Wilhelm Neurohr

Ausverkauf überschuldeter Städte im Ruhrgebiet?

Dramatische Haushaltslage in den Rathäusern -

Die unendliche Geschichte der kommunalen Schuldenlast in unseren unterfinanzierten Revierstädten

EINE UMFASSENDE DOKUMENTATION AUS 25 JAHREN POLITISCH GEWOLLTER KOMMUNALVERSCHULDUNG

von Wilhelm Neurohr

RUHRGEBIET / KREIS RECKLINGHAUSEN. Wieder einmal spitzt sich die kommunale Haushaltslage dramatisch weiter zu und sorgt für Alarm in den Rathäusern der finanzschwachen Städte des Ruhrgebiets. In der vorigen Woche vermeldeten allein die Städte im Kreis Recklinghausen eine Schuldenlast von 220 Mio. € zuzüglich 1,2 Mrd. € abzuzahlender Dispo-Kredite. Ein kommunales Aktionsbündnis „Für die Würde unserer Städte“ (und damit für die Menschenwürde ihrer BewohnerInnen) kämpft verzweifelt gegen den Niedergang der verfassungsrechtlich garantierten kommunalen Selbstverwaltung. Es verlangt bislang vergeblich von der Landesregierung NRW eine wirksame Altschuldenregelung. Dieser Kampf gegen den Ausverkauf und die drohende Insolvenz unserer Städte und Gemeinden ist eine unendliche und tragische Geschichte, die hier dokumentiert wird:

Die negative Entwicklung der Gemeindefinanzen nahm bereits im Jahr 2000 mit der so genannten „Jahrhundert-Steuerreform“ des damaligen Finanzministers Eichel von der rot-grünen Agenda-Regierung Schröder ihren verhängnisvollen Anfang und wirkt sich bis heute negativ aus. Sie bestand steuerpolitisch aus einem folgenschweren großen Umverteilungs-Programm von den öffentlichen Haushalten in die privaten Taschen einiger weniger, bei dem die Kommunen „abgezockt“ wurden und zugleich die Armutsquote in der Bevölkerung dauerhaft noch weiter ansteigen ließ, was sich bis heute auf die Sozialhaushalte der Kommunen auswirkt. Der private Reichtum wurde mit öffentlicher Armut erkauft.

Während seinerzeit die deutschen Kommunen mit 128 Mrd. € verschuldet waren, sind im selben Zeitraum durch die Steuergeschenke der „Jahrhundertreform“ die Privatvermögen um 240 Mrd. € gestiegen. Allein die 500 reichsten Deutschen besaßen bereits zum damaligen Zeitpunkt mit 3.300 Mrd. € mehr als 10 mal soviel wie der gesamte deutsche Bundeshaushalt von 306 Mrd. €, ohne dass etwa eine „Milliardärssteuer“ o.ä. erwogen wurde. Darum steht jetzt das örtliche Gemeinwesen und damit die lokale Demokratie quasi vor dem finanziellen Bankrott und vor einem sozialen Scherbenhaufen. In 2012 beklagte ein Bürgermeister aus dem Ruhrgebiet, Dr. Uli Paetzel aus Herten, die „griechischen Verhältnisse“ in unseren verarmten Kommunen. (Zum gleichen Thema hielt der Verfasser dieser Zeilen im Oktober 2012 zwei Vorträge in Wuppertal vor dem Paritätischen Wohlfahrtsverband NRW und Attac sowie in der Volkshochschule Marl).

Kommunaler Niedergang seit 2000: Verheerende „Jahrhundert-Steuerreform“

Eichels Steuerreform zur Jahrhundertwende war das «größte Sparpaket in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland» zur Umverteilung von unten nach oben sowie von Staat zu Privat und damit zum Schaden der Kommunen: Der Spitzensteuersatz von einstmals 56% wurde auf nur noch 42% abgesenkt, die für die Gemeinden existenzielle Körperschaftssteuer von 40% auf 25% gesenkt, die Geringverdiener zugunsten der Spitzenverdiener um 35 Mrd. DM belastet. Den Kommunen gingen als unmittelbare Folge der Steuerreform jährlich insgesamt 52 Mrd. € an Steuereinnahmen plötzlich ersatzlos verloren. Städte wie Gelsenkirchen mussten ortsansässigen Großkonzernen (wie Veba-Öl) dreistellige Steuermillionen zurückzahlen, statt Steuern von ihnen einzunehmen.

Hinzu kamen noch die unsägliche Agenda 2010 und das Hartz-IV-Paket, das von den Kommunen mitzufinanzieren war. (Seit 2015 kamen noch die steigenden Finanzlasten durch den Zuzug von Flüchtlingen und Zuwanderern hinzu sowie die Corona-Lasten). Fortan ging es mit den Kommunalfinanzen rasant bergab. Offensichtlich war das politisch so gewollt?

Öffentlich-Private Partnerschaft (ÖPP): Kommunen sollten auf Privatkapital ausweichen

Der vom damaligen Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) versprochene Kostenausgleich für die Kommunen blieb aus. Stattdessen wollte man die Kommunen zwingen, durch öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) auf ein neues Finanzierungs- und Investitionsinstrument mit privatem Kapital und Teilprivatisierung auszuweichen. Den Kommunen wurden weitere Geldzuweisungen für die Erfüllung ihrer Aufgaben vorenthalten, zugunsten der privaten Kapitalanleger. Statt der versprochenen Finanzhilfen für die Kommunen und ihre wirksame Entschuldung in absehbarer Zeit durch verbesserte steuerliche Einnahmen und einen gerechteren Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden wollten SPD und CDU nun im beiderseitigen Einvernehmen PPP („Public Privat Partnership“) oder ÖPP (Öffentlich-Private Partnerschaft) zum neuen Finanzierungs- und Investitionsinstrument der Kommunen machen.

Als Alternative zur normalen kommunalen Haushaltsbeschaffung sollten die Kommunen frisches Kapital bei den Privaten aufnehmen. Das Ganze lief zunächst (unter der NRW-Regierung Rüttgers CDU) als ministerielles Beratungsangebot, unter der Regierung Kraft (SPD) lief es verpflichtend: Im NRW-Finanzministerium war seit langem eine "PPP-Task-Force" eingerichtet, die die private Wirtschaft und die öffentliche Hand miteinander verquicken sollte; Lobbyvertreter gingen dort ein und aus. Die EU erwog das Gleiche und drohte, ohne PPP-Modelle den klammen Kommunen keine Fördermittel mehr zu genehmigen. PPP sollte zur Genehmigungsvoraussetzung werden! Cheflobbyist des bundesweiten PPP-Netzwerks war Peer Steinbrück, seinerzeit schmählich abgewählter SPD-Ministerpräsident von NRW und Ex-Finanzminister sowie selbsternannter Kanzlerkandidat, der auch als Erfinder der „Schuldenbremse“ gilt.

Geplante Gemeindefinanzreform mehrfach gescheitert

Die von Bundesfinanzminister Schäuble (CDU) später auf Druck der kommunalen Spitzenverbände einberufene Gemeindefinanzreform-Kommission hatte ihre Schularbeiten nicht gemacht und wurde nach einiger Zeit ergebnislos aufgelöst – obwohl die Kommunen in 2010 mit 11 Mrd. € ein Rekorddefizit vermeldeten - denn der Koalitionspartner FDP wollte weiterhin «Privat vor Staat» und sogar die für die Kommunen existenzielle Gewerbesteuer abschaffen, trotz des Widerstandes der Bundesländer und der betroffenen Kommunen.

Die vom damaligen Bundesfinanzminister Schäuble in 2010 versprochene kommunale Finanzreform ist also bis heute ausgeblieben und auch eine von Bertelsmann empfohlene eigene „Kommunalsteuer“ wurde nie eingeführt. Mit der von Schäuble damals geplanten „revolutionären“ Finanzreform sollten die von der Gewerbesteuer abhängigen Gemeinden künftig (über Spielräume für eigene Zuschläge zum Einkommenssteueranteil) selber eigenverantwortlich entscheiden , wie stark sie die Bürger belasten wollten. Damit hätte den Kommunen ein radikaler Finanzwettbewerb gedroht mit noch härterem Spardruck bei der sozialen Infrastruktur.

Keine Problemlösung durch „Neues Finanzmanagement“ in den Kommunen

Der Neoliberalismus war somit dank der Agenda-Politik von rot-grün und schwarz-gelb in den Kommunen angekommen und wirkte sich verheerend aus. Die überschuldeten Kommunen wurden fortan über die Kommunalaufsicht und die Gemeindeprüfanstalt NRW (mit einem FDP-Politiker seinerzeit an der Spitze) unter ein betriebswirtschaftliches Diktat gestellt (genannt: «Neues kommunales Finanzmanagement» oder «Neue Steuerung»). Mit dem von Bertelsmann gesteuerten „Neuen Steuerungsmodell“ oder „New Public Management“ in allen Kommunalverwaltungen wurden fortan die rein betriebswirtschaftlich ausgerichteten Kommunalfinanzen („Die Stadt als Konzern“) vor allem auf Ausgründungen und Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen mitsamt Personalabbau ausgerichtet.

Unter diesem Regime wurden lukrative Bereiche kommerzialisiert und verlustträchtige Bereiche „sozialisiert“, öffentliche Güter ausverkauft oder «outgesourcet». Eine doppelte Buchführung anstelle der Kameralistik sollte die Verlust- und Gewinnbereiche sichtbar machen. Dadurch hat sich aber die kommunale Finanzlage nicht verbessert; auch wurde die Daseinsvorsorge für die Bevölkerung dadurch nicht gesichert, sondern immer mehr eingeschränkt. Heute klagen die Kommunalverwaltungen nach dem erzwungenen Personal- und Stellenabbau über Fachkräfte- und Personalmangel sowie unbesetzte Stellen und müssen ihre Aufgabenerledigung reduzieren.

Zahlungsunfähige Kommunen zwischen „Finanzcrash“ und „Schuldenbremse“

Mit dem großen Finanzcrash 2007 und den Sparprogrammen und Privatisierungszwängen der schwarz-gelben und schwarz-roten Merkel-Regierung verschlimmerte sich die Lage. Nicht die Kommunen wurden als „systemrelevant“ eingestuft, sondern die zockenden Banken, bei denen nach den staatlichen Rettungsschirmen die klammen Kommunen nun Kredite mit Zinszahlungen aufnehmen und dafür ihre Zahlungsfähigkeit nachweisen mussten. In Einzelfällen verweigerten die mit Steuergeldern geretteten Banken anschließend in 2013 einigen klammen Kommunen die Genehmigung weiterer Kassenkredite (Dispokredite).

Eigentlich sind Staat und Kommunen keine betriebswirtschaftlichen Privatunternehmen, die wegen Zahlungsunfähigkeit in die die Insolvenz gezwungen werden können, sondern sie sind verfassungsrechtlich gesicherte Rechtsgemeinschaften und demokratisch legitimierte Verfassungsorgane. Ein Rollentausch ist in einem demokratischen Rechtsstaat nicht zulässig, wonach die Banken die Spielregeln der staatlichen und kommunalen Finanzierungsbedingungen bestimmen; das wäre eine verkehrte Welt der Bankenherrschaft.

Und mit der zuvor in 2009 eingeführten „Schuldenbremse“ der Finanzminister Steinbrück (SPD) und Schäuble (CDU) treibt es heute Ampel-Finanzministers Lindner (FDP) ideologisch auf die Spitze, so dass die Perspektive für die Kommunen und ihre Bewohner immer aussichtsloser wird. Die sozialen Verlierer in den städtischen Problemvierteln wenden sich daraufhin zunehmend den Rechtspopulisten der AfD zu, die alles noch verschlimmern würden.

Politische Entrechtung der Kommunen durch erzwungene Insolvenz?

Bereits in 2011 beschrieb der Verfasser dieser Zeilen in einer Ruhrgebiets-Zeitschrift die damals zugespitzte Situation: „Nur 8 von 400 Kommunen in NRW haben noch ausgeglichene kommunale Haushalte, alle übrigen tragen – wegen des staatlichen Verzichts auf Einnahmen statt einer sozial gerechten Steuerpolitik – zusammen eine Steuerlast von 53 Mrd. Euro; (das ist soviel, wie Bill Gates besitzt). Besonders hart trifft es Ruhrgebietsstädte wie Oberhausen oder Hagen, die bereits bilanziell überschuldet sind (d.h. ihre Schulden übersteigen ihr Vermögen), aber vor allem auch die Städte in der Armutsregion des nördlichen Ruhrgebiets: Der Kreis Recklinghausen und seine zehn Städte sind aktuell bei 2,4 Mrd. Euro Schulden angelangt."

Die meisten Ruhrgebietsstädte, so die damaligen Voraussagen, „werden zwischen 2011 und 2015 in die bilanzielle Überschuldung rutschen, und damit faktisch in die Insolvenz. Dann sind sie zur Handlungsunfähigkeit verdammt, ihre von der Bürgerschaft gewählten demokratischen Räte haben fast nichts mehr zu entscheiden oder politisch zu gestalten – sie können nur noch den Mangel verwalten. Die Hauptlast für die Städte stellen die Sozialkosten dar, die Bund und Land verfassungswidrig auf die Kommunen teilweise abwälzen; diese Lasten steigen jährlich, statt dass die Kommunen entlastet werden oder Ausgleichszahlungen erhalten. Das überfordert die örtlichen Solidargemeinschaften.“

Alternativen zu Privatisierung, Ausgliederung und Sozialabbau in den Kommunen

Schon in 2003 waren die dramatischen Fehlentwicklungen der Gemeindefinanzen und ihre verheerenden Auswirkungen für die kommunale Selbstverwaltung für Insider frühzeitig absehbar. Auf dem "Zukunftskongress" von ver.di und DGB sowie dem regionalen Sozialforum in Stuttgart gestaltete der Verfasser dieser Zeilen bereits im Juli 2003 einen ausgebuchten Workshop mit einem Impulsreferat zum Thema "Gemeindefinanzen- Kommunale Haushalte". Im überfüllten Saal des Stuttgarter DGB-Hauses hielt er vorher vor 250 Kommunalpolitikern, Bürgern und Gewerkschaftern einen viel diskutierten Vortrag mit dem Thema: "Kommerzialisierung des öffentlichen Gemeinwesens und das drohende Ende der kommunalen Selbstverwaltung - Alternativen zu Privatisierung, Ausgliederung und Sozialabbau". Ko-Referenten waren der Gewerkschaftsvorsitzende des Bezirkes Stuttgart und Professoren der Uni Trier und des Stuttgarter Instituts für soziale Gegenwartsfragen.

Freihandelsverträge wollen auch auf kommunale Dienstleistungen zugreifen

Aufgeklärt und gewarnt wurden die Kommunalvertreter damals auch vor mehrern umstrittenen internationalen Freihandelsabkommen (wie GATS, TTIP, CETA und TISA) mitsamt Schiedsgerichtsverfahren, weil diese es teilweise auch auf die kommunalen Dienstleistungen und kommunalen Unternehmen abgesehen hatten, mit denen Profite erzielt werden sollten und somit der Privatisierungsdruck auf die Kommunen erhöht wurde. Öffentliche Auftragsvergaben und Ausschreibungen sollten noch stärker europaweit und transatlantisch erfolgen und damit der privaten Konkurrenz geöffnet werden, womit die Handlungs- und Entscheidungsspielräume der Kommunen und ihrer Eigenbetriebe noch weiter eingeschränkt würden.

Darüber informierte der Verfasser dieser Zeilen auch 2015 in Köln auf dem "Rheinischen Aktionstag" mit einem Bündnis der Städte Köln, Bonn, Düsseldorf, Leverkusen, Aachen, Krefeld, Mönchengladbach, Bergisch-Gladbach und Brühl, veranstaltet von "Mehr Demokratie e.V." und anderen. ( Einen umfassenden Vortrag dazu hielt er auch in Schwäbisch-Hall auf Einladung eines Bündnisses von 20 Organisationen vor 160 Zuhörern, parallel zum dort stattgefundene unternehmerischen Treffen der mittelständischen Weltmarktführer).

"Virtuelles Rathaus": Vermeintlicher Problemlöser der Kommunalfinanzen?

Besorgte Kritiker befürchteten außerdem, dass sich im Rahmen der damals beginnenden kostenaufwändigen Digitalisierung der Kommunalverwaltung - auch zur angeblichen Kostensenkung kommunaler Aufwendungen und als Problemlöser kommunaler Finanznöte mittels "eGovernment" und "eDemokratie" - die ohnehin akut gefährdete kommunale Selbstverwaltung mit ihren sozialräumlichen Gestaltungsmöglichkeiten künftig als „virtuelles Rathaus“ und virtuelles Verwaltungsnetzwerk in den kommerziellen Netzwerken internationaler Dienstleistungskonzerne auflöst. Damit wurde von der eigentlich notwendigen Reformdebatte zu den Kommunalfinanzen abgelenkt.

Das eigene Rathaus mit den bislang noch dahinterstehenden Kommunalbediensteten könnte im anonymen Netzwerk eines grenzüberschreitenden digitalen Dienstleistungsverbundes künftig nicht mehr identifizierbar sein, weil die Dienstleistungen teilweise in auswärtigen Kompetenzzentren zentral erbracht werden sollten und der lokale Bezug und Bürgerkontakt der kommunalen Verwaltung vor Ort allmählich verloren ginge. (So wollte z.B. die Autoverleihfirma Sixt bundesweit die digitalen Dienstleistungen der Straßenverkehrsämter für die KFZ-An- und Abmeldungen gerne übernehmen). Die Auflösung der kommunalen Selbstverwaltung im virtuellen Netzwerk?

Städte in der Schuldenfalle – Suche nach Wegen aus der Kommunalen Finanzkrise

Im November 2010 konnte der Verfasser dieser Zeilen im Bürgerhaus Herten-Süd vor Kommunalpolitikern und der Regionalgruppe der solidarischen Kirche Westfalen zum Thema referieren: „Städte und Gemeinden in der Schuldenfalle? Auf der Suche nach Alternativen zur Überwindung der kommunalen Finanzkrise“. Ko-Referenten waren der Landrat des Kreises Recklinghausen, der VHS-Leiter von Herne und der Rechtsamtsleiter der Stadt Marl. Es wurde sichtbar: „Wer sich heute noch in der Kommunalpolitik engagiert, muss ein Masochist sein“. Denn auch nach 25 Jahren kommunaler Haushaltskonsolidierung blieben die spürbaren Erfolge aus: 10 Jahre kommunale Überschuldung, 20 Jahre Einnahme- und Steuerrückgang - mit der Folge der öffentlichen Verarmung, 20 Jahre Verschlankung der Kommunalverwaltungen mit dem Abbau von Stellen und Dienstleistungen.

Zu Lasten der Bürger und Beschäftigten erfolgten drastische Sparprogramme, Schließung von Einrichtungen, Ausgründungen und Privatisierungen, Streichungen von so genannten freiwilligen Aufgaben (die sozial und kulturell notwendig wären) und betriebswirtschaftlichem Zwangskorsett für öffentliche Dienstleistungen und Daseinsvorsorge. Die Ergebnisse sind allenthalben sichtbar: Marode Gebäude und Straßen, ungepflegte Parks, ausgeschaltete Straßenbeleuchtung, höhere Gebühren und Abgaben für die Bürger, geschlossene oder privatisierte Einrichtungen, gekürzte Sozialzuschüsse für Vereine und Träger, Investitionsstau, Gehaltszahlungen in den Rathäusern vom Kassenkredit (Dispo) usw.

Drohendes Ende der kommunalen Selbstverwaltung?

Würde dieser Niedergang einfach immer so weitergehen, dann sähe die reale Perspektive so aus: erneutes Abrutschen unserer Städte in die bilanzielle Überschuldung in den nächsten Jahren, drohendes Ende der kommunalen Selbstverwaltung, Fremdverwaltung durch die Kommunalaufsicht, Zusammenbruch der öffentlichen Daseinsvorsorge und Infrastruktur vor Ort , Lähmung der politischen Handlungs- und Entscheidungsspielräume von Räten und Kreistagen – also ein Demokratieverlust auf der untersten staatlichen und sozialstaatlichen Ebene - als Fundament des Staates. Und das in einem steinreichen Land mit einem Bruttoinlandsprodukt von (damals) jährlich 2,4 Billionen €. Ist Licht am Ende des Tunnels zu sehen oder wird uns die kommunale Finanzkrise noch weitere Jahrzehnte begleiten?

Akt der Verzweiflung: Spekulative Zinswetten der Stadtkämmerer

Ein Blick auf die chronologische Entwicklung der anhaltenden kommunalen Schuldenfalle zeigt das ganze Drama: Mit dem notgedrungenen Verkauf des gesamten „Tafelsilbers“, also von kommunalen Anteilen, wertvollen Grundstücken und Immobilien usw. verloren die Städte immer mehr an politischen Einflüssen und Gestaltungsmöglichkeiten. In ihrer Verzweiflung versuchten 150 Kommunen in 2003 schließlich über waghalsige Zinswetten und -spekulationen per Leasing-Geschäfte („Cross-Border-Leasing“ als Steuerdeal mit amerikanischen Konzernen) die kommunale Infrastruktur zu Geld zu machen, so auch die Städte Recklinghausen und Marl.

In der Stadt Recklinghausen hat man sogar das gesamte städtische Abwasserkanalnetz an amerikanische Firmen verleast, im Rahmen des sogenannten Cross-Border-Leasing. Andere Städte verleasten auch Schulen, Rathäuser, U-Bahnen oder Kläranlagen auf diese Art und Weise. Auch die Müllverbrennungsanlage der AGR in Herten wurde auf diese Weise verleast sowie Einrichtungen des Lippeverbandes und der Emschergenossenschaft in unserer Region.

Mit fragwürdigen Steuertricks wurden dabei vor allem die Makler; Banken und Arrangeure dieses Deals um zig Millionen reicher, während die Kommunen nur einen Bruchteil davon abbekommen – zum „Löcherstopfen“ für ein einziges Haushaltsjahr – dafür aber alle Risiken tragen mussten und sich in jahrzehntelange Abhängigkeiten begaben. Den Stadträten wurden die 700-seitigen kleingedruckten Verträge auf englisch gar nicht erst übersetzt und vorgelegt. Manche Städte in NRW verloren dabei Millionensummen und Kämmerer und Oberbürgermeister mussten sich vor Gericht verantworten. In Duisburg war der Verfasser dieser Zeilen im Juli 2003 eingeladen zu einer Fachtagung des Bildungsverbandes der kommunalen Entsorgungs- und Wasserwirtschaft, zusammen mit den Kämmerern und Leitern der Kommunalverwaltungen und Stadtwerke in NRW, um als Referent von Attac Ruhrgebiet vor den Cross-Border-Deals der Kommunen eindringlich zu warnen.

Die verheerenden Folgen für die städtische Infrastruktur und den sozialen Zusammenhalt

Die Folgen und Auswirkungen der kommunalen Haushaltsmisere wurden allenthalben bis heute schmerzlich sichtbar. Sie wurden vom Verfasser dieser Zeilen bereits in 2004 in der Stadthalle Datteln bei einem Vortrag vor dem DGB drastisch aufgezeigt unter dem Titel. „Kommunale Selbstverwaltung am Ende? Privatisierung öffentlicher Aufgaben“: Öffentliche Gebäude und Schulen verkommen, weil kein Geld für die Renovierung mehr da ist. Viele Straßen mit ihren Schlaglöchern sind bessere Feldwege. Parks verschmutzen und vergammeln, weil wegen der Sparmaßnahmen nicht genügend Personal vorhanden ist.

An der abendlichen Beleuchtung und Sicherheit wird gespart. Sozial- und Kultureinrichtungen sowie Sport- und Freizeiteinrichtungen schließen; von Musikschulen über Bibliotheken und VHS-Angebote sowie Bäder , Theater und Museen, aber auch Kindergärten, Beratungsstellen und soziale Betreuungseinrichtungen. Sogar die Stadtwerke stehen mancherorts zum Verkauf an. In der Stadt Münster konnte das allerdings durch ein Bürgerbegehren verhindert werden. Ein trauriges Kapitel war auch der Verkauf kommunaler Wohnungsbestände der meisten Städte an große kommerzielle Wohnungsbaukonzerne zum Leidwesen der Mieter, was sich heute angesichts der Wohnungsnot und des Mangels an Sozialwohnungen als unverzeihlicher Fehler erweist.

Verhängnisvolle Privatisierung auch im Sozial- und Gesundheitswesen vor Ort

Städtische Altenheime und Sozialwohnungen sowie städtische Krankenhäuser wurden teilweise an ausländische Konzerne verkauft. Die Privatisierung des Gesundheitswesens setzte sich also bei den kommunalen Krankenhäusern und Gesundheitsämtern fort, obwohl das erwiesenermaßen für die Patienten wie für die Beschäftigten ausschließlich zu Nachteilen führt. In Hamburg ist ein Bürgerbegehren durchgeführt worden gegen die geplante Privatisierung der dortigen Krankenhäuser, weil Gesundheit keine Ware ist. in Recklinghausen wurden vor einigen Jahren sogar die städtischen Trauerhallen auf den Friedhöfen kommerzialisiert, damit der Normalsterbliche sich demnächst nicht mal mehr die Bestattung leisten kann nach Fortfall des Sterbegeldes in der Rentenversicherung.

Die Bürgerinnen und Bürger als lästiger Kostenfaktor?

Geburt und Tod sowie Lebenshaltung der Menschen werden unbezahlbar in einem System, das den unrentablen Menschen und seine Versorgung auch auf der kommunalen Ebene nur noch als lästigen Kostenfaktor betrachtet – die Wirtschaft und Verwaltung wird so zum Selbstzweck statt zum Versorgungszweck für die Daseinsfürsorge. Kinderarmut und Sozialhilfeempfänger sind in manchen Stadtteilen auf 30% der Bevölkerung angewachsen; die Schlangen an den Tafeln haben sich verdoppelt; die Altersarmut nimmt zu und trotz Vollbeschäftigung liegt in einigen Stadtteilen die Arbeitslosenquote zeitweilig bei 20%. Dort konzentrieren sich die Verlierer der neoliberalen Politik der sozialen Kälte, deren Grenzen zwischen Arm und Reich mitten durch die Stadtteile und Bevölkerungsgruppen vor Ort reichen - und wo die Rechtspopulisten politische Gewinne erfahren wie z.B. in der Armutsstadt Gelsenkirchen als AfD-Hochburg im Ruhrgebiet.

Regionalkongress und Aktionsbündnis gegen den Ausverkauf der Kommunen

Zusammen mit Gewerkschaftern, Personalräten, dem Netzwerk Attac und besorgten Bürgern hatte der Verfasser dieser Zeilen schon vor 20 Jahren unter anderem einen großen „Regionalkongresse zur Rettung der kommunalen Selbstverwaltung und des Sozialstaates“ federführend initiiert und im Kreishaus Recklinghausen in 2003 mitgestaltet. Unter der Fragestellung: „Droht der Ausverkauf von Staat und Kommunen?“ unterstützten kompetente Referenten wie Prof. Dr. Martin Junkernheinrich, Prof. Dr. Heinz-Joseph Bontrup und Prof. Dr. Maria Mies die gut besuchte Veranstaltung.

Bündnis "Starke Städte im Vest Recklinghausen"

Daraus hat sich ein Aktions-Bündnis gebildet mit dem Titel: „Starke Städte im Vest Recklinghausen“. Ungewöhnliche Bündnispartner haben sich daraufhin erstmalig zusammengefunden, um an einem Strick zu ziehen: Der Landrat und alle 10 Bürgermeister, egal welcher Partei sie angehören, zusammen mit dem DGB und mit der Gewerkschaft ver.di, kommunalen Arbeitgebern, gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden und den Kirchen, zusammen mit den Umweltverbänden und dem globalisierungskritischen Netzwerk von Attac und anderen.

Phantasievolle Aktionswochen: „Städte in Not – Reformen statt Kahlschlag“

Auch die kommunalen Spitzenverbände hatten im November 2003 Jahres erstmalig bundesweite Aktionswochen gemeinsam gestartet mit dem Slogan: „Städte in Not - Reformen statt Kahlschlag“. Der Ernst der Lage wurde also auf allen Ebenen deutlich durch ungewöhnliche gemeinsame Bündnisse, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat. Diese entwickelten phantasievolle Protest-Aktionen: Verwaltungsmitarbeiter in der Stadt Essen beispielsweise demonstrierten mit Wasser und Brot und mit einem Streichkonzert: Sie tauften das Rathaus in „Kassa blanco“ um. Die Auszubildenden der Stadtverwaltung liefen als Sandwich durch die Stadt und zeigten mit vergammelten Straßenschildern und Laternen aus den Museum, was alles auf dem Spiel steht. In einer anderen Stadt wurde in einer Badewanne von Bürgermeistern demonstriert, was alles baden gehen wird, vom öffentlichen Nahverkehr bis zu den maroden Straßen, von Jugend- und Sozialeinrichtungen bis zu den Kultureinrichtungen und öffentlichen Krankenhäusern. Leistungs- und Angebotskürzungen waren längst in vollem Gange.

Kommunen überleben nur durch ehrenamtliches Engagement

„Würden sich nicht 30 bis 40% der Bürgerinnen und Bürger ehrenamtlich und gemeinnützig für ihr kommunales Gemeinwesen engagieren, dann wäre unser kommunales Gemeinschaftsleben längst zusammengebrochen“, so stellte der Verfasser dieser Zeilen im März 2004 bei seinem zuvor erwähnten Vortrag vor dem DGB in der Stadthalle Datteln im März fest. Da aber die meisten Ehrenamtler der Generation 60 plus angehören, kann dies keine zukunftsträchtige Dauerlösung zur Aufrechterhaltung kommunaler Dienstleistungen sein.

Erfolglose Klage gegen das umstrittene Gemeindefinanzierungsgesetz NRW

Im November 2005 hatte der Verfasser dieser Zeilen seitens des Kreispersonalrats Recklinghausen dem damaligen Landrat deshalb umfassende „Ideen, Konzepte und Vorschläge für die Haushalts- und Strukturkommission des Kreistages“ vorgelegt. In 2009 entwarf er zum „Tag des öffentlichen Dienstes“ mit dem Kreispersonalrat eine in den Kreistag eingebrachte Resolution mit einem „7-Punkte-Appell - Zur finanziellen Notlage des Kreises: Situationsanalyse und Wege aus der Krise“. Zuvor in 2008 hatte er in einem Zeitungsinterview zusammen mit der regionalen ver.di-Geschäftsführung die zehn Bürgermeister im Kreis aufgefordert, eine Klage gegen das umstrittene Gemeindefinanzierungsgesetz der schwarz-gelben Landesregierung NRW endlich auf den Weg zu bringen, um das „Ausbluten der Städte“ zu verhindern.

Doch der NRW-Verfassungsgerichtshof hatte die daraufhin eingereichte Klage des Kreises Recklinghausen zur Enttäuschung der Kommunen zurückgewiesen. Bereits in 2006 hatten die Kommunen in NRW eine Verfassungsbeschwerde gegen ihre Unterfinanzierung (erfolglos) eingereicht und 2009 gegen das Gemeindefinanzierungs-Gesetz erneut aufbegehrt. Denn die überzogenen Sparzwänge sind eigentlich ein glatter Verstoß gegen das Sozialstaatsgebot unseres 75-jährigen Grundgesetzes, weil die Kommunen als die unterste tragende Säule des Sozialstaates die soziale Infrastruktur vor Ort zu gewährleisten haben, aber nicht mehr bezahlen können.

Überregionale und nationale Bündnisse - „Öffentliche Güter unter Druck“

Zwischenzeitlich hatten sich auch in der Bürgerschaft soziale Bündnisse und Sozialforen gebildet, so auch im Kreis Recklinghausen und auf Landesebene in NRW, aber auch bundesweit. Im Mai 2004 wurde von der Gewerkschaft ver.di ein entsprechendes Bündnis auch auf nationaler Ebene angestoßen, wo der Verfasser dieser Zeilen auf dem Podium in Berlin mitwirken durfte zum Thema des Ausverkaufs der Städte und Gemeinden und deren Zukunftsperspektiven. Zuvor hielt er im Januar 2004 einen Vortrag im Hoftheater Wiesbaden auf einer Attac-Veranstaltung zum Thema: „Kommunale Selbstverwaltung am Ende? Privatisierung öffentlicher Aufgaben“.

Auf dem so genannten „Perspektiven-Kongress“ in Berlin 2004 mit 2.000 Teilnehmenden referierte er für die Gewerkschaft ver.di über das Thema „Öffentliche Güter unter Druck – Privatisierung von Politik und Erosion von Demokratie“, zusammen mit dem Vertreter des Europäischen Verbandes der kommunalen Unternehmen und den Gewerkschaftsvorsitzenden aus Österreich und der Schweiz sowie mit Wissenschaftlern der Universität Kassel und einer EU-Abgeordneten. Von diesem Kongress gingen anschließend viele Initiativen und Bündnisse aus.

Phantasievolle Protestaktionen der Bürgermeister und Verwaltungbeschäftigten

Aus den genannten Bündnissen heraus entwickelten sich phantasievolle Proteste, wie zuvor beschrieben: Verwaltungsmitarbeiter in der Stadt Essen beispielsweise demonstrierten mit Wasser und Brot und mit einem Streichkonzert: Sie tauften das Rathaus in „Kassa blanco“ um. Die Auszubildenden der Stadtverwaltung liefen als Sandwich durch die Stadt und zeigten mit vergammelten Straßenschildern und Laternen aus den Museum, was alles auf dem Spiel steht. In einer anderen Stadt wurde von Bürgermeistern in einer Badewanne demonstriert, was alles baden gehen wird, vom öffentlichen Nahverkehr bis zu den maroden Straßen, von Jugend- und Sozialeinrichtungen bis zu den Kultureinrichtungen und öffentlichen Krankenhäusern. Leistungs- und Angebotskürzungen waren längst in vollem Gange.

Zwischenzeitlich hatten sich auch in der Bürgerschaft soziale Bündnisse und Sozialforen gebildet, so auch im Kreis Recklinghausen (wo der Verfasser dieser Zeilen die Gründungsversammlung des regionalen Sozialforums moderierte) und auf Landesebene in NRW sowie das zuvor bereits erwähnte Bündnis auf nationaler Ebene im Mai 2004.

Aktion zur kommunale Finanzmisere: „Weiter so war gestern: Umdenken, handeln jetzt!“

Im Mai 2010 hatten deshalb die Personalräte des Kreises Recklinghausen und der 10 kreisangehörigen Städte sowie der gesamten Ruhrgebietsstädte - zusammen mit den Bürgermeistern aus dem Kreis Recklinghausen und dem ver.di-Bundesvorsitzenden sowie dem Landesvorsitzenden des Beamtenbundes - im Ruhrfestspielzelt Recklinghausen zu einer großen interkommunalen Veranstaltung mit rund 1.000 Teilnehmern geladen, unterstützt vom Intendanten der Ruhrfestspiele . Das Motto: „Zur kommunalen Finanzmisere: Weiter so war gestern: Umdenken, handeln jetzt!“

Der Verfasser dieser Zeilen hielt dort als Initiator die Begrüßungs- und Eröffnungsrede und stellte eingangs fest: „Unsere Städte stehen - ohne Übertreibung - vor dem Ruin, trotz 25 Jahre Haushaltskonsolidierung. Uns allen steht zu diesem Jubiläum das Wasser bis zum Hals: Die Rücklagen sind aufgebraucht, die Schulden steigen ins Uferlose, die Sozialhilfekosten explodieren,die Steuereinnahmen sinken dramatisch, und mit der bevorstehenden bilanziellen Überschuldung droht der Bankrott und Kollaps.“

„Stärkungspakt Stadtfinanzen“: Nur vorübergehende Entschuldung der Kommunen in NRW

Nachdem die Kommunen in NRW Ende 2011 mit insgesamt fast 45 Mrd. € verschulde waren, davon fast 26 Mrd. € Kassenkredite (Dispokredite), beschloss der Landtag NRW den so genannten „Stärkungspakt Stadtfinanzen“. Den von Überschuldung bedrohten 34 Kommunen wurden für einen Zehnjahreszeitraum bis 2020 knapp 6 Mrd. € bzw. 350 Mio. € jährlich zur Verfügung gestellt, damit sie ihren Haushalt unter strenger Aufsicht radikal konsolidieren, um einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. In einer zweiten Stufe wurden ab 2012 weitere 27 Kommunen in den Pakt einbezogen und insgesamt weitere 2,35 Mrd. € für den Zeitraum bis 2014 bereitgestellt, damit sie bis 2016 den Haushaltsausgleich herstellen. Dafür mussten die nicht überschuldeten Kommunen eine Solidaritätsumlage („Kommunalsoli“) zahlen.

Mit dem „Stärkungspakt“ wurde zwar ein neues Kapitel in der Konsolidierung der kommunalen haushalte in NRW aufgeschlagen. Erstmals hatte eine Landesregierung eingestanden, dass der Schuldenberg, den die Städte und Gemeinden über die Jahre anhäuften, von diesen ihnen nicht allein abzutragen ist. Inzwischen stehen aber viele Kommunen wieder vor der gleichen Situation wie vor dem Stärkungspakt, weil die notorische Unterfinanzierung sowie die Abwälzung von Kosten der Landes- und Bundespolitik auf die Kommunen weiter zunahm. Eine nachhaltige Finanzierung der kommunalen Aufgaben ist weiterhin nur unzureichend in Sicht. Mit dem Stärkungspakt reduzierten die 61 finanzschwachen Kommunen zwar ihren Fehlbetrag von über 2 Mrd. € auf 86 Mio. € im Jahr, doch bei Zweidrittel der Kommunen sorgte der Stärkungspakt nicht für nachhaltige Finanzen und sie konnten ihren Schuldendienst nur unzureichend abdecken.

Wachsende Staatsverschuldung führt zur Verarmung der Städte und Gemeinden

„Im öffentlichen Leben macht sich die wachsende Staatsverschuldung in erster Linie in der Verarmung der Städte und Gemeinden bemerkbar,“ schrieb der Verfasser dieser Zeilen bereits in 2011 in zwei Publikationen: Nur 8 von 400 Kommunen in NRW hatten zu der Zeit noch ausgeglichene kommunale Haushalte, alle übrigen trugen bereits in 2011 – wegen des staatlichen Verzichts auf Einnahmen statt einer sozial gerechten Steuerpolitik – zusammen eine Steuerlast von 53 Mrd. Euro; (das ist soviel, wie Bill Gates besitzt).

Besonders hart traf es Ruhrgebietsstädte wie Oberhausen oder Hagen, die bereits bilanziell überschuldet waren (d.h. ihre Schulden übersteigen ihr Vermögen), aber vor allem auch die Städte in der Armutsregion des nördlichen Ruhrgebiets: Der Kreis Recklinghausen und seine zehn Städte waren bei 2,4 Mrd. Euro Schulden angelangt. Die meisten Ruhrgebietsstädte drohte zwischen 2011 und 2015 das Abrutschen in die bilanzielle Überschuldung und damit faktisch in die Insolvenz. Dann waren sie zur Handlungsunfähigkeit verdammt, ihre von der Bürgerschaft gewählten demokratischen Räte hatten fast nichts mehr zu entscheiden oder politisch zu gestalten – sie können nur noch den Mangel verwalten.

Haushaltskonsolidierungen führten nur vorübergehend zu ausgeglichenen Haushalten

Es begann die Ära der Haushaltskonsolidierungen unter strenger Kommunalaufsicht, um öffentliche Schulden (als strukturelles Defizit) zu verringern bis zum ausgeglichenen Haushalt. Doch Landes- und bundesweit sieht es auch heute in fast allen anderen Regionen und Gemeinden wieder nicht sehr viel besser aus, wie der Städtetag und andere seit Jahren unermüdlich, aber erfolglos beklagen. Die Hauptlast für die Städte stellen die Sozialkosten dar, die Bund und Land verfassungswidrig auf die Kommunen abwälzen; diese Lasten steigen jährlich, statt dass die Kommunen entlastet werden oder Ausgleichszahlungen erhalten. Das überfordert die örtlichen Solidargemeinschaften.

Steigender Militär- und Rüstungshaushalt wird Kommunalfinanzen weiter gefährden

Die aktuell angekündigten Ausgaben-Verlagerungen des Bundes auf den drastisch steigenden Rüstungs- und Militärhaushalt lassen eine weitere Verschlechterung der Finanzausstattung der Kommunen sowie im Sozialhaushalt befürchten. Obwohl sich die Bürgermeister von fast 850 Städten in Deutschland der Initiative für atomare Abrüstung („Mayors for Peace“) angeschlossen haben, wird von Bundespolitikern fast aller Parteien sogar die atomare Bewaffnung und Teilhabe Deutschlands ernsthaft in die Diskussion gebracht, so dass dafür wohl weitere Finanzmittel den Kommunen zwangsläufig entzogen werden, die dafür aber umso mehr in den zivilen Bevölkerungsschutz vor Ort investieren sollen. Ein Aufschrei aus den Kommunen und ihrem atomaren Abrüstungsbündnis der Bürgermeister ist bislang ausgeblieben. Die Rechnung folgt demnächst?

Lässt man diese dramatische Fehlentwicklung der letzten 25 Jahre Revue passieren, dann ist festzustellen, dass die Probleme nicht naturgesetzlich oder unvermeidbar auf die Kommunen hereingebrochen sind, sondern politisch gewolltes Ergebnis neoliberal geprägter ideologischer Politik ist, zu der es durchaus politische Alternativen gäbe. Der Verfasser dieser Zeilen hat bereits seit 25 Jahren zahlreiche Artikel über die sich zuspitzende Finanzproblematik unserer Kommunen und ihre Ursachen, Zusammenhänge und Folgen veröffentlicht, wie hier zuvor erwähnt. In seinen zahlreichen Vorträgen und Veranstaltungen in den 10 Jahren von 2003 bis 2013 in Ruhrgebietsstädten, aber auch bundesweit (z.B. in Berlin, Stuttgart, Köln, Wuppertal oder Wiesbaden sowie in Ruhrgebietsstädten wie Duisburg, Recklinghausen, Herten, Marl Datteln u. a.), waren seine Warnungen vor dem kommunalen Niedergang und vor allem Alternativen zur Problemlösung sein Thema, etwa mit der Fragestellung „Kommunale Selbstverwaltung am Ende?“.

Für die Würde unserer Städte und ihrer Menschen

Wenn nun die besorgten Bürgermeister und Kommunalpolitiker, aber auch die Stadtbewohner für die Würde unserer Städte und ihrer Menschen nachdrücklich eintreten, dann sollte sich sowohl die Landespolitik in NRW in Richtung „Altschuldenregelung“ bewegen als auch die Bundesregierung und der Bundestag die ideologische Haltung zur „Schuldenbremse“ überdenken. Der aktuelle Ruf aus FDP und CDU sowie neoliberalen Wirtschaftsinstituten nach Einfrieren oder Zurückfahren von Sozialleistungen zugunsten des drastisch steigenden Militärhaushaltes würde nicht nicht nur den politischen Rechtstrend bei den sozialen Verlieren verstärken, sondern auch das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes in Frage stellen.

Ist jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Einschränkung des Sozialetats angesichts einer seit 30 Jahren ungebrochen steigenden Kinderarmut, einer zunehmenden Altersarmut für fast die Hälfte der Rentnerinnen und Rentner, prekären Beschäftigungsverhältnissen mit Niedriglöhnen, gleichzeitig zunehmenden Flüchtlingszahlen sowie der Verdoppelung der Zahl der Tafelbesucher bei der Armenspeisung und der Wohnungs- und Obdachlosen wegen der steigenden Wohnungsnot bei fehlenden Sozialwohnungen. Die Kommunen vor Ort würden die Folgen dieser von sozialer Kälte geprägten Bundespolitik nicht auffangen können und rufen deshalb im 75. Jubiläumsjahr unseres Grundgesetzes in Erinnerung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Wilhelm Neurohr, 26. Februar2024