Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr:

Rüstungsprojekte im Schatten der Corona-Krise

Die Krise als vertane Chance: Leben retten oder Leben vernichten?

Im Schatten der Corona-Krise sind andere überlebenswichtige Themen und zeitgleiche Ereignisse aus den Medien leider verdrängt worden: Jenseits der Pandemie und der vernachlässigten Klimakrise bahnen sich nämlich für die überlebenden Menschen noch viel weitreichendere globale Gefahren an, die ebenfalls existentielle Fragen von Leben und Tod in der globalen Schicksalsgemeinschaft aufwerfen und wirtschaftliche Folgekosten krisenhaften Ausmaßes erahnen lassen.

Die Rede ist von der die Menschheit bedrohenden Seuche der militärischen und atomaren Rüstungsspirale, die just während der Corona-Krise durch klammheimliche Entscheidungen der deutschen Bundesregierung zur „atomaren Teilhabe“ weiter angeheizt wird, statt die Krise als Chance für ein überfälliges Umdenken auch in Sicherheitsfragen zu nutzen. Ist nicht gerade die Menschheit in Krisenzeiten näher zusammengerückt, in dem Erlebnis, dass alle wechselseitig aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind?

Nur ganz am Rande war hingegen in den Medien darüber zu lesen, dass die Bundesregierung ausgerechnet in diesen Krisenwochen darüber entscheidet, die überalterte Flotte der Tornado-Kampfflugzeuge durch weitere 90 weitere Eurofighter-Jets sowie durch 45 Kampfflugzeuge F-18 des kriselnden US-Herstellers Boeing abgelöst werden sollen. Zu Letzterem sieht sich das deutsche Verteidigungsministerium durch die US-Regierung genötigt, denn das US-Modell soll vor allem für die „nukleare Teilhabe“ Deutschlands an den US-Atomwaffen beschafft werden. Dazu bedarf es nur noch der Zustimmung der Verteidigungsministerin, nachdem der Deal „mit den Industrievertretern der Rüstungsbranche bereits besprochen wurde“, wie es in den Verlautbarungen heißt.

Ausschlaggebend war die Zusicherung von Boeing, ihr Mehrzweckkampfflugzeug rechtzeitig für den Einsatz von Atombomben auszurüsten, die mit dem Flugzeug „über größere Entfernungen „mit hohen Waffenlasten ins Ziel gebracht werden können“. Mit dem Ziel ist in erster Linie das „Feindesland Russland“ gemeint, vor dessen Grenzen eigentlich das größte NATO-Militärmanöver „Defender 2020“ in diesem Frühjahr statttfinden sollte, das wegen der Corona-Krise abgebrochen werden musste – Ironie des Schicksals. Der Corona-Krise zum Opfer fallen auch die diesjährigen Ostermärsche der Friedensbewegung, ihre Proteste gegen die NATO-Übung sowie ihre Mahnwache mit den Kirchen am 6. Juni im rheinlandpfälzischen Büchel, wo 20 US-Atombomben gelagert sind für den Einsatz mit deutschen Kampfflugzeugen.

Nur durch deren Neubeschaffung könne rechtzeitig sichergestellt werden, dass die Bundesrepublik weiterhin US-Atomwaffen von Deutschland aus einsetzen könne, so die offizielle Begründung. Die sogenannte „nukleare Teilhabe“ ist seit Jahrzehnten fester Bestandteil der bundesdeutschen Sicherheitsdoktrin. Sie besagt im Wesentlichen, dass die Bundeswehr für die Nato atomare Waffensysteme für den Fall eines Nuklearkrieges bereitstellt, (wozu auch der Rückgriff auf die 500 Atomwaffen in Frankreich und die 200 in Großbritannien zählt). Im Gegenzug entscheidet die Bundesregierung mit, ob und wie Atomwaffen eingesetzt werden. Zugleich wird der Einsatz bewaffneter Kampfdrohnen durch die Bundeswehr immer konkreter, wie schon seit Jahren von Ex-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen mit Nachdruck betrieben und jetzt abseits der Corona-Nachrichtenflut verheimlicht.

Deutschland als Atommacht – ohne Diskussion in der mit Corona abgelenkten Öffentlichkeit und außerhalb des Parlaments? Nur aus der Opposition kamen vereinzelt kritische Stimmen, sofort alle Rüstungsprojekte zu stoppen angesichts der Milliardenprogramme zur Wirtschaftsstabilisierung nach der Corona-Krise, bei der wir uns einen Rüstungsetat von demnächst 75 Mrd. € wohl nicht mehr leisten können. Besonders pervers ist aber die Tatsache, dass wir einerseits in der Corona-Krise darum bemüht sind, möglichst vielen Menschen weltweit das gesunde Überleben zu ermöglichen, während wir zugleich in der Militärstrategie andererseits bemüht sind, im Ernstfall atomare Waffensysteme einzusetzen, die darauf abzielen, möglichst wenigen Menschen eine Überlebenschance zu geben. Ist es das, was wir aus den Krisen gelernt haben? Dann haben wir eine große Chance vertan: Statt ziviles Leben zu retten, planen wir militärisch, Leben zu vernichten?!

Wilhelm Neurohr