Leserbrief an die Recklinghäuser Zeitung
Betr:. Bericht über die Europäische Verteidigungsunion (EU-Gipfel)
„EUROPÄISCHE VERTEIDIGUNGSUNION - EIN VERKAPPTES RÜSTUNGSPROJEKT?“
Ohne vorherigen öffentlichen Diskurs wurde auf dem letzten EU-Gipfel in diesem Jahr mit aktuellem Verweis auf Trump und Putin die „Europäische Verteidigungsunion“ von 24 EU-Staaten aus der Taufe gehoben – wohl auch in der Hoffnung, mit dem gemeinsamen militärischen Engagement als Klammer einem weiteren Auseinanderdriften der EU-Nationalstaaten vorzubeugen.
In Wirklichkeit ist die Idee zu diesem Vorhaben schon Jahrzehnte alt und seither mit eigenen schnellen EU-Eingreifruppen neben der NATO längst vorbereitet worden. Zwar erklärt man eine europäische Armee zum Tabu, weil man keine Doppelstrukturen mit der NATO will, aber die Anzahl und Größe schneller EU-Eingreiftruppen soll erheblich wachsen.
Vor allem wird der Öffentlichkeit verschwiegen, dass dies mit einer verbindlichen und kostenträchtigen Aufrüstungsverpflichtung einhergeht sowie mit gleichzeitigem Abschied von jedweden Abrüstungsbemühungen – beginnend mit einem europäischen Verteidigungsfond von 5 Mrd. € und späteren Aufstockungen aus nationalen Mitteln.
Deutlich mehr Geld für Militär und Rüstung ist deshalb aktuell ein zentrales Thema in der EU (als Friedensnobelpreisträger 2012), das in der öffentlichen Debatte leider untergeht.
Das kommt vor allem der deutschen Rüstungsindustrie zugute, die laut aktueller Veröffentlichung des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes (Sipri) erhebliche Umsatzsteigerungen verzeichnet, allein 13% Plus bei Krauss-Maffai und Rheinmetall. Bekanntlich sind sowohl der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Jung (CDU) als auch der ehemalige Entwicklungshilfeminister Niebel (FDP) als Seitenwechsler nunmehr Lobbyisten bei Rheinmetall.
Schon derzeit geben die europäischen Nato-Länder mit 250 Mrd. € oder 237 Mrd. Dollar ein Vielfaches fürs Militär aus als Russland, wo die Militärausgaben nur 69 Mrd. Dollar betragen bzw. 75 Mrd. Dollar in der gesamten russischen Föderation in Osteuropa. Allein die beiden EU-Länder Deutschland und Frankreich wenden zusammen 97 Mrd. € fürs Militär auf, also deutlich mehr als Russland mit 61 Mrd. €, das seine Rüstungsausgaben sogar kürzt (alles Stand 2016, Statistik-Portal „Statista“ und FAZ vom 24.03.2017). Die EU dreht also kräftig an der Rüstungsspirale.
Auf ihrem Jubiläumsgipfel in Rom, anlässlich des 60-jährigen Bestehens der kriselnden EU, hat deshalb die EU-Spitze vierZiele für die nächsten Jahre beschlossen, darunter das wohl wichtigste Ziel: „Ein stärkeres Europa in der Welt mit internationalen Partnerschaften, das dazu beiträgt, eine stärker wettbewerbsfähige und integrierte Verteidigungsindustrie zu schaffen.“ Ist also die „Europäische Verteidigungsunion“ in Wirklichkeit ein verkapptes Rüstungsprojekt gigantischen Ausmaßes?
Schon der Art. 42 des gültigen Lissabonner EU-Grundlagenvertrages von 2009 sieht jährliche Aufrüstungsverpflichtungen und deren Kontrolle durch die europäische Verteidigungsagentur (EDA) vor. Jüngst wurde von den meisten EU-Staaten einschließlich Deutschland folglich auch die Unterzeichnung des UN-Atomwaffenverbotsvertrages verweigert, der von 122 Staaten weltweit unterstützt wird. (Die zivilgesellschaftlichen Initiatoren erhielten dafür gerade den Friedennobelpreis). Ein gültiger, aber nie umgesetzter Beschluss des deutschen Bundestages von 2010 für den Abzug der letzten US-Atomwaffen in Deutschland (Büchel in der Pfalz) wurde von der großen Koalitionsregierung einfach unter den Tisch gekehrt.
Warum wird das nicht Thema der Koalitions-Sondierungen zwischen SPD und CDU? Schließlich war die SPD mal die Partei des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt, der um Abrüstung und Entspannung bemüht war und den kalten Krieg mit dem Osten beendete, der jetzt wieder auflebt…
Wilhelm Neurohr