Wilhelm Neurohr

Das weltweite Wettrüsten hat mit Rüstungsausgaben von 1,34 Billionen Dollar eine neue, bedenkliche Dimension erreicht. Dies wurde zum Jahreswechsel durch den verspätet veröffentlichten Rüstungsexportbericht 2008 bekannt und ist historisch noch nie da gewesen. Angesichts der höchsten Rüstungsaktivitäten in der Geschichte der Menschheit besteht Anlass zu allergrößter Besorgnis. Dabei steht ausgerechnet Deutschland als Rüstungsexporteur beim Waffenhandel gleichauf mit China auf Platz Drei in der Welt nach USA und Russland.

Führt die zunehmende Militarisierung des politischen Denkens zwangsläufig auch zu militärischem Handeln – oder sind die jüngsten Abrüstungssignale von Barack Obama und Hilary Clinton aus Amerika und die verlautbarten Abrüstungsforderungen in Europa von Außenminister Steinmeier erste hoffnungsvolle Signale einer politischen Umkehr? Zuvor hatte die „alte Garde“ der ehemaligen Bundespolitiker – Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt, Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Ex- Kanzlerberater Egon Bahr sowie die Ex-Minister Heiner Geißler und Norbert Blüm parteiübergreifend und gemeinschaftlich eine neue Initiative zur Abrüstung insbesondere bei den Atomwaffen eindringlich angeregt. In Deutschland lagern immer noch die letzten US-Atomwaffen aus der Zeit des kalten Krieges, rund 66 Jahre nach Beginn des Atomzeitalters und dem grauenhaften Schatten der Kriegsjahre 1943 bis 1945

Weltweit wurden in 2007 rund 1.339 Mrd. Dollar für Rüstung ausgegeben, das ist ein Anstieg seit 1998 um 45%, wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut ermittelte. Die Zahl der Länder, die ihre Militärausgaben erhöhten, war im Jahr 2007 höher als je zuvor. Alle Abrüstungsabkommen sind seither Makulatur. Allein in Deutschland belaufen sich die Rüstungsausgaben auf 37 Mrd. Dollar, höher als in Russland mit 35,4 Mrd. Dollar. Zehn Prozent der weltweiten Ausfuhr an konventionellen Waffen stammen aus Deutschland. Niemand gebietet der in den vergangenen zehn Jahren gewaltig gewachsenen Rüstung Einhalt, im Gegenteil: Im deutschen Bundeshaushalt für 2009 wurde der Verteidigungsetat gegenüber 2008 trotz Wirtschaftskrise nochmals um 5,6% angehoben, von ca. 29 Mrd. auf 31 Mrd. Euro.

Für Rüstungspolitik wird mehr Geld ausgegeben als für sämtliche Aufgaben von Bildung, Forschung und Kultur, von Gesundheit, Umwelt, Landwirtschaft und Ernährung sowie Verkehr, Städtebau und Wohnen zusammengenommen. Längst werden Menschen in aller Welt, vor allem in Problemländern, mit deutschen Waffen getötet, durch den „Export des Todes“, wie Friedensnobelpreisträger Willy Brandt die Rüstungsexporte bezeichnete. Die Menschenrechtserklärungen erscheinen hohl. Fast 10 Millionen Menschen sind weltweit in der Rüstungsindustrie tagtäglich mit der Herstellung von Waffen zum Töten von Menschen beschäftigt.

Am Grad der Rüstung gemessen, befindet sich die ganze Welt im Krieg, und sei es im weltweiten „Krieg gegen den Terror“ als Vorwand für die militärische Hochrüstung. Die fundamentalistische Einteilung der Menschen in Bürger und Terroristen hat nach Aussagen des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan ein schreckliches „Feuertor aufgestoßen“. Der Widerspruch zwischen den wortreich verkündeten Idealen und den Realitäten ist so groß wie immer in verlogenen Vorkriegszeiten. In der Schlussakte des gescheiterten EU-Verfassungsvertrages war sogar den Staaten bereits das Recht eingeräumt, die Todesstrafe für Taten vorzusehen, „die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden“. Auch war nach dem bisher gültigen „Nizza-Vertrag“ ein eigener EU-Militärhaushalt neben den einzelstaatlichen Rüstungsetats verboten, der nun aber unter dem Druck der Rüstungs- und Militärlobby quasi zugelassen wurde.

Die Chancen für die Wiederbelebung der internationalen Rüstungskontrolle und der Abrüstungspolitik in dieser Hochrüstungsphase sind nicht sehr rosig, obwohl das erste Treffen der amerikanischen Außenministerin Hilary Clinton mit dem russischen Außenminister Anfang März 2009 genau das zum Thema hatte. Zuvor hatte US-Präsident Barrack Obama den Russen Offerten für einen möglichen Verzicht auf die Stationierung der von Bush angekündigten Stationierung von Abwehrraketen in Tschechien unterbreitet, die zunächst von Russland zurückgewiesen wurden.

In Deutschland lagern immer noch die letzten US-Atomwaffen aus der Zeit des kalten Krieges, rund 66 Jahre nach Beginn des Atomzeitalters und dem grauenhaften Schatten der Kriegsjahre 1943 bis 1945.

Waffeneinsätze als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln?

Nach Auslaufen der aktiven Friedens- und Abrüstungspolitik der 70-er und 80-er Jahre ist seit der Jahrhundertwende jedenfalls die militärische Hemmschwelle gesunken und der Wille zu weltweiten bewaffneten Kampfeinsätzen und militärischen Interventionen mit Todesopfern gestiegen. Geschichtlich kam es früher oder später fast immer zum intensiven Einsatz der produzierten Waffen nach dem Hochschrauben von Rüstungsaktivitäten, zumal in wirtschaftlichen Krisenzeiten wie den Gegenwärtigen. Denn „wer zu dem Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen“. Wer in Waffenkategorien denkt, wird auch bewaffnet handeln. Nach Auslaufen der aktiven Friedens- und Abrüstungspolitik der 70-er und 80-er Jahre ist seit der Jahrhundertwende jedenfalls die militärische Hemmschwelle gesunken und der Wille zu weltweiten bewaffneten Kampfeinsätzen und militärischen Interventionen mit Todesopfern gestiegen. Waffeneinsätze und Kriegshandlungen als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sind mittlerweile auch für Deutsche und Europäer als Bündnispartner kein Tabu mehr, soweit moralische oder ideologische Werte oder wirtschaftliche Interessen dafür bemüht werden. Das Erstaunen über die längste Friedensphase unserer europäischen Geschichte gut sechzig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg wirkt seltsam, denn wir leben nicht in Frieden, solange wir als Mittäter indirekt an auswärtigen Kriegen beteiligt sind, in denen deutsche Waffen Kinder in Afrika oder anderswo töten.

In einem Bertelsmann-Gutachten für die EU unter Beteiligung von Rüstungslobbyisten wird sogar unverblümt empfohlen, europäische Kampfeinsätze in aller Welt nicht länger mit einem humanitären Deckmäntelchen zu kaschieren, sondern die Bevölkerung an Waffeneinsätze für wirtschaftliche Interessen (in Zeiten des ohnehin entlarvten „Raubtierkapitalismus“) zu gewöhnen. Hohe Militärs forderten jüngst zu den Soldaten in Afghanistan: „Die Deutschen müssen wieder das Töten lernen“. Der Kampf „jeder gegen jeden“ ist längst ausgerufen und reicht über den gnadenlosen wirtschaftlichen Konkurrenz- und Existenzkampf hinaus: Der bewaffnete Kriegseinsatz als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln im Geiste des marktradikalen Wirtschaftskrieges der konkurrierenden Märkte in der neoliberalen Denklogik? Dazu will Bertelsmann publizistische Unterstützung leisten - als Botschafter einer sich ankündigenden Krankheit am Beginn des 21. Jahrhunderts? Es wird nicht mehr zur bloßen „Abschreckung“ gerüstet, sondern für den tatsächlichen Einsatz, in einem geschichtlich nie dagewesenem Ausmaß.

Menschenrechte, Völkerrechte und Grundrechte werden verbogen

Weltweite präventive Kriseneinsätze, auch Kampfeinsätze unter dem Vorwand „Humanitärer Missionen“, sowie der militärische statt polizeiliche Kampf gegen die Piraten haben nun auch Deutschland und Europa in die Rolle eines Weltpolizisten gebracht, seitdem behauptet wird, deutsche Interessen werden auch am Hindukusch und am Kap Horn vor Afrika (laut Verteidigungsminister Jungk und dem vorherigen Verteidigungsminister Struck) verteidigt. Auch vor völkerrechtlich nicht legitimierten Angriffskriegen mit der Begründung von Bündnisverpflichtungen wie z.B. im ehemaligen Jugoslawien sowie in den Ölländern Afghanistan und im Irak, die alle drei mit einer politischen Lüge begründet wurden, wird nicht mehr zurückgeschreckt. Allein Deutschland hat für seine mittlerweile 1 Dtzd. Auslandseinsätze der deutschen Bundeswehr in den letzten 15 Jahren fast 11. Mrd. € ausgegeben.

Neu hinzugekommen ist die veränderte deutsche und europäische Militärdoktrin (GASP- gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik sowie aktuelle NATO-Strategie und Bundeswehr-Weißbuch), künftig auch militärische Einsätze zur Sicherung von Rohstoffen und Handelswegen zu legitimieren. Die europäische Militärpolitik will erklärtermaßen ihre interventionistischen Einsätze weltweit ausweiten zur Sicherung von Energie, insbesondere von Öl- und Gasressourcen in Afrika, Asien und dem Nahen Osten. Es handelt sich hierbei um einen Paradigmenwechsel in der deutschen und europäischen Außenpolitik der Nachkriegszeit ohne nennenswerte Diskussion in der Öffentlichkeit, obwohl sich doch Europa auf seinen über 60 Jahre währenden innereuropäischen Friedensweg etwas zugute hält. Mit dieser nun legitimierten militärischen Wohlstandssicherung kommt es zunehmend zu einer Gewöhnung an die Militarisierung der Außenpolitik wie der Wirtschaftspolitik. Russland als „strategischer Partner“ der EU will es daraufhin seinen staatlichen Energiekonzernen ermöglichen, eine Privatarmee aufzubauen.

Solcherart offene und versteckte „Wirtschaftskriege“, wie sie sogar von einzelnen Zeitungskommentatoren während des Gas-Streites zwischen Russland und der Ukraine im kalten Winter 2008/2009 eingefordert oder für nicht mehr ausgeschlossen erklärt wurden, sind eigentlich grundgesetzwidrig. Denn sie dienen nicht der Landesverteidigung bei Angriffen von außen, sondern sie dienen den eigenen nationalen Wohlstands- und Wirtschaftsinteressen oder den europäischen Binnenmarktinteressen – mit dem „mächtigsten Binnenmarkt der Welt“ und dessen erklärten politischen Weltmacht-Ambitionen laut der im Jahr 2000 beschlossenen EU-Lissabon-Strategie. Hier geht es um die Eroberung und Beherrschung der Weltmärkte um jeden Preis.

Ebenso grundgesetzwidrig ist die Aufhebung von Freiheitsrechten der Bürger wegen des ausgerufenen Krieges gegen den Terrorismus als dauerhafter Ausnahmezustand, und das im 60. Gedenkjahr an das deutsche Grundgesetz, das von Regierungsseite schamlos ausgehebelt wird. Dies belegen die zahlreichen durch das Bundesverfassungsgericht kassierten Gesetze und unzulässigen Änderungsversuche, sowie der darüber gestülpte (noch nicht rechtskräftige) EU-Verfassungs- oder Reformvertrag mit der drohenden Außerkraftsetzung wichtiger Grundgesetzregelungen.[1] (Dieses Thema wird in der nächsten Rundbrief-Ausgabe vertieft).

Im Entwurf des EU-Verfassungsvertrages sowie inhaltsgleich im Lissabonner EU-Reformvertrag wird die permanente Aufrüstung und Aufstockung der Rüstungsetats für alle 27 EU-Mitgliedsstaaten quasi in den verbindlichen und verpflichtenden Verfassungsrang erhoben und durch eine Rüstungsagentur, kürzlich in „Verteidigungsagentur“ (EDA) umgetauft, kontrolliert und gesteuert. Diese erhält dafür ein eigenes Budget zur Anschubfinanzierung erhält und soll auch bei der Rüstungsbeschaffung behilflich sein. Deren Leiter, der ehemalige Rüstungsstaatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium, Alexander Weis, hatte das Jahr 2008 zum „Jahr der Rüstung“ ausgerufen.

Abrüstung kommt als Politikziel faktisch nicht mehr vor, wenn man den letzten Abrüstungsbericht der Bundesregierung liest, auch wenn Deutschland vor kurzem endlich ein Abkommen gegen die Verbreitung von zu ächtender menschenrechtswidriger Streumunition unterzeichnet hat, nachdem es sich als einer der Rüstungsexportweltmeister lange Zeit einer solchen Vereinbarung hartnäckig verweigert hatte. Im März 2009 strengte aber ein deutscher Rüstungskonzern eine Klage gegen Journalisten an, die international geächtete Streumunition, die weiterhin hier produziert und exportiert wird, als solche bezeichneten und beim Namen nannten.

Hinderliche Demokratie wird im EU-Einheitsstaat ausgehebelt

Angesichts der Rüstungspolitik kann es nicht der Rüstungs- und Wirtschaftslobby als „heimlicher Regierung der EU“ überlassen bleiben, wie die Militärpolitik auszusehen hat. Dass demokratische Bürgerbeteiligung an solchen elementaren Zukunftsfragen von der Wirtschafts- und Rüstungslobby und den mit ihr verflochtenen Politikern aber nicht wirklich gewünscht ist, liegt auf der Hand. Selbst die vorherige parlamentarische Beteiligung bei europäischen Waffen- und Kriegseinsätzen etwa durch das Straßburger Parlament oder die Nationalparlamente wurde in den EU-Verfassungs- und Reformverträgen ausdrücklich ausgeschlossen, da allein die Regierungskonferenz bzw. der Ministerrat und der hohe europäische Außenkommissar mit seiner neuen Machtfülle darüber entscheiden sollen. Ebenso ist eine Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof, der allerdings selbst auch nicht demokratisch legitimiert ist, ausgeschlossen.

Erstmals liegt in Brüssel das Außenwirtschafts- und Verteidigungsressort in einer Hand, wegen des erklärten Zusammenhanges von wirtschaftlichen und militärischen Interessen, mit der Verführung zu Wirtschaftskriegen? Europa wird für Macht- und Wirtschaftsinteressen und militärische Interessen durch Rüstungslobbyisten und hörige Politiker erkennbar missbraucht. Disziplinarrechtliche Ahndung von bestechlichem oder korruptem Verhalten Brüsseler Kommissionsbeamten ist ausdrücklich während und nach der aktiven Dienstzeit ausgeschlossen worden durch die gewährte Immunität der 40.000 Brüsseler Beamten, obwohl schon einmal wegen eines Korruptionsfalles die gesamte Brüsseler Kommission auf politischen Druck hin zurücktreten musste.

Das dreifache Nein gegen eine von der Wirtschafts- und Militärlobby erkennbar mitgeprägte Verfassung durch die Mehrheit der Bürger in Frankreich, den Niederlanden und in Irland hat keine Umkehr bewirkt, im Gegenteil: Nach dem Nein durch die Iren wurde als erstes überlegt, wie man gerade den militärischen Teil des Reformvertrages trotz der Ablehnung separieren und dennoch realisieren kann, indem eigens ein Direktorium für militärische Fragen mit allerlei Vollmachten gebildet werden sollte. Laut Umfragen wäre auch in anderen Ländern bei einer Bürgerbeteiligung eine so geprägte Verfassung von den Menschen abgelehnt worden. Sie werden aber nicht gefragt und namhafte Stimmen aus Berlin, Brüssel und Straßburg kommen (selbst in anthroposophischen Publikationen) zu Wort, die eine demokratische Beteiligung der betroffen Menschen an „ihrer“ EU-Verfassung engagiert ablehnen und die Rüstungsentwicklung verharmlosen, obwohl alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht.

Die Nationalparlamente wie das Europaparlament sind durch die Machtzentrale in Brüssel als Exekutive, wo 30.000 ansässige Lobbyisten freien Zugang haben, ebenfalls in ihren Mitentscheidungsrechten entmachtet und entmündigt – obwohl die EU mit ihren erweiterten Kompetenzen noch nicht rechtskräftig konstituiert ist ohne Vertragsabschluss. Es wird offenbar nicht erkannt: Die EU als supranationaler Einheitsstaat ohne funktionierende Gewaltenteilung und mit der Durchmischung von Politik, Wirtschaft und Kultur ist das Gegenbild einer demokratischen, gegliederten Gesellschaftsstruktur mit Selbstverwaltungselementen. Solange das Straßburger EU-Parlament keine parlamentarischen Kernkompetenzen für Gesetzesinitiativen und wirksame Regierungskontrolle erhält, können die demokratisch legitimierten Nationalparlamente ihre Kompetenzen noch nicht an die EU abgeben, schon gar nicht in Fragen von Kriegseinsätzen. Solange die Rechtsnormen von der Exekutive statt von der Legislative gesetzt werden, nähern wir uns Verhältnissen wie in autoritären oder diktatorischen Staaten.

Demgegenüber hatte der ehemalige sowjetische Ministerpräsident Michail Gorbatschow im Zuge von Glasnost und Perestroika – als Ausgangsinitiative zur Überwindung der Teilung Europas – hervorgehoben: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“. Denn Europa kann nur demokratisch sein und ist ohne Demokratie undenkbar, sonst wandeln wir bald „durch das verbrannte Europa“. Wenn der Rüstungsspirale nicht Einhalt geboten wird, dann werden die Folgen und das Leiden für die Menschen in Europa und in der Welt alles bisher da gewesene aus den dunklen Epochen dieses Kontinentes bei weitem übertreffen, so ist zu befürchten.

Der Irrglaube an die Macht der Waffen und des Militärischen

Bei Betrachtung der deutschen und europäischen Kultur- und Geistesgeschichte müssten wir auf dem Kontinent der Menschenrechte und der christlichen Glaubensbekenntnisse eigentlich zu folgenden Erkenntnissen und Feststellungen gelangen: Das deutsche oder mitteleuropäische Geistesleben steht in seinem Wesenskern in einem Widerspruch zu allem Militärischen und Gewalttätigen. Technische Überheblichkeit, wirtschaftliches Konkurrenzstreben und vor allem der fatale Glauben an die Macht der Waffen ist eine anhaltende Verblendung. Das Volk in der Mitte Europas kann vernünftigerweise nur den Ausgleich zwischen den Polaritäten und Dualitäten suchen; wirkliche Friedenspolitik ist das höchste Gut. Alles andere ist ein Irrweg, wie die zwei Weltkriege gezeigt haben. Der neuerliche Weg der Waffen ist ein unmöglicher für Deutschland.

Es herrschen aber auch heute wieder der Unwille und die Unfähigkeit, den Irrtum als Irrtum zu erkennen. Anders ist die ausufernde Rüstungspolitik in Deutschland und Europa nicht zu erklären, die zu einem Grossteil zum erstrebten Wirtschaftswachstum beiträgt und gerade in den gegenwärtigen Krisenzeiten nicht in Frage gestellt wird. Keine andere Branche hat so hohe Wachstumsraten und Gewinnspannen wie gerade die nahezu krisensichere deutsche Rüstungsindustrie.

In der Zeit des „kalten Krieges“ standen sich die beiden großen Blöcke mit ihren Atombomben in einem atomaren Patt vernichtungsbereit gegenüber. Nur die unvorstellbaren Zerstörungskräfte haben den Vernichtungswillen in Schach gehalten. Heute ist es der „Krieg gegen den Terrorismus“, vom ausgeschiedenen US-Präsidenten Bush als „dritter Weltkrieg“ ausgerufen, mit dem die militärische Hochrüstung legitimiert wird in Ermangelung anderer Feindbilder. Materialismus und Militarismus haben ein Bündnis geschlossen zur Verstärkung dunkler Mächte.

Als Zivilgesellschaft sollten wir aber die hinter den äußeren Geschehnissen und Entwicklungen liegenden geistigen und wirtschaftlichen Machtkämpfe und Realitäten erkennen lernen. Welchen Kräften und Mächten sowie welchen Bewusstseinstrübungen sind die handelnden Politiker und alle beteiligten, zumeist passiven Menschen erlegen und wem dienen sie? Werden die inneren und äußeren Zusammenhänge, die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Zusammenhänge und Akteure in ihrem Zusammenspiel durchschaut? Erkennen wir, anders als zwischen den Weltkriegen, diesesmal die unübersehbaren Zeichen der Zeit? Und sind die unverbesserlichen Verteidiger dieser herrschenden Strukturen und Mächte, die ihr Wirkungsfeld gerade auch im europäischen supranationalen Einheitsstaat gefunden haben, auch geistesgegenwärtig genug, um zu merken, welchen Irrtümern sie unterliegen?

Erkenntnisweg oder Leidensweg?

Die militärpolitische Fehlentwicklung, die Militarisierung der Wirtschaft und Politik und des Denkens und Handelns, korrespondiert mit dem irrealen wirtschaftlichen Irrweg in der gegenwärtigen Kapitalismuskrise und entspringt dem gleichen Ungeist. Eine wirksame Widerstands- und Friedensbewegung ist damals wie heute nicht in Sicht, so dass sich gerade in Deutschland erneut die Frage nach dem eigenen Versagen stellt. Doch die Gegenmächte im Inneren wie im Äußeren sind gewaltig, vielleicht noch gewaltiger und erfolgreicher als zwischen den zurückliegenden Weltkriegen, die den mitteleuropäischen Sozial- und Geistesimpuls in nationalistische Gesinnung verwandelt und blutig vereitelt haben. Die materialistischen und antichristlichen Kräfte und Mächte haben sich auch nach Kriegsende in den Machtzentren Europas und der Welt eingenistet. Von Weltfrieden können wir nicht ernsthaft sprechen, denn Deutschland und Europa sowie ihre amerikanischen Verbündeten haben im Eigeninteresse die Kriegsschauplätze lediglich auf andere Kontinente außerhalb Europas und Amerikas räumlich verlagert - vorerst.

Wird, wie so oft in der jüngeren Menschheitsgeschichte, der Erkenntnisweg durch den Leidensweg mit „Blut und Tränen“ ersetzt, wie uns aktuell wieder das Kriegsgeschehen in Israel und in Palästina mit seinen Hassdämonen vorgeführt hat? Heutzutage ist die verworrene Situation an den vielen Kriegsschauplätzen in der Welt unter Verwendung deutscher Export-Waffen viel schwieriger zu durchdringen als in der Nazi-Zeit, in der es immerhin mutige Widerstandskämpfer gab. Damals gab es klare Feindbilder, heute ist der Feind in uns selber verborgen.

Als wachsame Zeitgenossen sind wir jetzt zum mutigen Handeln gefordert, denn das Zeitfenster zwischen den unmittelbar bevorstehenden Entscheidungsjahren 2009 bis 2012 ist zum Handeln sehr eng, auch für die anstehende europäische Politikausrichtung, beginnend mit dem Europawahljahr 2009. Was uns ab 2012 erwartet, ist in vielen anderen Zusammenhängen ansatzweise prognostiziert und prophezeit worden, mit weiterer Zuspitzung der Weltwirtschafts- und Finanzkrise, und stellt uns vor noch ganz andere Herausforderungen. Dieses Thema sollte uns noch eine Weile beschäftigen, bevor es wieder einmal zu spät ist für ein geistesgegenwärtiges Handeln aus Erkenntnis und Voraussicht.

Unser Denken und Handeln muss von der Militarisierung und Gewaltbereitschaft befreit werden. Das gelingt nur, wenn der gnadenlose sozialdarwinistische Konkurrenzkampf „jeder gegen jeden“ aus dem Wirtschaftsleben verschwindet zugunsten eines kooperativen, solidarischen und gemeinwohlorientierten Wirtschaftens in der grenzenlosen Welt, in der einer auf den anderen angewiesen ist zum Überleben aller wie zum eigenen Überleben.

Nicht Gegnerschaft und Feindschaft, nicht Egoismus im Sinne von Gruppen-, Volks und Nationalinteressen oder kontinentalen Weltmachtkonkurrenzen mit Siegern und Besiegten, mit Gewinnern und Verlierern sind zukunftsfähig, sondern allein die Ideale der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit garantieren ein Überleben aller im Sinne einer nachhaltigen Win-Win-Situation. Ein solches Umdenken ist nicht von den „Verantwortlichen da oben“ zu erwarten, sondern dazu ist jeder Einzelne „da unten“ in seinem Umdenken und mit seinen Verhaltensänderungen gefordert. Denn die Militarisierung und Polarisierung nistet ganz verborgen manchmal auch in unseren eigenen Denkschemata und Handlungsmustern, die es zuerst zu überwinden gilt.


[1] vgl. Wilhelm Neurohr: „Ist Europas noch zu retten? Wie die EU den Europa-Gedanken verfälscht. Wege zu einer europäischen Identität“ Pforte-Verlag 2008 sowie www.mehr-demokratie.de.