Wilhelm Neurohr

Aktuelle IWiPo-Studie zur kommunalen Siedlungsflächenpolitik - exemplarisch am Beispiel der Stadt Haltern am See:

Notwendige Kurskorrektur in der Kommunalpolitik

HALTERN. Die bundesweite Kampagne der Umweltverbände gegen das dramatische Artenstreben infolge des „Flächenfraßes“ hat nun auch Kommunen wie Haltern am See erreicht: Bereits im vorigen Sommer wurden vor Ort Unterschriften gesammelt. Nun ist auch noch die bundesweite Debatte über den flächenzehrenden Eigenheimbau in Haltern angekommen – in der begehrten Wohnstadt im Grünen im "Speckgürtel" der Ruhrgebietsstädte mit 62% Ein- und Zweifamilienhäusern und sündhaft teuren Boden- und Immobilienpreisen sowie Mietpreisen. Aktuell ist vom unabhängigen Halterner IWiPO-Institut nun eine Studie zur Problematik des verdoppelten Flächen- und Landschaftsverbrauchs weltweit, in Europa und Deutschland, in NRW und im Ruhrgebiet sowie in den Städten (am Beispiel der Stadt Haltern) vorgelegt worden, die auch den Zusammenhang von Klimaschutz und Flächenschutz sowie Pandemie verdeutlicht und zugleich die „Goldgräbermentalität“ auf dem Immobilienmarkt und die nicht nachhaltige Wohnungsbaupolitik mit ihren sozialen Folgen offenlegt.

Kurskorrektur als größte Herausforderung für den neu gewählten Stadtrat

Die Stadt Haltern steht mehr noch als andere Städte in der Wahlperiode des neuen Stadtrates vor einer zuvor nie dagewesenen kommunalpolitischen Herausforderung: Laut Studie werden grundlegende Weichenstellungen für die nachhaltige Zukunft der Stadt erforderlich, die zu einem völligen Umdenken in der Kommunalpolitik führen muss mit einer notwendigen Kurskorrektur in der Kommunalen Wohnungs- und Siedlungsflächenpolitik. Neben einem kommunalen Klimaschutzkonzept und einem Verkehrskonzept zur Mobilitätswende müsste die Stadt dringend ein „Flächensparkonzept“ entwickeln und über eine Flächenagentur das Flächenmanagement betreiben.

Denn alle 10.800 Städte und Gemeinden in Deutschland sind ohne Ausnahme verbindlich verpflichtet, nach den verstärkten Nachhaltigkeitszielen von EU, Bund und Land bis 2030 ihren Flächenverbrauch für Wohnen, Gewerbe und Verkehr zu halbieren und bis 2050 auf netto Null zu reduzieren (durch Flächenkreislaufwirtschaft und mittels Flächenzertifikaten). Das Verhältnis der Innenverdichtung gegenüber der Außenbebauung soll künftig 3:1 betragen. Eigentlich sollte die Halbierung des Flächenverbrauchs bereits bis 2020 erreicht werden, doch alle Nachhaltigkeitsziele wurden verfehlt und haben zum dramatischen Artensterben geführt. Dazu hat vor allem die expansive Siedungsflächenpolitik der Städte und Gemeinden beigetragen, die unverdrossen weiter betrieben wird.

Flächenschutz ist Klimaschutz und Pandemie-Vorbeugung

Damit wird unser Planet und unser Überleben durch die Landschaftszersiedelung und Bodenversiegelung ebenso bedroht wie durch den Klimawandel – denn Flächenschutz ist Klimaschutz und deshalb gleichrangig auf die Tagesordnung der Kommunalpolitik zu setzen. Die Einschränkung der Lebensräume für die Tierwelt ist auch eine der Hauptursachen für die zunehmenden Pandemien, so dass Flächenschutz neben der ökologischen Notwendigkeit auch vorbeugender Pandemie-Schutz ist. Dieses Signal ist bei den meisten Städten noch nicht angekommen. (Auch der Verlust wertvoller landwirtschaftlicher Ackerböden zum Nahrungsanbau wird hingenommen, weil mancher Landwirt beim Verkauf als Bauland auf die „goldene fünfte Fruchtfolge hofft“; doch Boden ist nicht vermehrbar).

Keiner Stadt käme es in den Sinn, entgegen ihrem kommunalen Klimaschutzkonzept den CO²-Ausstoß noch eine Weile zu erhöhen statt zu verringern. Beim einzudämmenden Landschafts- und Flächenverbrauch hingegen wird ungeniert das Ziel angestrebt, trotz Bevölkerungsrückgangs immer weitere Siedlungsflächen in der freien Landschaft auszuweisen und quantitatives Wachstum anzustreben statt Flächenverbrauch zu begrenzen. Dabei hat die Stadt Haltern bereits im regionalen und Landes- und bundesweiten Vergleich den größten Wohnflächenanspruch pro Bewohner.

Doch der laute Ruf nach mehr Siedlungs- und Gewerbeflächen geht in Haltern quer durch fast alle Ratsfraktionen und -parteien (mit Ausnahme der Grünen, die auf 21% angewachsen sind), wie in der Studie dokumentiert. Bei der Gewerbeflächenplanung hat man sogar ein Drittel der Flächen für flächenintensive dezentrale Einzelhandelsbetriebe mit großen Parkplätzen (in Konkurrenz zur Innenstadt) verschwendet und will erneut in die münsterländische Parklandschaft hinein expandieren. Qualitatives statt quantitatives Wachstum ist hier als Umorientierung noch nicht angekommen. Andere Städte arbeiten längst an flächensparenden Gewerbegebieten der Neuen Generation als Modellprojekte sowie an zukunftsweisenden neuen und attraktiven Wohnformen mit urbaner Qualität als Alternative zu den monotonen Einfamilienhaussiedlungen (siehe z.b. Mehrgenerationen-Wohnprojekt).

Irrationaler Konkurrenzkampf um Flächen und Einwohner

Seit Jahrzenten zieht Haltern Einwohner aus den schrumpfenden Nachbarstädten ab und verbraucht so immer mehr Flächen in der wertvollen Natur- und Erholungslandschaft mit dem Ziel des weiteren Wachstums. Statt Kooperation mit den Nachbarkommunen betreibt Haltern einen irrationalen Konkurrenzkampf um Flächen und Einwohner. Verlierer sind Natur und Landschaft, deren Schädigung man nicht wahrhaben will. Hinzu kommen die dadurch erforderliche Verkehrsflächen und die zusätzlichen Pendler- und Verkehrsströme aus den ausgedehnten Eigenheimsiedlungen. Somit gesellen sich zu den Klimaleugnern in Haltern und anderen Städten offenbar auch die „Flächenleugner“.

Durch politische Einflussnahme auf Regional- und Landesbene haben es die „Flächenleugner“ beim neuen Regionalplan für das zersiedelte Ruhrgebiet sogar geschafft, dass der auf Freiflächenschutz fokussierte Regionalplanungschef beim Regionalverband Ruhr gefeuert wurde und dass im neuen Landesentwicklungsplan dem kommunalpolitischen Druck nachgegeben wurde, den gefährdeten Freiraum für Siedlungs- und Gewerbezwecke weiter zu öffnen. Da dies gegen die Nachhaltigkeitsvorgaben des Bundesraumordnungsgesetzes verstößt, klagen die Umweltverbände nun gegen den verwässerten Landesentwicklungsplan und den darauf anzupassenden Regionalplan. Derweil geht der Flächenfraß ungehindert weiter.

Wohnungsbau geht am eigentlichen Bedarf vorbei

Dabei benötigt Haltern vielmehr flächensparende und bezahlbare Mietwohnungen einschließlich Sozialwohnungen in urbaner Lage für seine ortsansässige Bevölkerung anstatt weitere hochpreisige Einfamilienhäuser am Stadtrand für zahlungskräftige Zuzügler aus dem Ruhrgebietsstädten, die gerne in der begehrten Halterner Erholungslandschaft wohnen möchten. Doch für die 67% Single- und Zweipersonenhaushalte sowie für die demnächst 45% Senioren in der Stadt Haltern geht der weitere Eigenheimbau völlig am Bedarf vorbei, denn die Familien mit 3-4-Personen-Haushalten machen nur 34% aus. Die Quote der Sozialwohnungen sinkt auf unter 4%, so wenig wie in keiner anderen Stadt. Und 60% Altbaubestand in Haltern warten auf Sanierung, Modernisierung, und Umbau zwecks Verkleinerung.

Goldgräberstimmung am Immobilienmarkt: Sündhaft teures Wohnen in Haltern

Das Wohnen und Bauen in Haltern ist sündhaft teuer. Die Grundstückspreise in guten bis mittleren Lagen bewegen sich inzwischen bei 300 bis 350 €/qm und verdoppeln sich alle 10 Jahre, damit ist Haltern das teuerste Pflaster in der gesamten Region. Auch die Kaufpreise für Gebrauchtimmobilien steigen ins Unermessliche. Ähnlich verläuft die Schwindel erregende Mietpreisentwicklung mit stetigen Steigerungen, die in Haltern bei Neubauwohnungen bereits bei 12,50 €/qm und mehr angelangt ist, fast so viel wie in den teuersten Großstädten. Für eine Seniorengerechte Wohnung von 80 qm wird über 1.000 €/qm Kaltmiete verlangt.

Auf dem Halterner Immobilienmarkt macht sich „Goldgräberstimmung“ breit. Die Stadt gibt vielfach bereitwillig ihre Planungshoheit an private Investoren ab. Sogar der Bürgermeisterkandidat der FDP bemerkte im Kommunalwahlkampf 2020 auf einer öffentlichen Podiumsdiskussion der Lokalzeitung :„Die Investoren und Bauunternehmen haben die Stadt Haltern im Griff. (…) Die Stadt ist tatsächlich etwas getrieben von den Bauunternehmen“. Haltern gilt mittlerweile als der "Speckgürtel" im Einzugsbereich der großen Revierstädte.

Das Bestreben der Stadt, der Preisentwicklung entgegenzuwirken mit immer weiteren Bauflächenausweisungen zur Angebotsvermehrung, geht nicht auf. Denn auf dem aufgeheizten Immobilienmarkt funktioniert schon lange nicht mehr das Marktgesetz, wonach Angebot und Nachfrage den Preis regeln. Das ist auch empirisch wiederlegt. Stattdessen wird keine Sättigung der anhaltenden Nachfrage in Haltern erreichbar sein und die Preise werden mit jeder Angebotserweiterung eher in die Höhe schnellen und die Preisspirale antreiben, zu Lasten der verbrauchten und versiegelten Landschaft. (Denn zu 50% sind die Bauflächen obendrein versiegelt). Die infrastrukturellen Folgekosten der Neubausiedlungen belasten den städtischen Haushalt über Jahrzehnte, werden aber vernachlässigt. Und mit den unerschwinglichen Bau- und Mietpreisen in Haltern geht ein sozial unverträglicher Bevölkerungsaustausch einher.

Soziale Spaltung infolge der Siedlungs- und Wohnungspolitik

Wegen der unbezahlbaren und nicht bedarfsgerechten Wohnangebote ziehen einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen aus Haltern (mit einem hohen Anteil überschuldeter Haushalte) fort in die preiswerteren Nachbarstädte und werden so regelrecht aus ihrer Heimatstadt verdrängt. Auch die ausländische Bevölkerung findet hier kaum bezahlbaren Wohnraum und begibt sich in die preiswerteren Nachbarstädte in ihre Community, so dass Haltern die niedrigste Ausländerquote im Umkreis hat. Die Abwanderer werden im Gegenzug durch die einkommensstarken und vermögenden Zuzügler von auswärts ersetzt. Dadurch gilt Haltern im regionalen Vergleich als die Stadt, die mit Abstand die vermögendsten Bewohner beherbergt (durchschnittliches Jahreseinkommen über 42.000€).

Somit bleibt die gehobene Mittelschicht in Haltern quasi „unter sich“ und eine soziale Auslese oder Selektion findet statt (im Fachjargon: „Sozialräumliche Segregation“).
In seinen „Wahlprüfsteinen“ zur Kommunalwahl 2020 schrieb z. B. das „Halterner Forum“: „Für die gesamtstädtische Bevölkerungsstruktur ist es sozial ungesund, wenn die Wohnqualität nur für eine bestimmte Bevölkerungsschicht gewährleistet ist und keine ausgewogene soziale Durchmischung besteht. Eine solche fördert aber den sozialen Zusammenhalt in einer Stadt ohne soziale Ausgrenzung“. (Viele in der Stadt legen aber Wert darauf, dass die homogene Bevölkerungsstruktur erhalten bleibt und wollen dies mit der Eigenheimpolitik für Wohlhabende forcieren). Für junge Familien sind die Eigenheime hier längst unerschwinglich und ein Großteil wird überwiegend von älteren Ehepaaren (bei einer Durchschnittsbelegung von 2,2 Personen) belegt, deren Kinder bereits ausgezogen sind.

Nachhaltige Stadtentwicklung: Siedlungsentwicklung muss neu gedacht werden

Mit der nun aktuell vorliegenden 260-seitigen Studie des gemeinnützigen Halterner „IWiPo-Institut für Wissenschaft, politische Bildung und gesellschaftliche Praxis NRW e.V. “ über die Halterner Siedungsflächen- und Wohnbaupolitik soll eine breite kommunalpolitische und öffentliche Diskussion über nachhaltige Stadtentwicklung angeregt werden. Denn nur eine nachhaltige Stadtentwicklung wird den Ansprüchen und Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger auch in Zukunft gerecht. Siedlungspolitik muss neu gedacht werden unter dem Motto: „Flächensparen heißt die Devise“. Die Städte der Zukunft sind kompakt und schützen Freiraum und Landschaft.

In der Studie wird eine Leitbilddiskussion sowie ein Zukunftsforum „Haltern 2050“ zusammen mit der Bürgerschaft angeregt. Außerdem enthält sie eine Fülle an Handlungsempfehlungen, Maßnahmen und Zielvorschlägen, darunter 24 empfohlene Zielsetzungen sowie 2x20 Handlungsschritte zum Umsteuern in einem konkreten „Handlungsleitfaden“.

Alle Interessierten können die Studie kostenfrei online (als pdf-Datei) anfordern beim Verfasser unter: Wilhelm.Neurohr@web.de oder unter w.neurohr@iwipo.eu.