Wilhelm Neurohr

Europarat zur Sozialen Ungleichheit in Deutschland

Tatenlos und erfolglos gegen ungebremst steigende Armut und Ungleichheit:

Sozialpolitisches Totalversagen aller Parteien seit 35 Jahren in Deutschland:

Europarat fordert mehr Anstrengung bei der Bekämpfung von Armut, Wohnungslosigkeit und sozialer Ausgrenzung im reichen Deutschland -
Wo bleiben die politischen Reaktionen und Konsequenzen?

Während vor wenigen Tagen der Europarat in seinem alarmierenden Bericht erneut ein vernichtendes Urteil über die tatenlose und erfolglose deutsche Sozialpolitik veröffentlichte - und deshalb mehr Anstrengung bei der Bekämpfung von Armut, Wohnungslosigkeit und sozialer Ausgrenzung einforderte - überbieten sich gerade Regierungskoalition und Opposition stattdessen wieder einmal beim noch weiteren Sozialabbau in allen Bereichen. Auf den Bericht des Europarates gab es keinerlei politische Reaktion oder Konsequenz, sondern nur betretenes Schweigen einerseits und der immer lautere Ruf nach Kürzung und Beschränkung von Sozialleistungen andererseits. Damit wird absehbar die soziale Ungleichheit im Lande noch weiter zunehmen statt abnehmen.

Es sind die immer selben Parteien, die seit 35 Jahren in wechselnden Koalitionen und Konstellationen die stetig steigende Armutsquote, insbesondere die Kinderarmut und Altersarmut sowie die Wohnungslosigkeit und die Schlangen an den Tafeln bei der Armenspeisung, nicht zu behehen in der Lage oder willens sind. Die soziale Unwucht im Lande scheint ihnen seit Jahrzehnten egal zu sein, denn ihre wiederholten Wahlkampfversprechen zum Thema "Soziale Gerechtigkeit" haben sie nie eingehalten, sonst würde sich der Anteil der sozialen Verlierer nicht stetig weiter erhöhen im ausgeblendeten Verteilungskampf "oben gegen unten".

Bloßer Regierungswechsel ohne Politikwechsel gefährdet Demokratie

Damit gefährden die maßgeblichen Parteipolitiker in Regierung und Opposition in höchsten Maße die Demokratie und treiben Wählerinnen und Wähler scharenweise zu den Rechtspopulisten. Denn wen können und sollen die von sozialer Benachteiligung immer mehr betroffenen Menschen überhaupt noch wählen, wenn sich mit keinem Partei- oder Regierungswechsel der letzten 35 Jahre ihre soziale Perspektive verbessert hat, sondern im Gegenteil immer weiter verschlechtert, wie vom Europarat bemängelt, egal, welche Parteien jeweils an der Macht sind?

Ein bloßer Regierungswechsel ohne gleichzeitigen Politikwechsel im Interesse des Volkes ist kein Beweis funktionierender Demokratie, sondern nur ein Austausch von Köpfen aus der selber nicht betroffenen, weil privilegierten Politiker-Kaste. Es mangelt dort an Empathie für die sozial Betroffenen und an politischem Mut zur Umverteilung von oben nach unten, statt weiterhin die umgekehrte Verteilung voranzutreiben: Deshalb wächst ungebremst die Reichtums-Armuts-Schere immer weiter, und das nun schon seit Jahrzehnten - ohne Lichtblick auf Veränderung. Nach wie vor wird den Reichsten kein angemessener Steueranteil an den aufzubringenden Sozialkosten abverlangt, sondern umgekehrt die Umverteilung von der öffentlichen Hand in die privaten Taschen praktiziert, auch wenn das Gemeinwohl und der soziale Zusammenhalt darunter leiden.

Entschlossene Schritte zum Durchbrechen der Armut gefordert

Die Menschenrechtskommissarin des Europarates sprach deshalb Klartext: Armut sei vor allem für Kinder, Senioren und Menschen mit Behinderungen ein großes Problem. Es brauche entschlossene Schritte, um den Kreislauf der Kinderarmut zu durchbrechen, heißt es in dem Bericht. Auch müssten die Kinderrechte gestärkt und etwa mit einer zentralen Behörde koordiniert werden, weil sonst die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen bei politischen Entscheidungen übersehen würden - wie beispielsweise während der Corona-Pandemie. Außerdem müsse gegen die hohe Armutsquote bei Seniorinnen und Senioren vorgegangen werden.

Auch die Wohnungslosigkeit müsse mit allen Mitteln bekämpft werden, denn die zunehmende Zahl wohnungsloser Menschen in Deutschland sei besorgniserregend, so die Menschenrechtskommissarin. Das Recht auf Wohnen als Menschenrecht für alle werde leider nur begrenzt anerkannt. Um Obdachlosigkeit zu verhindern und zu beseitigen, seien umfassende und langfristige Maßnahmen nötig. Deutschland müsse alle zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen, einschließlich Eingriffen in den Wohnungsmarkt und Änderungen des Mietrechts. (Mit diesen radikalen Forderungen stößt die Menschenrechtskommisssarin des Europarates jedoch auf taube Ohren bei deutschen Politikern, von denen wohl allzu viele selber Ihr Vermögen in Immobilien angelegt haben).

Über die Hälfte der Rentner fallen trotz Rentenerhöhung unter die Armutsgrenze

Während Bundessozialminister Heil stolz das "neue Rentenpaket" vorstellt und in diesem Jahr eine (wohl letztmalige) Rentenerhöhung in der Größenordnung von 4,75% verkündet, musste er auf eine Anfrage im Bundestag zugeben: Über die Hälfte der Rentner, nämlich 10 Mio. Betroffene, befindet sich mit 1.100 € Rente unter der Armutsgrenze. Weitere 12 Mio. Rentner (67%) begnügen sich mit unter 1.600 € im Monat. Insgesamt liegen über 93% aller Altersrenten unter 2.000 € im Monat. Millionen Menschen werden im Alter in die Armut entlassen. Umso schäbiger ist die scharfe öffentliche Kritik des Vorsitzenden der Jungen Union in Deutschland an der diesjährigen Rentenanpassung an die Lohnentwicklung von 4,75%, die er den Rentnerinnen und Rentnern mißgönnt. Derweil zeigte gerade eine aktuelle Studie der OECD, dass im internationalen Vergleich das Rentenniveau in Deutschland unterdurchschnittlich schlecht ist.

Gegen die Überlegungen des Ministers, evt. die privilegierten Beamten in die Rentenversicherung als Beitragszahler mit einzbeziehen, laufen die Beamten Sturm. Denn deren deutlich höhere Pension mitsamt Krankenbeihilfe wird derzeit (und wohl auch in Zukunft) zu 100 % vom Steuerzahler finanziert, während der Bundeszuschuss für die Rentenkasse mit Blick auf die künftige Generation als untragbar verteufelt wird und deshalb - anders als bei den Beamten und Politikern - die Teilprivatisiertung der Rente über den unsicheren Aktienmarkt begonnen wird.

Abschaffung des Bürgergeldes und weitere Angriffe auf den Sozialstaat

Mit seiner aktuellen Kampagne gegen das Bürgeld und für seine Abschaffung hat es CSU-Chef Friedrich Merz (als Multimillionär und Diätenbezieher auf Steuerzahlerkosten) auf die Ärmsten am unteren Ende des sozialen Hierchie abgesehen. Und FDP-Finanzminister Lindner (als Cheflobbyist und "Schutzpatron der Reichen" von der 5%-Partei) will erklärtermaßen weniger Sozialstaat mit dem Einfrieren von Sozialausgaben bzw. ein Moratorim für neue Sozialausgaben. Die im Koalitionsvertrag anvisierte Kindergrundsicherung möchte er am liebsten ganz auf Eis legen. Um mehr Geld für Verteidigung ausgeben zu können, soll nach seiner Vorstellung auf Sozialausgaben verzichtet werden.

Damit verbaut er vor allem den fast 3 Millionen armutsgefährdeten Kindern die Zukunft, das sind 15%, die zugleich zu den Bildungsbenachteilgten und Ausgegrenzten gehören. Zudem leistet sich dieser Sozialstaat eine halbe Mio. Wohnungslose und 50.000 Obdachlose sowie 2 Mio. bedürftige Menschen bei den fast 1.000 Tafeln zur Armenspeisung in Deutschland mit steigender Zahl und immer längeren Warteschlangen. Die unteren 20% der Bevölkerung besitzen überhaupt kein Vermögen und fast 10% sind verschuldet oder überschuldet. Über 40% der Bevölkerung hat nur ein Einkommen von 28.000 €; Alleinerziehende zwischen 16.000 und 22.000 € im Jahr. Demgegenüber besitzen die wohlhabendsten 10% der deutschen Haushalte zusammen 60% des Gesamtvermögens.

Armut und Kinderarmut verbieten sich in einem Sozialstaat

Wer angesichts dieser Entwicklungen den Sozialstaat zurückdrängen will und eine gerechtere Vermögens- und Einkommensverteilung sowie ausgleichende Steuerpolitik strikt ablehnt, hat das Sozialstaatsgebot des 75-jährigen Grundgesetzes nicht verstanden und gehört nicht in politische Spitzenämter. Hier setzt sich das sozialpolitische Totalversagen der Politik fort, die seit 35 Jahren die auseinanderklaffende Armuts-Reichtums-Schere und die stetig steigenden Armutsquoten ignoriert und damit menschliches Dauerleid aublendet. Auch im nächsten Jahr wird man wohl wieder die Mahnungen des Europarates und der Menschenrechtler an sich abprallen lassen, aber Krokodilstränen über die künftigen Wahlergebnisse und -verschiebungen vergießen.

Wilhelm Neurohr, 21. März 2024