ende der NATO-Osterweiterung abgelehnt worden sei. Der Kreml bestreitet trotz des Truppenaufmarsches von 100.000 Soldaten auf russischem Territorium jegliche Angriffspläne auf die Ukraine, führt aber gleichzeitig ins Feld, sich von der NATO bedroht zu fühlen. (Erinnert sei an das Großmanöver DEFENDER 2020 der NATO vor Russlands Grenze, das allein wegen der Corona-Pandemie abgebrochen wurde).

Wo bleibt die Friedensbewegung?

Jetzt muss die Deeskalation vorankommen! Das „Domradio“ als katholischer Multimediakanal des konservativen Erzbistums Köln fragte schon 2014: Wo bleibt die Friedensbewegung? Anders als bei früheren Kriegen etwa im Irak oder in Jugoslawien bleibt es auf den deutschen Straßen und Plätzen weitgehend ruhig, gibt es kaum Demonstrationen, Kundgebungen oder Friedensgebete. Selbst bei den zurückliegenden Ostermärschen war die Ukraine kein größeres Thema, nur vereinzelt gab es Forderungen nach einem Stopp der Waffenexporte in die Krisenregion. Bei einigen Mai-Kundgebungen der Gewerkschaften mahnten Redner immerhin ein "Ende der Eskalation zwischen Ost und West" an.

Der DGB mit seinem sehr deutlichen Aufruf braucht jetzt die Unterstützung der vielen anderen Bewegungen, damit sichtbar wird, wie stark insgesamt der Friedenswille der Zivilbevölkerung ist. Darin unterscheiden sich die Interessen der russischen und der deutschen Zivilbevölkerung wohl kaum. Mit Blick auf den aktuellen Konflikt sei Barack Obama zitiert: „Amerika möchte ein starkes, friedliches und blühendes Russland. Die Tage, an denen Großmächte andere souveräne Staaten behandeln konnten wie Schachfiguren, sind vorbei.“
In diesem Sinne sollte die USA ihren momentanen Konfrontationskurs überdenken als ersten Schritt, um aufeinander zuzugehen und die beiderseitigen Sicherheitsinteressen anzuerkennen. Denn es geht um die Sicherheit der Zivilbevölkerung, die keine Drohungen mit Waffen verträgt, das gilt für beide Seiten. Damit die Ukraine weder vom Westen noch von Russland vereinnahmt wird, böte sich der Status einer militärischen Neutralität der Ukraine als naheliegende Problemlösung an.

Staatsmann mit Kriegserfahrung befürchtete Sorglosigkeit der jetzigen Politikergeneration

Der verstorbene Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt als angesehener Staatsmann, der selber als junger Mann im 2. Weltkrieg als Soldat im Kriegseinsatz war, sorgte sich am Lebensende darüber, dass die heutige Politiker-Generation ohne eigene Kriegserfahrung nicht mehr die pazifistische Haltung hervorbringt wie die Kriegsgeneration und deshalb politisch in einen Krieg hineinrutschen könnten. Von ihm stammt eine Reihe von Zitaten aus Gesprächen und Interviews, von denen einige hier als unverändert gültige Orientierung wiedergegeben seien:

  • „Ich empfinde eine riesige Besorgnis, dass wir in einen Krieg rutschen, den wir nicht wollen.“ (Helmut Schmidt in Zeit-online mit Blick auf wiederholte Konflikte Russlands mit dem Westen)
  • „Der Friede muss immer neu gestiftet werden. Er muss insbesondere gestiftet werden zwischen solchen Staaten, die sich gegenseitig misstrauen und die sich gegenseitig bedrohen.“ (Helmut Schmidt 1982)
  • „Ich halte jeden Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung für unerlaubt, egal ob das Amerikaner machen oder Deutsche oder wer auch immer.“ (Helmut Schmidt 2005 in der FAZ)
  • „Das Beharren auf Werten wie Freiheit und Menschenrechte hielt er für europäische Arroganz gegenüber Kulturen, auch wenn es sich um autokratische Regime handelte. Die Sorge um Frieden ließ ihn zeitweise Putins Ukraine-Politik verteidigen und die westliche Unterstützung für Kiew ablehnen.“ (Karsten Polke-Majewski 2015 in Zeit-online über den verstorbenen Helmut Schmidt)
  • „Sich vorstellen, dass Deutschland in der Weltpolitik eine Rolle zu spielen habe, finde ich ziemlich abwegig.“ (Helmut Schmidt 2004)
  • „Heute ist die Nato für uns Deutsche nicht mehr wirklich notwendig, denn wir können nirgendwo einen äußeren Feind erkennen, einen Staat, der uns angreifen, bedrohen oder nötigen würde.“ ( Helmut Schmidt 2005)
  • „Ich würde viel darum geben, wenn das, was sie Rationalität nennen, in der deutschen Gesellschaft und ihren Eliten größere Verbreitung fände.“ (Helmut Schmidt)
  • Aber das Grundlegende ist, dass wir zur Kriegsgeneration gehörten und den Schrecken und die Katastrophe des NS-Gewaltregimes erlebt haben. Das Nie-wieder, Nicht-noch-mal sind uns deshalb lebendig vor Augen, und das hat auch Helmut Schmidt geprägt. Das kann man von der heutigen Politiker-Generation nicht erwarten.“ (Hans-Jochen Vogel über Helmut Schmidt in Zeit-online)
  • „Die heutige politische Klasse in Deutschland ist gekennzeichnet durch ein Übermaß an Karrierestreben und Wichtigtuerei und durch ein Übermaß an Geilheit, in Talkshows aufzutreten.“ (Helmut Schmidt 1994)
  • „Die Dummheit der Regierungen sollte nicht unterschätzt werden.“ (Helmut Schmidt)

„Seine Friedenspolitik bestand auch darin, als Bundeskanzler den Nato-Doppelbeschluss zu ersinnen. Die Logik der atomaren Abschreckung funktionierte nur, wenn auf deutschem Boden stationierte amerikanische Mittelstreckenraketen die Vereinigten Staaten im Fall eines sowjetischen Angriffs unmittelbar in den Krieg ziehen würden. Anderenfalls hätten sich die Strategen in Washington erst überlegen müssen, ob sie auf eine solche Attacke, die nicht über den Atlantik reichen konnte, mit einem interkontinentalen Gegenschlag reagieren sollten. Denn der hätte bewirkt, dass im nächsten Moment ihre eigenen Städte vernichtet worden wären. Schmidts Kalkül war es auch, diesen Plan mit Verhandlungen zu verbinden, um solche Waffen auf beiden Seiten komplett abzubauen. Lange nach Schmidts Amtszeit ist das gelungen“. (Zeit-online)

"Friedlicher Wettbewerb um menschenwürdiges Leben statt Krieg und Wettrüsten"

Die heute regierende SPD mit Kanzler Scholz könnte auf die Aktualität der außenpolitischen und friedenspolitischen Grundpositionen ihrer Partei im Berliner Programm vom 20. Dezember 1989 verweisen. Unter anderem heißt es dort:

„Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen. Wir wollen Frieden. Wir arbeiten für eine Welt, in der alle Völker in gemeinsamer Sicherheit leben, ihre Konflikte nicht durch Krieg oder Wettrüsten, sondern in friedlichem Wettbewerb um ein menschenwürdiges Leben austragen.

„Unser Ziel ist eine gesamteuropäische Friedensordnung auf der Grundlage gemeinsamer Sicherheit. Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen. … Die Bündnisse … müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa.“ (Die ehedem sowjetischen Streitkräfte haben sich auf ihr Territorium zurückgezogen, die US-amerikanischen Streitkräfte sind leider immer noch da und werden je nach Lust und Laune nach Osten an die russische Grenze verlagert.)

Medien halten Entspannungspolitik für "politische Schwäche"

Jedoch wird heute in den Medien diese Programmtik verhöhnt. So hat die Tagesschau vor allem den SPD-Fraktionvorsitzenden Rolf Mützenich, der seinen politischen Weg in der Friedenbewegung begann, sowie den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck, der heute Vorsitzender des deutsch-russischen Forums ist, gereingschätzig als „Altstrategen“ abgetan, weil sie nicht in den Ruf der Leitmedien nach Waffenlieferungen an die Ukraine einstimmten und die Entspannungspolitik der SPD angeblich von vorgestern sei. Heute sei Härte gegenüber Russland angesagt statt vertrauensbildende Ostpolitik.

Das übertrifft noch die geschilderten Sorgen von Helmut Schmidt und lässt überdies noch die Sorge um den Zustand der öffentlich-rechtlichen Medien hinzukommen, die als Inteviewpartner bevorzugt Vertreter US-höriger Denkfabriken als "neutrale Experten" zu Wort kommen lassen, die jede Entspanungpolitik als politische "Schwäche" abtun. Hier ist die Zivilcourage der Menschen gefragt, die sich gegen jedwede Kriegspropaganda wenden und eine Friedensorientierung einfordern, denn längst ist der kalte Krieg zurückgekehrt und es droht ansonsten ein heißer Krieg in Europa. Das momentane "Spiel mit dem Feuer" muss beendet werden, dafür bedarf es einer starken und aktiven Friedensbewegung.

Wilhelm Neurohr