Wilhelm Neurohr

Leserbrief:

„Aufrüstungsweltmeister Deutschland“

Es ist ein Trauerspiel: Lebenswichtige Nachrichten und Themen gehen in der Medienlandschaft derzeit unter, weil rund um die Uhr auf allen Kanälen und Zeitungsseiten nur noch das Ein-Themen-Programm Corona abgespult wird. Alles andere gerät in den Hintergrund. Dabei ist eine andere bedrohliche Entwicklung viel gesundheits-und lebensgefährdender für die Menschheit, wie eine kaum beachtete Mitteilung des renommierten schwedischen Friedensforschungsinstituts Sipri vom 27. April belegt: Danach sind aktuell die weltweiten Rüstungsausgaben so stark angestiegen wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr, nämlich um 7,2 Prozent oder fast 2 Billionen Dollar – das sind 2.400 Dollar pro Kopf der Erdbevölkerung. Rechnet man die Folgekosten der militärischen Gewaltkonflikte hinzu – denn die produzierten Waffen werden ja auch eingesetzt – so betragen laut Uno die Ausgaben weltweit fast 15 Bio. Dollar.

Besonders erschreckend: Die Rekordausgaben entfallen dabei auf den „Aufrüstungsweltmeister“ Deutschland mit einer Steigerung von 10 Prozent auf fast 50 Mrd. Dollar oder 46 Mrd. Euro – doppelt so hoch wie der gesamteuropäische Durchschnitt von 5 Prozent. Damit ist Deutschland führend in Westeuropa beim Wachstum der Militärausgaben und rückt beim Rüstungswettlauf im Ranking um zwei Plätze nach vorn. Kein Staat unter den Top 15 auf der Sipri-Liste verzeichnet ein solches prozentuales Wachstum. Und alle 29 Nato-Staaten zusammen gaben im Vorjahr mit 1.035 Mrd. Dollar das 16-fache für das Militär aus als Russland, das man sich als „Feindbild“ auserkoren hat. Dazu treibt man auch die atomare Aufrüstung in Europa voran, entgegen dem unterzeichneten Atomwaffensperrvertrag und dem Mehrheitswillen der Bevölkerung.

Gegen den zunehmenden und kostspieligen Rüstungswahnsinn der Deutschen und der Europäer gab es nur verhaltene Kritik aus der Opposition, von den Linken und den Grünen. Die große Koalition mitsamt der SPD schwieg dazu und war heilfroh, dass Corona vom Rüstungsskandal ablenkte. Nur ein winziger Bruchteil an Geldern wird demgegenüber für Entwicklungshilfe, Armutsbekämpfung, Flüchtlingsbetreuung oder Klimaschutz ausgegeben. Für lächerliche 240 Mrd. Dollar jährlich ließe sich weltweit der Hunger ausrotten. Und die Finanzierung der Milliarden und Billionen Euro für die Folgenbewältigung der Corona-Krise stehen einer gleichzeitigen Steigerung der Militärausgaben eigentlich entgegen, für die jeder deutsche Bundesbürger in 2020 ca. 13% seiner Steuerzahlungen aufbringen muss. Somit werden 6 Wochen lang unsere Steuern nur für Rüstung und Militär einbehalten, für die wir arbeiten gehen.

Ist dieser Wahnsinn allein mit dem erfolgreichen Einfluss der Rüstungslobby zu erklären oder mit dem völlig irrationalen militärischen Feindbild, wonach wir uns damit vor einem angeblich zu befürchtenden „Überfall Russlands auf Europa“ (mit dem 16-fachen Rüstungspotenzial gegenüber Russland) wappnen müssen? Am bevorstehenden 8. Mai werden wir an das Ende des 2. Weltkrieges vor 75 Jahren mitsamt der Befreiung von der Nazi-Diktatur erinnert, aber auch an die Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz durch die Rote Armee. Eingedenk dessen wird die russische Zivilbevölkerung – von denen bis zu 16 Mio. Menschen durch deutsches Militär im 2. Weltkrieg mit deutschen Waffen umgebracht wurden – nicht begreifen, warum wir wieder (zum dritten Mal) gegen Russland als Feindbild aufrüsten wie ein Weltmeister, während die Welt ganz andere Probleme hat. Haben wir aus Corona und aus zwei Weltkriegen nichts gelernt?

Wilhelm Neurohr