Wilhelm Neurohr

Leserbrief/Kommentar:

„Die Wahlniederlage der Seitenwechsler“

Kein Verhaltenskodex für Spitzenpolitiker?

Wenn die SPD nicht nur in Thüringen, sondern demnächst bundesweit auf 8,2% in der Wählergunst einstellig absackt, dann hat sie dies auch ihrem einstigen Parteichef Sigmar Gabriel und weiteren ehemaligen SPD-Spitzenpolitikern zu verdanken, die sich zu Dutzenden schamlos als Wirtschaftslobbyisten betätigen. Da hilft das redliche Bemühen der Basis um einen glaubwürdigen neuen Parteivorstand und eine neue politische Ausrichtung recht wenig, wenn sie die Kandidaturen und Postenvergabe nicht an einen verbindlichen Verhaltenskodex knüpft.

Der ehemalige SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel hatte noch im vorigen Jahr gelobt, nicht in die Wirtschaft als Lobbyist zu wechseln, mit den Worten: „Man soll nicht an Türen klopfen, hinter denen man selbst gesessen hat“. Doch was stört ihn sein „Geschwätz von gestern?“ Kurz darauf war er für Siemens-Alstom im Verwaltungsrat tätig.

Jetzt ist er ausgerechnet als Spitzenlobbyist der in Verruf geratenen Autoindustrie Im Gespräch, was er nur halbherzig dementierte, nämlich für den gut dotierten Chefposten des VDA, dem wohl einflussreichsten Lobbyverband der Autobranche in Deutschland. Zuvor war Gabriel bereits dem CDU-Politiker Friedrich Merz als Vorsitzender der deutsch-amerikanischen „Atlantikbrücke“ nachgefolgt, der unter anderen auch zahlreiche Unternehmer, Bankiers und Rüstungslobbyisten angehören.

Schon seit langem beobachten wir als Wähler den Seitenwechsel von SPD-Spitzenpolitiken als hochbezahlte Lobbyisten, denn nicht nur der ehemalige Vizekanzler Gabriel, sondern auch Ex-Kanzler Gerhard Schröder gehört ja bekanntlich zu den schamlosesten Seitenwechslern. Weithin bekannt sind ja seine Lobbytätigkeiten für die Nordstream AG/Gazprom, für den russischen Ölkonzern Rosneft, beim Ölkonzern TNK-BP, beim RAG-Konzern sowie für die Schweizer Verlagsgrupe Ringier. Weniger bekannt ist sein mehrjährige Beratertätigkeit für die Investment-Bank Rothschild.

Auch SPD-Ministerpräsidenten als Seitenwechsler

Ein Blick in die Veröffentlichungen der lobbykritischen zivilgesellschaftlichen Organisationen (Lobbycontrol, Lobbypedia oder Transparency International) erinnert uns daran, dass allein in den letzten 5 Jahren weitere 15 Spitzenpolitiker und Staatssekretäre der SPD in lukrative Lobbyfunktionen gewechselt haben. Darunter die ehemalige Ministerpräsidentin von NRW, Hannelore Kraft in den Aufsichtsrat des RAG-Konzerns, oder ihr SPD-Wirtschaftsminister Darelt Guin in den Vorstand von Thyssen-Krupp. Der vorherige NRW-Ministerpräsident und gescheiterte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück berät die ING DiBA Bank.

Sein Vorgänger als SPD-Ministerpräsident in NRW, Wolfgang Clement, ehemaliger Bundeswirtschafts- und Arbeitsminister, ist seit Jahren für ein Dutzend Unternehmen als Lobbyist im Einsatz, von der RWE bis zu Versatel, Wohnungsbau- und Investmentgesellschaften etc. Er gehört nach seinem SPD-Austritt dem FDP-Wirtschaftsforum an. Zugleich ist er Repräsentant der neoliberalen Unternehmerlobby namens "Iniatitive Neue soziale Marktwirtschaft", (zusammen mit dem CDU-PolitikerFriedrich Merz vom weltweit größten Vermögensverwalter BlackRock als "Schattenbank" sowie als Aufsichtsrat des Bankhauses Bankhauses HSCB Trinkaus & Burkhardt, gegen das die Staatsanwaltschaft Düsseldorf wegen Cum-Ex-Geschäften ermittelt).

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen: Der frühere Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und ehemalige SPD-Bundesvorsitzende Kurt Beck ging als Berater zum Pharmakonzern Boheringer-Ingelheim. Der ehemalige SPD-Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Thorsten Albig ist nun Lobbyist für die DHL-Gruppe in Brüssel. Der frühere saarländische SPD-Ministerpräsident Reinhard Klimmt wurde Beauftragter des Bahnvorstandes. Der vorläufige Sieger der SPD-Kandidatenkür für den Parteivorsitz, Olaf Scholz, seines Zeichens Vizekanzler und stellvertretender SPD-Bundesvorsitzender, holte einen Spitzenmanager der zwielichtigen Investment-Bank Goldman-Sachs als Staatssekretär in sein Finanzministerium. (Es können Wetten angenommen werden, dass Olaf Scholz nach seiner politischen Karriere in die Wirtschaft wechselt...)

Die Tatsache, dass von der CDU, CSU und FDP noch weitaus mehr Politiker als Lobbyisten die Seite gewechselt haben als von der SPD, macht das Dilemma für die SPD nicht besser. Sie befindet sich in schlechter Gesellschaft: So wechselte z.B. Ex-NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) zur Anwaltskanzlei Beiten Burkhard, oder der ehemalige hessische Ministerpräsiden Roland Koch als Vorstandschef zum Baukonzern Bilfiger Berger und Aufsichtsrat bei UBS, der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus zum Pharma-Konzern Merck, der thürinigische Ex-Ministerpräsident Dieter Althaus zum Autozulieferer Magnus International, der frühere bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber zur Nürnberger Verscherungsgruppe und zu Pro Sieben SAT 1 Media AG.

Eine insgesamt dreistellige Zahl von Landes- und Bundesministern der CDU, SPD und FDP und auch der Grünen wechselten ebenfalls in den zurückliegenden Jahrzehnten als Lobbyisten in die Wirtschaft, einige sogar sogar als Cheflobbyisten der Rüstungsindustrie. Die Glaubwürdigkeit der Parteipolitiker ehemaliger Volksparteien in der viel beschworenen „politischen Mitte“ ist endgültig dahin. Sie befördern damit die Politik- und Parteiverdrossenheit sowie den Rechtspopulismus, den sie anschließend scheinheilig beklagen.

Auch Parteien sind sterblich und nicht für die Ewigkeit geschaffen

Dass unsere „Volksparteien“ und deren "Volksvertreter" trotz ihrer ausufernden Lobbyhörigkeit uneigennützig die Interessen ihrer Wähler und der Bürgerschaft vertreten, nimmt ihnen kaum noch jemand ab, das werden die nächsten Wahlen zeigen. Wer selber Millionen als Lobbyist scheffelt und Interessenpolitik für Unternehmen betreibt, wird wohl kaum die ungebremst auseinanderdriftende Schere zwischen Arm und Reich politisch bremsen und die Bedürfnisse des abgehängten Teils der Bevölkerung zu seinem Herzensanliegen machen.

Damit hat sich die SPD (mit ihrem fehlenden Verhaltenskodex für Mandatsträger und Spitzenfunktionäre) im Parteienspektrum überflüssig und unwählbar gemacht. Sie unterschätzt das Langzeitgedächtnis ihrer einstigen Wähler, Anhänger und ihrer zahlreich ausgetretenen Mitglieder. Sie muss als älteste Partei die bittere Erfahrung machen: Auch Parteien sind sterblich und nicht für die Ewigkeit geschaffen...

Wilhelm Neurohr