Wilhelm Neurohr

Leserbrief zum Artikel vom 01.10.2016: „Merkel wirbt im NRW-Landtag für mehr Europa“

„EUROPAS PROBLEM IST DIE HERRSCHENDE EU-ELITE“

Als Kanzlerin Merkel Anfang Oktober vor dem NRW-Landtag für „mehr“ Europa warb, so hätte sie stattdessen besser für ein „anderes“ Europa werben sollen: Nämlich für ein demokratischeres und sozialeres Europa der Bürger mit neuen Köpfen statt für das neoliberale EU-Projekt der Eliten. Denn die herrschenden Figuren in der EU eignen sich nicht als europäische Problemlöser, sondern sind selber das eigentliche Problem der kriselnden EU. Doch das kommt in dem Appell der Kanzlerin nicht vor, obwohl es nicht um einzelne „schwarze Schafe“ geht, sondern um nahezu die gesamte Elite, denn „der Fisch stinkt vom Kopf her“:

Beginnen wir mit dem kürzlich ausgeschiedenen EU-Kommissionspräsidenten Manuel Barroso, der sogleich als Berater zur skandalumwobenen US-amerikanischen Investment-Großbank Goldman-Sachs gewechselt hat, wo zuvor auch der Europäische Zentralbankchef Mario Draghi seine Karriere begann. (Vorsitzender von Goldman Sachs International ist der ehemalige EU-Kommissar Peter Sutherland). Jüngst wurde bekannt, dass Barroso als höchster EU-Beamter bereits in seiner Amtszeit allzu engen Kontakt zu Goldman-Sachs hatte. Ausgerechnet deren Ratschläge soll er bei den Regulierungen für die Finanzinstitute nach der Bankenkrise befolgt haben, für die er zuständig war. Barrosos Nachfolger bei der EU, Jean Claude Juncker, hält Barrosos Wechsel deshalb für „unmoralisch und unvereinbar mit der Ethik der EU-Kommission“.

Doch der Vorwurf trifft auf den derzeit amtierenden EU-Kommissionspräsident Juncker selber zu, der bekanntlich jahrzehntelang als luxemburgischer Finanzminister und Regierungschef für die steuerpolitischen Tricksereien in der „Steueroase“ zu Lasten der europäischen Steuerzahler verantwortlich war und den Konzernen Steuerdeals ermöglichte. Einen vom EU-Parlament daraufhin geforderten Untersuchungsausschuss zu den Luxemburg-Leaks verhindert er mit Hilfe des befreundeten EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD), der die „große Koalition“ im EU-Parlament nicht gefährden wollte.

Außerdem berief Juncker einen vormaligen Lobbyisten des Bertelsmann-Konzerns, Prof. Selmayr (vorher Leiter der EU-Vertretung des Medienkonzerns in Brüssel) (zu seinem einflussreichen Kabinettschef in der EU-Kommission (etwa vergleichbar der Rolle des Kanzleramtsministers Altmeier). Schon der Vorstandsvorsitzende des Bertelsmann-Konzerns, Thomas Rabe, begann seine Laufbahn selber bei der EU-Kommission in der Generaldirektion für die Finanzinstitute.

Deshalb verwundert es nicht, dass die ausgeschiedene stellvertretende EU-Kommissionspräsidentin Viviane Reding ohne Karenzzeit mit Billigung der EU-Kommission sogleich zu Bertelsmann ins Stiftungs-Kuratorium wechselte. Und der EU-Handelskommissar Karel de Gucht wechselte nach seiner umstrittenen Rolle bei den TTIP-Verhandlungen und seinem Einsatz für die privaten Schiedsgerichte für die Konzerne in die Privatwirtschaft, und zwar in die Vorstände des belgischen Telekommunikationsunternehmens Belgacom und der Privatbank Merit Capital, die beide Lobbyarbeit auf EU-Ebene auch pro TTIP betreiben.

Und die ehemalige EU-Klima-Kommissarin Connie Hedegaard berät nun den Vorstand des VW-Konzerns. Auch mit offenen Armen empfing der Schweizer Konzern Syngenta - nach Monsanto der zweitgrößte Agrarchemie- und Biotechnologie sowie Gentechnik-Konzern und Fusionspartner – den ausgeschiedenen EU-Umweltkommissar Janez Potočnik aus Slowenien zu seiner Anschlussbeschäftigung (ohne Karenzzeit) als Vorsitzender des Agrarforums. Und wen verwundert es, dass die Niederländerin Neelie Kroes während ihrer zehnjährigen Amtszeit als Wettbewerbs-Kommissarin selber Chefin einer Briefkastenfirma mit Sitz im Steuerparadies der Bahamas war.

Aber auch die deutschen EU–Kommissare Günther Verheugen (Kommissions-Vizepräsident und Kommissar für Unternehmen und Industrie) und Martin Bangemann (EU-Kommissar für den Kommunikationsbereich ) wechselten seinerzeit mit Schimpf und Schande ohne Karenzzeit unter öffentlicher Kritik als Lobbyisten in die Privatwirtschaft für Bereiche, für die sie vorher als EU-Beamte tätig waren, Bangemann in einen Telefonkonzern, Verheugen als Berater bei zwei Banken und bei einer Lobbyagentur. Und Günter Oettinger wurde als deutschem EU-Energiekommissar von den Grünen eine allzu große Nähe zur Atomlobby vorgeworfen mit Konterkarieren des deutschen Atomausstiegs; nun ist er als EU-Kommissar für die Digital-Wirtschaft tätig.

Im Jahr 1999 hatte die komplette EU-Kommission wenigstens den Anstand, geschlossen zurückzutreten, nachdem die frühere französische EU-Kommissarin Edith Cresson der „Vetternwirtschaft“ überführt wurde. Was bleibt, sind die über 30.000 niedergelassenen Lobbyisten am Standort Brüssel mit freiem Zugang zur EU-Kommission, darunter 150 Niederlassungen großer Konzerne, sowie die in der Kommission mit der Ausarbeitung von Rechtsverordnungen etc. befassten Lobbyisten aus der Privatwirtschaft – ähnliches gab und gibt es auch immer noch in deutschen Ministerien, wie Monitor vorige Woche enthüllte.

Und 200 Europa-Abgeordnete des EU-Parlamentes verdienen sich ein Zubrot auch bei Wirtschaftsunternehmen, wie eine Datenbank der Anti-Korruptionsorganisation Transparency International zeigt. Es bedürfte eines eigenen Leserbriefes, um auch die ausgeschiedenen Mitglieder des Europäischen Rates und des EU-Ministerrates, also die Regierungsvertreter der einzelnen Staaten alle aufzuzählen, die anschließend fast alle in die Wirtschaft und Finanzindustrie gegangen sind (nachzulesen unter: http://www.myheimat.de/recklinghausen/politik/wilhelm-neurohr-die-finanz-mafia-der-eliten-als-krisentreiber-d2457536.html). Mit diesen Eliten hat Europa keine Zukunft, sie richten Europa zugrunde, indem sie eigennützig die Wirtschafts- und Finanzlobby zur heimlichen EU-Regierung aufgewertet haben! Damit geraten Gemeinwohl und Bürgerinteressen komplett unter die Räder. Dafür werfen die korrupten Eliten den EU-Bürgern nun Europa-Skepsis vor…

Wilhelm Neurohr