Wilhelm Neurohr

Im öffentlichen Leben macht sich die wachsende Staatsverschuldung in erster Linie in der Verarmung der Städte und Gemeinden bemerkbar.

Nur 8 von 400 Kommunen in NRW haben noch ausgeglichene kommunale Haushalte, alle übrigen tragen – wegen des staatlichen Verzichts auf Einnahmen statt einer sozial gerechten Steuerpolitik – zusammen eine Steuerlast von 53 Mrd. Euro; das ist soviel, wie Bill Gates besitzt.
Besonders hart trifft es Ruhrgebietsstädte wie Oberhausen oder Hagen, die bereits bilanziell überschuldet sind (d.h. ihre Schulden übersteigen ihr Vermögen), aber vor allem auch die Städte in der Armutsregion des nördlichen Ruhrgebiets: Der Kreis Recklinghausen und seine zehn Städte sind aktuell bei 2,4 Mrd. Euro Schulden angelangt. Die meisten Ruhrgebietsstädte werden zwischen 2011 und 2015 in die bilanzielle Überschuldung rutschen, und damit faktisch in die Insolvenz. Dann sind sie zur Handlungsunfähigkeit verdammt, ihre von der Bürgerschaft gewählten demokratischen Räte haben fast nichts mehr zu entscheiden oder politisch zu gestalten – sie können nur noch den Mangel verwalten.
Landes- und bundesweit sieht es in fast allen anderen Regionen und Gemeinden nicht sehr viel besser aus, wie der Städtetag und Andere seit Jahrzehnten unermüdlich, aber erfolglos beklagen. Die von Finanzminister Schäuble im vorigen Jahr berufene Gemeindefinanzrefomkommission hat bislang ihre Schularbeiten nicht gemacht, denn der Koalitionspartner FDP will weiterhin «Privat vor Staat».

Die Hauptlast für die Städte stellen die Sozialkosten dar, die Bund und Land verfassungswidrig auf die Kommunen abwälzen; diese Lasten steigen jährlich, statt dass die Kommunen entlastet werden oder Ausgleichszahlungen erhalten. Das überfordert die örtlichen Solidargemeinschaften.

Rot-Grünes Erbe

Der Abstieg der Kommunen begann 1999 mit der rot-grünen Steuerreform von Hans Eichel und gipfelte im rot-grünen Zwang zu PPP-Modellen als Instrument privater Kommunalfinanzierung.

Eichels Steuerreform von 1999 war das «größte Sparpaket in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland»: Der Spitzensteuersatz von einstmals 56% wurde auf nur noch 42% abgesenkt, die Körperschaftssteuer von 40% auf 25% gesenkt, die Geringverdiener zugunsten der Spitzenverdiener um 35 Mrd. DM belastet. Städte wie Gelsenkirchen mussten ortsansässigen Großkonzernen (wie Veba-Öl) dreistellige Steuermillionen zurückzahlen, statt Steuern von ihnen einzunehmen.

Hinzu kamen die unsägliche Agenda 2010 und das Hartz-IV-Paket. Fortan ging es mit den Kommunalfinanzen rasant bergab, der vom damaligen Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement versprochene Kostenausgleich blieb aus. Später kam die Finanz- und Bankenkrise verschlimmernd hinzu, denn die Banken und nicht die Kommunen wurden für «systemrelevant» erklärt. Den Kommunen wurden weitere Geldzuweisungen für die Erfüllung ihrer Aufgaben vorenthalten, zugunsten der privaten Kapitalanleger.

PPP – eine Partnerschaft?

Die aktuellen Versprechungen der rot-grünen Landesregierung in NRW, die inzwischen zahlungsunfähigen Kommunen ab 2011 finanziell zu entlasten und Entschuldungshilfen zu gewähren, sind ein Tropfen auf dem heißen Stein – und selbst der ist nicht getröpfelt, nachdem die schwarz-gelbe Opposition im Landtag den Landeshaushalt über eine Klage ausgebremst hat.

Statt der versprochenen Finanzhilfen für die Kommunen und ihre wirksame Entschuldung in absehbarer Zeit durch verbesserte steuerliche Einnahmen und einen gerechteren Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden wollen SPD und CDU nun im beiderseitigen Einvernehmen PPP (oder ÖPP – öffentlich-private Partnerschaft) zum neuen Finanzierungs- und Investitionsinstrument der Kommunen machen.

Als Alternative zur normalen kommunalen Haushaltsbeschaffung sollen die Kommunen frisches Kapital bei den Privaten aufnehmen. Das Ganze lief zunächst (unter der Regierung Rüttgers) als ministerielles Beratungsangebot, unter der Regierung Kraft läuft es verpflichtend. Im Finanzministerium ist seit langem eine PPP-Task-Force eingerichtet, die die private Wirtschaft und die öffentliche Hand miteinander verquicken soll; Lobbyvertreter gehen dort ein und aus.

Die EU erwägt das Gleiche und droht, ohne PPP-Modelle den klammen Kommunen keine Fördermittel mehr zu genehmigen. PPP wird zur Genehmigungsvoraussetzung! Cheflobbyist des bundesweiten PPP-Netzwerks ist Peer Steinbrück, seinerzeit schmählich abgewählter SPD-Ministerpräsident von NRW und Ex-Finanzminister, der sich jüngst selbst als Kanzlerkandidat der SPD ins Gespräch gebracht hat. Vor Ort kann er sich auf ein Netz von Kommunalberatern verlassen wie den Recklinghäuser Ex-Landrat und Ex-Bürgermeister sowie Ex-MdB Jochen Welt.

Das ganze Projekt stammt noch aus der rot-grünen Regierungsära Schröder und hat sich in der großen Koalition und in Arbeitskreisen des Bundestags fortgesetzt. Mittlerweile ist es in den Bundes- und Landesministerien angekommen und etabliert.

Die Rechtsgrundlagen wurden seinerzeit von Lobbyisten in den Bundesministerien ausgearbeitet; der dafür kritisierte Gerhard Schröder konterte damals, Politik stehe im Dienste der Wirtschaft und umgekehrt – «ein normaler Vorgang der Zusammenarbeit». Damit war ein weiterer Grundstein gelegt für den Ausverkauf der Kommunen.

Armut wird gemacht

Ganze Regionen und Generationen wurden und werden durch die kommunale Haushaltsmisere seit nunmehr über 20 Jahren von Entwicklungschancen und gleichwertigen Lebensverhältnissen ausgegrenzt. Die Städte verelenden, ihre Lebensqualität schwindet rasant. Trotz Wirtschaftswachstum, sprudelnden Steuereinnahmen und angeblich sinkenden Arbeitslosenzahlen (durch Anstieg prekärer Beschäftigungsverhältnisse und statistische Manipulationen) wird die untere, aber wichtigste Ebene des Sozialstaats in die Insolvenz gezwungen. Mit den hoffnungslos überschuldeten, weil unterfinanzierten, Kommunen aber steht und fällt die örtliche Daseinsvorsorge.

Auch die finanziellen Rücklagen, die eisernen Reserven, sind restlos aufgebraucht. Das kommunale «Tafelsilber» ist längst weg, und mit ihm fehlen die Vermögenswerte. Damit wird die bilanzielle Überschuldung der Kommunen beschleunigt. Diese können (und sollen) ihre sozialstaatlichen Gemeinschaftsaufgaben vor Ort nicht mehr wahrnehmen.

Der Abbau des Sozialstaats auf der untersten Ebene ist politisch gewollt und nicht allein Resultat des Unvermögens der heutigen Politikergeneration. Denn er ist Ergebnis der Umverteilungspolitik zugunsten der Reichen. Seit 2009 sind die Privatvermögen in den Händen einiger Weniger um 240 Mrd. Euro gestiegen, im Gegenzug sind die Schulden um 458 Mrd. Euro gewachsen.

In den letzten 20 Jahren haben sich die Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden verdreifacht, weil auf auskömmliche staatliche und kommunale Steuereinnahmen verzichtet wird. Die öffentliche Armut ist die Kehrseite des privaten Reichtums.

Im reichsten Land Europas reduzieren sich die örtlichen Aktivitäten der Kommunen inzwischen auf die Unterstützung von Suppenküchen und Kleiderkammern, auf Diskussionen pro und contra Sozialticket für Hartz-IV-Beziehende, auf das Abschalten der Straßenbeleuchtung, das provisorische Flicken von Schlaglöchern auf Gemeindestraßen und Dauerschäden an maroden Schulgebäuden, auf den Ausverkauf städtischer Sozialwohnungen, die «sozialverträgliche» Schließung von Sozialeinrichtungen und Kulturstätten, die Ausdünnung des öffentlichen Nahverkehrs, aber auch drastische Gebührenerhöhungen für die Bürger zuzüglich Sexsteuer für Bordellbesucher.

Die aussichtslose «Haushaltssanierung» wird flankiert von Lohnkürzungen und Lohnverzicht, Weihnachtsgeldstreichung und Beförderungsstopp für die Beschäftigten in den Kommunalverwaltungen – längst müssen sie einen zweistelligen Lohnrückstand gegenüber den Industriebranchen verschmerzen. Viele Kommunen können seit Jahren nicht einmal mehr die reduzierten Gehälter ihrer verbliebenen Beschäftigten bezahlen und regeln dies über Kassenkredite (Dispokredite).

Auch der Solidarbeitrag Ost für die dort inzwischen viel reicheren Kommunen wird von den Ruhrgebietsstädten über Dispo finanziert. Die Kassenkredite aller Kommunen in NRW zusammengenommen belaufen sich auf 23 Mrd. Euro. Manche Kommunen haben sich in ihrer Verzweiflung auf abenteuerliche PPP-Modelle, fragwürdige Cross-Border-Leasing-Geschäfte oder Zinsspekulationen eingelassen – und dabei Millionenbeträge verspekuliert.

Privat kauft Staat

Die überschuldeten Kommunen werden über die Kommunalaufsicht und die Gemeindeprüfanstalt NRW (an deren Spitze ein FDP-Politiker steht) unter ein betriebswirtschaftliches Diktat gestellt (genannt «neues kommunales Finanzmanagement» oder «neue Steuerung»). Unter diesem Regime werden lukrative Bereiche kommerzialisiert und öffentliche Güter ausverkauft oder «outgesourcet». Eine doppelte Buchführung anstelle der Kameralistik soll die Verlust- und Gewinnbereiche sichtbar machen.

So lauten jedenfalls die Ratschläge der Kommunalberater der Bertelsmann-Stiftung und anderer Unternehmensberater. Beispiel: Die Bertelsmann-Tochter Arvato hat der Stadt Würzburg geraten, ihr Rathaus nach dem Vorbild der englischen Grafschaft Yorkshire privat zu betreiben und 300 Stellen abzubauen. Das Modell ist kläglich gescheitert, aber Bertelsmann träumt weiter von der feindlichen (privaten) Übernahme kommunaler (auch hoheitlicher) Dienstleistungen.

Ein weiteres Angriffsfeld ist das E-Government, die elektronische Verwaltung über Datennetzwerke. Kommunale Dienstleistungen werden dabei nicht mehr allein vom Personal in den Rathäusern, sondern von teils privaten Dienstleistungszentren erbracht und können von den Kommunen eingekauft werden. Auch dazu gibt es bereits etablierte Netzwerke der Bundes- und Landesministerien mit Lobbyisten. Aus den Abhängigkeiten kommen die Kommunen da kaum noch heraus.

Die kommunale Selbstverwaltung wird auch von der EU und der WTO durch Abkommen unterlaufen, die öffentliche Dienstleistungen zu handelbaren Waren erklären – wie z.B. Wasser. Von der Privatisierung der Wasserversorgung erhofft man sich an den Finanzmärkten Gewinne von 1 Billion Euro, von der Privatisierung des Gesundheitswesens 2 Billionen Euro, von der Kommerzialisierung des Bildungswesens 3,5 Billionen Euro. Über die EU-Dienstleistungsrichtlinie geht es demnächst den Volkshochschulen an den Kragen; sie dürfen gegenüber privaten Anbietern der Erwachsenenbildung nicht mehr subventioniert werden.

Alternativen

Welche Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten gibt es, um aus der kommunalen Schuldenfalle herauszukommen? Im Ruhrgebiet hat sich ein Bündnis aus Kämmerern und Bürgermeistern «Raus aus der Schuldenfalle» gebildet, sie haben Gutachten und Verfassungsklagen auf den Weg gebracht. Auch die betroffene Bürgerschaft ist aufgebracht: In Mülheim an der Ruhr beispielsweise hat ein Bündnis aus Ver.di und Bürgerschaft via Bürgerentscheid die geplante Privatisierung von Altenheimen verhindert; in Stuttgart und Berlin wurde die Wasserprivatisierung verhindert.

Hoffnung geben auch die vielen Aktivitäten der Städte, frühere Privatisierungen wieder rückgängig zu machen, Dienstleistungen und Einrichtungen zu rekommunalisieren. Geradezu erfreulich ist die momentane Welle der Vorbereitungen zur Gründung eigener Stadtwerke, um die kommunale Energieversorgung wieder selber in die Hand zu nehmen.

Was jetzt noch fehlt, sind zivilgesellschaftliche Bündnisse, um die Bürgerschaft für ihre eigenen Belange zu mobilisieren – angefangen bei zaghaften Modellversuchen des «Bürgerhaushalts» mit breiter Beteiligung bis hin zu Aktionen gegen die Schließung von sozialen und kulturellen Einrichtungen und zu alternativen Eigeninitiativen zum Aufbau und zur Erhaltung des soziokulturellen Angebots in den Städten.

Aus: Amos (Marl), Nr.2, 2011. Der Autor ist seit 18 Jahren Personalratsvorsitzender der Kreisverwaltung Recklinghausen und war 21 Jahre als Stadt- und Regionsplaner tätig.