Etwa 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz unterschiedlichen Bereichen und Altersgruppen und von 83 mitveranstaltenden und unterstützenden Organisationen erlebten und gestalteten vom 14. bis 16. Mai ein gelungenes Experiment und knüpften ein neues Bündnis, um über Protest und Gegenwehr hinaus gemeinsam politische Perspektiven und konkrete Alternativen zur vorherrschenden neoliberalen Politik in Deutschland zu entwickeln, zusammen mit Teilnehmern auch aus Österreich und der Schweiz: Nach den offenen, hierarchiearmen Methoden der Weltsozialforen und mit dem Ziel der erstmaligen Durchführung eines deutschen Sozialforums im kommenden Jahr wurden im Gebäude der technischen Universität am Potsdamer Platz in Berlin 130 Einzelveranstaltungen zu 15 Themenfeldern sowie gemeinsame Plenums- und Kulturveranstaltungen angeboten. Zu den Mitveranstaltern gehörte außer den Gewerkschaften, dem globalisierungskritischen Netzwerk von attac, den Sozialverbänden, sozialen und kirchlichen Gruppen, humanistischen und Menschenrechtsorganisationen, Arbeitsloseninitiativen, Bürgerinitiativen, Friedens- und Frauengruppen und wissenschaftlichen Vereinigungen und Forschungsinstituten auch das Netzwerk Soziale Dreigliederung, vertreten durch Sylvian Coiplet, Stefan Reeder, Michael Wilhelmi und Wilhelm Neurohr.
„Ökonomische Kräfte bedrohen die Freiheit des Einzelnen“
Zwei Tage vor dem Berliner Perspektiven-Kongress, der auch die Impulse der großen zivilgesellschaftlichen Demonstration vom 3. April mit 500.000 Teilnehmern gegen den Sozialabbau und für ein soziales Europa fortführen wollte (siehe Kurzbericht an anderer Stelle), hatte der scheidende Bundespräsident Johannes Rau – passend zum Kongressthema - in seiner letzten Berliner Rede „die anhaltende Wirkungslosigkeit all dessen, was die Arbeitslosigkeit beseitigen soll“, als Vertrauen zerstörende Politik bemängelt. Der Bundespräsident wörtlich: „Unser demokratischer Staat ist mehr als ein Dienstleistungsbetrieb und auch mehr als eine Agentur zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes. Der Staat schützt und stärkt die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger auch vor den gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften, die die Freiheit des Einzelnen längst viel stärker bedrohen als jede Obrigkeit.“ In den Debatten über Reformen werde allzu oft das Gemeinwohl vorgeschoben, wo es um nichts als Gruppenegoismus, um Verbandsinteressen oder gar um erpresserische Lobbyarbeit gehe“, so äußerte Rau zudem deutliche Kritik am Verhalten derer, „die in wirtschaftlicher oder öffentlicher Verantwortung stehen, ungeniert in die eigene Tasche wirtschaften. Das Gefühl für das, was richtig und angemessen ist, scheint oft verloren gegangen zu sein.“
Es gibt noch Zukunftsentwürfe und Gestaltungswillen
Kein demokratischer Staat halte es auf Dauer aus, wenn sich immer stärker eine Haltung des „wird da unten, ihr da oben“ festsetze, so Rau. Noch nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte hätten so wenig Menschen Vertrauen in die Politik einer Regierung gehabt, und noch nie hätten gleichzeitig so wenig geglaubt, die Opposition könne es besser. „Wir müssen den Primat der Politik wiedergewinnen – einer Politik, die sich an Werten orientiert und die sich nicht darauf beschränkt, tatsächliche oder vermeintliche Sachzwänge zu exekutieren. Politik muss wieder zeigen, dass es sie gibt und dass sie etwas für die Menschen bewirken kann.“
Der Bundespräsident forderte nachdrücklich, es müsse in der Politik deutlich werden, dass es noch Zukunftsentwürfe und den nötigen Gestaltungswillen gebe. Genau darum ging es den zahlreichen engagierten und mobilisierten Vertretern der Zivilgesellschaft auf dem 3-tägigen Perspektivenkongress, bei dem der zeitgleiche Appell des Bundespräsidenten schon längst in eine kreative Ideenschmiede gemündet war, bei deren Abschlussveranstaltung so etwas wie eine soziale Aufbruchbestimmung aufkam und eine neue soziale Bewegung sich formierte, die Menschen aus unterschiedlichen politischen Kulturen generationenübergreifend zusammenführt. Hier wurde der „Grundstein gelegt für ein dauerhaftes Bündnis verschiedener Milieus und unterschiedlicher politischer Kulturen“, wie es ein Mitveranstalter formulierte. Sogar über eigene Medien wird nachgedacht, solange politische Alternativen zur Überwindung der Spaltungstendenzen in der Gesellschaft in den herrschenden Medien totgeschwiegen und die Anliegen der sozialen Bewegung nicht in die Öffentlichkeit transportiert werden. Das Vernetzungstreffen am Ende des Kongresses war mit 130 Teilnehmenden überfüllt. „Der Wille zur Zusammenarbeit war mit Händen greifbar und prägte die gute Stimmung auf dem Kongress“, so beschrieb es Mitinitiator Niko Stumpfögger.
Gegen eine Politik der Alternativlosigkeit : Demokratie lebt von Alternativen
Hätten sich außer Christoph Ströbele von den Grünen noch andere Bundespolitiker dazu herabgelassen, den Perspektivenkongress zu besuchen, sie hätten einen reichhaltige Fundgrube an innovativen und sozial phantasievollen Ideen und Alternativen vorgefunden, deren Mangel sie beklagen, und hätten sich daraus bedienen können. Denn eine Politik, die vorgibt, sie wäre alternativlos, verabschiedet sich aus der Demokratie, die ja von Alternativen lebt – Alternativen, die unbewusst auch viele Schnittstellen zu Themen, Ansätzen und Betrachtungsweisen der sozialen Dreigliederung enthielten, wenn man genauer hinhörte oder die dortigen Publikationen las: z.B. von der gemeinnützigen Initiative für natürliche Wirtschaftsordnung, die für eine neue Geld- und Bodenordnung eintritt.
Dass es vielfältige Alternativen zur derzeitigen Politik gibt, bewiesen die zahlreichen Workshops, Vorträge, Podiumsdiskussionen und Foren auf dem zivilgesellschaftlichen Berliner Perspektivenkongress, auch wenn dieser in den meisten Medien totgeschwiegen wurde, trotz prominenter Unterstützung und Teilnahme durch die bekannten Gewerkschaftsvorsitzenden Frank Bsirske ( ver.di), Jürgen Peters (IG Metall) und Klaus Wiesenhügel (IG Bau), den katholischen Sozialethiker Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach und Sven Giegold als Symbolfigur von attac oder die italienische Gastrednerin Luciana Castellina von Il Manifesto, Prof. Ariel Salleh als Gast aus Australien sowie der aus Wien angereiste Vortragsredner Prof. Dr. Ewald Nowottny. Vertreten war auch das ganze namhafte Spektrum der Wissenschaftler mit alternativer Ausrichtung, von der Memorandumgruppe über bekannte Zukunftsforscher und altbekannte Namen wie Prof. Dr. Elmar Altvater, Prof. Dr. Jörg Huffschmid, Prof. Bodo Zeuner (der auf seine wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan hinwies), Prof. Max Fuchs vom deutschen Kulturrat u.v.m.
Das vertiefte Ringen um Alternativen und Perspektiven fand insgesamt mehr in den Kleingruppen und 130 Einzelveranstaltungen statt, quer durch das gesamte Themenspektrum aller Zukunftsfragen. Die umfassenden Themenachsen reichten von den Fragen zu Beschäftigung und Wachstum über die Entwicklung der Finanzmärkte mit einer alternativen Steuerpolitik sowie über die Zukunft von Arbeit und Einkommen und den Konflikt zwischen Markt und Demokratie bis hin zur Zukunft des Sozialstaates. Breiten Raum nahmen aber auch die Fragen von Bildung, Kunst und Medien sowie freier Informationsgesellschaft ein, ferner der Verlust des Sozialen, die Gefährdung öffentlicher Güter sowie die Fragen von Krieg und Frieden und Ökologie sowie Themen der sozialen Innovation und der Vernetzung. Das integrierte Kulturprogramm mit politischem Theater, Film und Kabarett, mit einem Forum bildender Künstler, mit Performance, Musik, Tanz und Theater fand großen Anklang und bereicherte den Kongress, ebenso die zahlreichen Info-Stände der verschiedenen beteiligten Organisationen und Initiativen im Foyer, die auch als Treffpunkt dienten.
Vorbereitung für ein nationales Sozialforum in Deutschland im Gange
Der Versuch, einen inhaltlichen Abriss der wichtigsten Ergebnisse des breit gefächerten Berliner Perspektivenkongresses zu geben, kann hier nur bruchstückhaft und teils subjektiv sein. Im Internet unter www.perspektivenkongress.de können jedoch sowohl der Kongress-Reader mit dem gesamten Programm als auch die wichtigsten Verlaufs- und Ergebnisberichte abgerufen werden. Zudem ist die Herausgabe einer umfangreichen Kongress-Dokumentation auch in Buchform in Vorbereitung.
Darüber hinaus ist der Vorbereitungsprozess für ein Sozialforum in Deutschland für den Sommer 2005 im Gange: Das erste bundesweite Vorbereitungstreffen findet bereits vom 17.-18. Juli 2004 im DGB-Haus in Frankfurt/Main, Wilhelm-Leuschner-Str. 69 statt. ( Internetadresse der Initiative: www.dsf-gsf.org). Zugleich laufen die Vorbereitungen für das 3. Europäische Sozialforum vom 14.-17. Oktober in London.
Ferner treffen sich am 20. Juni in Berlin die Initiatoren der „Wahlalternative 2006“ und der „Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, die - trotz der inzwischen 7000 rückgemeldeten Interessenten - auf dem Berliner Perspektivenkongress jedoch nicht nur Zuspruch für ihr bemerkenswertes Vorhaben fanden, zur Bundestagswahl und evtl. schon 2005 in NRW zur Landtagswahl anzutreten, auch mit kritischem Blick auf den parlamentarischen Werdegang der Grünen und der PDS in Berlin. Für viel wichtiger wurde von den meisten als Verfechter eines außerparlamentarischen Bündnisses das Entwickeln konkreter Aktionen zur Umsetzung der auf dem Perspektivenkongress erarbeiteten Ideen erachtet, vor allem über die rege Beteiligung an lokalen und regionalen Sozialforen. Deshalb setzt das Trägerbündnis nun auf Regionalisierung: Lokale Veranstaltungen zu Themen, die auch den Perspektivenkongress geprägt haben, sollen jetzt folgen und die örtlichen Bündnisse stärken.
Wegweiser in eine soziale Zukunft mit mehr Gerechtigkeit
Große Aufmerksamkeit und hohe Bestellzahlen erreichte nach einer Buchvorstellung auf dem Berliner Perspektivenkongress das im Mai 2004 neu erschienene Buch von Stephan Hebel und Wolfgang Kessler (Hrsg.): „Zukunft sozial: Wegweiser zu mehr Gerechtigkeit“, in der Verlagsgemeinschaft von Verlag Publik-Forum (Zeitung kritischer Christen) und Frankfurter Rundschau, unter ISBN 3-88095-137-3 erhältlich. Es enthält zukunftweisende Beiträge mehren Autoren zu den aktuellen Problemen und Herausforderungen, vor allem über die mündigen Menschen, auf die es zu hören gelte, über die Krise des Sozialstaates und der Sozialversicherungen und deren wahre Ursachen, aber auch über Irrwege und Mythen. Thematisiert werden die „Gehirnwäsche light“ durch den Sprachmissbrauch der Verfechter des Sozialabbaus, die populären, aber falschen Gründe für den Sozialabbau und die Tabuisierung der unbequemen Wahrheiten in der Wirtschaft.
Anhand von Modellen und Beispielen und des Vergleiches europäischen Wirtschaftsmodelle und ihrer Renten- und Bürgerversicherungen werden die Vorteile einer engen Kooperation aufgezeigt, Vorschläge für das „Wunder der gerechten Rente“ unterbreitet und eine Politik gegen die Vererbung sozialer Nachteile für die Kinder dargelegt, verbunden mit einem Plädoyer „wider die Erstarrung“. Vorschläge und Konzepte enthält das Buch schließlich in aller Kürze für gerechte und einfache Steuern „als Tor in die Freiheit“, für eine aktive Finanzpolitik für Arbeit, Umwelt und Gerechtigkeit durch einen wieder gestaltenden Staat sowie einen Beitrag von Heide Simonis: „Anders steuern - das Gemeinwesen stärken“. Weiter geht es mit Vorschlägen für einen sozialverträglichen Schuldenabbau und für eine global gerechte Mindeststeuer gegen Steuerflucht als Mittel einer modernen Finanzpolitik.
Schließlich werden im letzten Teil des Buches Visionen einer neuen Arbeitsgesellschaft von morgen und Orientierungen für eine neue Beschäftigungspolitik skizziert („Nur für Geld arbeiten ist wie Autofahren ohne Stoßdämpfer“), ferner die Idee einer Bürgerversicherung als Grundeinkommensversicherung für Erwachsene und Kinder, außerdem 4 Säulen einer Rentenreform vorgestellt sowie eine Pflichtversicherung für alle Bürger als „politische Heilkunst gegen den Verfall“ empfohlen, schließlich eine solidarische und gerechte Krankenversicherung für alle, die „in einem Boot sitzen“, nahegelegt. Im Schlusskapitel über Strategien und Widerstände wird die schwierige Durchsetzbarkeit einer Reform thematisiert („die Gier zerfrisst die Gehirne“) und es wird aufgezeigt, wie Wirtschaftsinteressen die Demokratie untergraben („Die stille Macht scheut das Licht“). Es wird darauf hingewiesen, dass soziale Politik immer neu erkämpft werden muss und dass es Alternativen gibt, die nur nicht gehört werden. Als „Befreiungsschläge allerorten“ wird für eine neue Außerparlamentarische Opposition gegen das Abdriften nach rechts plädiert und für eine neue Sozialbewegung unter der Fragestellung: „Wer rettet die Solidarität?“
Verlust des Sozialen: Schmilzende Solidarität durch Zerfall des sozialen Zusammenhaltes und Wertewandel
So lautete auch der Auftaktvortrag im vollbesetzten Audi Max von Prof. Friedhelm Hengsbach zu Beginn des Berliner Perspektivenkongresses am Freitagabend: „Die Solidarität schmilzt nicht von selbst“. Nach einer Kritik des vorherrschenden Gesellschafts- und Politikmodells im Hinblick auf die realen und ideologischen Verhältnisse befasste sich die Eröffnungsrede mit dem Zerfall des sozialen Zusammenhaltes und der Umwertung der Werte. Die zweite Rede von Luciana Castellina aus Italien hinterfragte den Anspruch des neoliberalen Gesellschaftsentwurfs, Modell der Befreiung und der Veränderung zum Nutzen der Gesellschaften und der Menschen zu sein.
Die Kritik des vorherrschenden Gesellschafts- und Politikmodells war auch das Thema des anschließenden Eröffnungspodiums mit dem IG-Metall-Voristzenden Jürgen Peters, mit Pedram Shayar von attac, mit Bettina Wasserlos-Strunk vom reformierten Bund, mit Gustav Horn vom DIW Berlin und der freien Publizistin Mechthild Jansen, unter der kritikwürdigen Moderation der taz-Redakteurin Bascha Mika im Stil von Sabine Christiansen, den sie erklärtermaßen gerade nicht kopieren wollte. Danach musste sich der Kabarettist Peter Grohmann erst einmal Gehör verschaffen auf der Bühne angesichts der kleinen Diskussionsgrüppchen und der Ausgangsbewegung im sich leerenden Saal.
Ein arbeitsreicher Samstag der sozialen Innovation: Der Fluch der Finanzmärkte und das Geheimnis des Geldes
Der arbeitsreiche Samstag begann nach dem Suchen der mangelhaft ausgeschilderten Veranstaltungsräume in dem Gebäudekomplex um 9 Uhr mit den vielfältigen Workshops, Vorträgen und Diskussionsrunden und wurde dem Anspruch des Perspektivenkongresses gerecht, wirkliche Zukunftsalternativen zu entwickeln oder vorzustellen, seien es Wege zu mehr Beschäftigung oder wirtschaftspolitische Alternativen zur Agenda 2010 und zur Staatsverschuldung, zum Sozialabbau und zur Arbeitslosigkeit. Die Memorandum-Gruppe Alternative Wirtschaftspolitik setzte sich mit zentralen Projekten der Gegenreform im Bereich der Gesundheits-, Renten- , Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik auseinander. Sven Giegold von attac stellte das Konzept einer solidarischen Einfachsteuer als Alternative zu den Sozialabbauplänen in der Steuerpolitik vor. Zum Thema der Finanzmärkte gehörte auch ein Beitrag zu der Frage, was Initiativen im Norden zur Befreiung des Südens aus der Schuldenfalle durch faire Entschuldung beitragen können, in die 60 Länder hineingedrängt worden sind. Das DGB-Bildungswerk ging der Frage nach weltweiten Sozialstandards nach.
Die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde unterbreitete Vorschläge für eine Reform der Sozialversicherungen und ein anderer Workshop befasste sich mit der Bürgerversicherung als Baustein einer effizienten und gerechten Sozialpolitik. Der ver.di-Fachbereich Gesundheitspolitik unterbreitete solidarische Perspektiven zur Zukunft des Gesundheitswesens. Für die kommunale Ebene wurde von attac Deutschland die Einführung eines Beteiligungshaushaltes nach dem Vorbild der Stadt Porto Allegre empfohlen.
Kenawi Samirah von attac Berlin erzählte auf spannende Weise über die Geheimnisse des Geldes und die gestörten Verteilungsmechanismen und Peter Wahl von WEED zeigte eine emanzipatorische Strategie für eine Reform der internationalen Finanzmärkte mit verschiedenen Reformansätzen einschließlich der Tobin-Steuer und deren Realisierungschancen auf, mit der neue Freiräume für eine an den Interessen der menschenausgerichtete Wirtschaftspolitik eröffnet werden können.
Neuer zukunftsfähiger Arbeitsbegriff und existenzsicherndes Mindesteinkommen für alle
Über den sinnvollen Umbau der Arbeitsgesellschaft und einen zukunftsfähigen Begriff von Arbeit sowie mit dem Umgang mit dem Niedriglohnsektor setzte sich ein weiteres Podium auseinander. „Arbeit darf nicht arm machen“. Die ver.di-Bundesverwaltung thematisierte „Gestaltungsoptionen für die Arbeit von heute und morgen“. Das ifat-Institut Hamburg für Arbeit und Technik entwarf Zukunftsvisionen und Szenarien für Arbeit und Leben im Jahre 2015. Institute aus Berlin und Gelsenkirchen entwarfen einen neuen gesellschaftlichen, nicht nur technich-ökonomischen Innovationsbegriff und zeigten Zukunftsbedarf und –pfade auf. Andere befassten sich mit den Chancen und Notwendigkeiten einer Arbeitszeitverkürzung, wieder andere mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes und der Frage der Verteilungsgerechtigkeit.
Zwei Workshops thematisierten ein existenzsicherndes Mindesteinkommen für alle als gesetzlicher Mindestlohn oder Grundeinkommen in Form von Bürgergeld, ergänzt um eine Leitbild-Diskussion über die verschiedenen Modelle. Die „Initiative kreativer Erwerbsloser für vernetzte Projekt- und Stadtteilarbeit“ befasste sich mit dem Arbeitsmarkt von unten und mit einer PersonalServiceAgentur der anderen Art zur Instandbesetzung von Arbeitsplätzen. In einem Film „David gegen Goliath“ wurde der solidarische Kampf mexikanischer Arbeiter gegen Continental dargestellt als eine Antwort betrieblicher Interessenvertretung auf die internationalisierten Bedingungen im eigenen Betrieb. „Genug für alle“ hieß der Workshop, der sich mit breiten zivilgesellschaftlichen Bündnissen befasste, die für eine politische Richtungsänderung erforderlich sind.
Eine Gesellschaft ohne Diskriminierung war das Thema einer anderen Gruppe. Um Globalität der Menschenrechte und soziale Solidarität, die sich gegenseitig bedingen, ging es in einem Workshop, der sich dagegen aussprach, die nationalen Interessen und Standorte gegeneinander auszuspielen. Die Perspektiven sozialer Aneignung thematisierte Thomas Fritz: „Die globale Enteignungsökonomie unterwirft nicht nur Arbeit, Produktion, öffentliche Dienste und Natur der Kapitalverwertung, sonder zunehmend auch soziale Beziehungen, unser Handeln, Denken und Fühlen.“ Dem wurde die „Wiedergewinnung der Kontrolle über Arbeit und Leben“ gegenübergestellt. Um wirtschaftliche Selbsthilfe und alternative Ökonomie sowie verändertes Konsumverhalten sowie die Idee der Genossenschaften ging es in einem Workshop von attac Berlin. Die Verbindung zwischen sozialer Gerechtigkeit und Ökologie, um eine sozial verträgliche Wirtschaftspolitik, die auch der Umwelt dient, zu fördern, war das Thema des Bundesverbandes der Bürgerinitiativen Umweltschutz: „Eine zukunftsfähige ökologische Politik ist ohne eine nachhaltige, gerechte Sozialpolitik nicht möglich“.
Projekt soziales und nachhaltiges Europa ohne Militarisierung
Das GATS-Abkommen und die noch weiter gehende EU-Dienstleistungsrichtlinie als „innereuropäisches GATS“ war das Diskussionsthema zwischen Vertretern deutscher und österreichischer Gewerkschaften und attac, an dem ich als Zuhörer teilnahm. Von einem „Putschversuch mit Mitteln des Marktradikalismus“ war zu Recht die Rede, denn die EU-Dienstleistungsrichtlinie verhindert staatliche Regulierungsmöglichkeiten, Standards und Kontrollen und erzwingt einen Wettbewerb zwischen den 25 verschiedenen europäischen Rechtssystemen um den niedrigsten Standard im Unternehmens- und Sozialrecht sowie Tarifrecht. Die Zuständigkeiten und die Tarifhoheit der nationalen Gewerkschaften sind in Gefahr. Die EU entwickelt sich so zu einer Art Sonderwirtschaftszone.
In einem weiteren Workshop wurde der Zusammenhang zwischen EU-Verfassung, Sozialabbau und Aufrüstung sowie EU-Militarisierung als zwei Seiten einer Medaille thematisiert, bei der die EU von einer zivilen Institution zu einer Wirtschafts- und Militärmacht aufgebaut wird. Zivilgesellschaftliche Alternativen zum Kurs auf ein Europa der militärischen Großmacht wurden aufgezeigt und Chancen für ein internationales System friedlicher Konfliktlösungen aufgezeigt. Das Europäische Netzwerk Nachhaltigkeitsstrategie setzte sich kritisch mit der Lissabon-Strategie der EU auseinander und stellte ein alternatives Projekt für ein nachhaltiges und soziales Europa zur Diskussion, mit sozial-ökologischen Strukturreformen, einem sozialen Stabilitätspakt, einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik mit einer europäischen Strategie für Vollbeschäftigung sowie einem neuen nachhaltigen Entwicklungsmodell und einer neuen Rolle Europas in der Welt.
Nachhaltige Bildung als soziale Zukunftsaufgabe für den individuellen Lebensweg
Die Bildung als sozialpolitische Aufgabe und als ein „politisches Generalthema des 21. Jahrhunderts“ wurde auf dem Kongress als wesentlich für den individuellen Lebensweg einerseits und als zentrale gesellschaftliche Ressource für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft andererseits thematisiert. „Mit sozialer Ungleichheit durch Bildung wird Zukunft verschenkt.“ Es wurde kritisiert, dass Bildung stattdessen zur Ware erklärt und den Marktgesetzen unterworfen wird, ja, Bildung als limitiert gilt und zunehmend käuflich erworben werden soll. „Die vom politischen Mainstream favorisierten Konzepte setzen trotz PISA und IGLU weiterhin auf ein selektives System und so auf Eliteförderung“, beklagten Vertreter der GEW. Bildung und Weiterbildung für alle im Kontext lebenslangen Lernens wurde vom Podium als erforderlich erachtet.
Vorgestellt wurde der „Lernkompass zum nachhaltigen Bildungsweg“, ein Kooperationsprojekt der Hamburger Berufsschule Eiderstedt, das mit Partnern aus dem Stadtteil seine benachteiligten Jugendlichen zu anerkannten Berufsabschlüssen führt und in den ersten Arbeitsmarkt begleitet. Der Lernkompass beschreibt den individuellen, prognostizierten Bildungsweg, ebenso wie die absolvierten Lernphasen. Das Konzept basiert insgesamt auf fünf Elementen: individuell, selbstbestimmt, betriebsnah, regional, nachhaltig – dauerhaft und soll in abgestimmter Kombination die Grundlage für eine erfolgreiche Integration bilden.
Weitere Podien befassten sich kritisch mit den Eliteuniversitäten, beleuchteten die erfolgreichen Schulkonzepte in Skandinavien und die Tendenzen der Privatisierung der Bildung in Europa. Der Bund demokratischer Wissenschaftler erörterte das Konzept des aktivierenden Staates in der Bildungspolitik mit neuen Ansätzen wettbewerblicher Bildungssteuerung. Mit der Modernisierung von Auslesemechanismen münde diese Politik in die systematische Legitimation von Ungleichheit als Voraussetzung und ständiges Ergebnis von Marktkonkurrenz, so dass in zentralen Politikfeldern Sozialabbau mit Bildungsförderung legitimiert werde. Deshalb wurden bildungsökonomische Vorstellungen kritisiert, die mit dem Propagieren der Kostenprivatisierung zwangsläufig soziale Selektion betreiben.
Kritisch in den Blick genommen wurde auch die gegenwärtige Hochschulreform, die mit ihrer Kommerzialisierung und Verschulung kontraproduktiv sei und die Qualität der Wissenschaften schädige. Die einseitige Orientierung auf die spätere Berufspraxis vernachlässige die Kompetenz der Individuen als TeilhaberInnen in einer demokratischen Gesellschaft. „Wissenschaft – Ware oder öffentliches Gut?“ so wurde gefragt. Schließlich wurde auch die Europäisierung des Bildungssystems mit ihren Mythen, Legenden und Realitäten in den Blick genommen, da die Internationalisierung im Bildungswesen zunehmend an Bedeutung gewinnt: Stichworte GATS-Abkommen und Bologna-Prozess für einen europäischen Hochschulraum sowie der Lissabon-Prozess der EU. Setzt sich das Paradigma des öffentlichen oder privaten Bildungssystems durch und lohnt es sich, für einen politischen Konsens um ein öffentliches Bildungssystem zu streiten?
Gewünscht hätte ich mir als Tagungsteilnehmer auch die Präsenz von Vertretern der freien Schulen, allen voran der Waldorfschulen sowie der nahestehenden Organsiationen, die für die Freiheit im europäischen Bildungswesen eintreten. In diesem Forum hätten sie engagierte Mitstreiter und offene Ohren vorgefunden für zukunftsfähige und menschengemäße Wege in der Bildung und Erziehung, losgelöst von den Interessen von Staat und Wirtschaft.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verwirklichen durch eine soziale Dreigliederung
Wenn es irgendwo in der breiteren Öffentlichkeit und in der Zivilgesellschaft Interesse an Alternativen und eine unbefangene Aufnahme neuer zukunftweisender Ideen und Konzepte im Sinne der sozialen Dreigliederung gibt, dann auf einem so zusammengesetzten Perspektivenkongress wie diesem in Berlin, wo um derartige Zukunftsfragen allenthalben kreativ gerungen wurde. Umso bedauerlicher, dass wegen der Überfülle an Themen, Angeboten und Gruppen mehrere vom Netzwerk Soziale Dreigliederung angebotene Workshops und Vorträge von den Veranstaltern auf einen 2-stündigen Workshop vor Mittag reduziert wurde: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verwirklichen durch eine soziale Dreigliederung“ mit Sylvian Coiplet, Stefan Reeder und Michael Wilhelmi als Referenten, mit immerhin 20 interessierten Teilnehmern.
In aller Kürze wurde in komprimierter Form die Verwirklichung der Dreigliederungsideale nicht nur als abstrakte Schlagworte, sondern in ihren wirksamen Zusammenhängen dargestellt Brüderlichkeit im Sozialen, in der Zusammenarbeit und Wirtschaft; Gleichheit vor dem Recht, in der allgemeinen Regelung der menschlichen Beziehungen zueinander; Freiheit im mündigen Einsatz der individuellen Fähigkeiten der Menschen. So lassen sich die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft und von Wirtschafts- und Parteiinteressen abhängige Regierungen überwinden. Es wurde verdeutlicht, dass in einer brüderlichen Wirtschaft nur durch menschliche Arbeit hergestellte Waren und Rechte an Waren käuflich sind, nicht jedoch sonstige Rechte, Unternehmen, Organisationen oder Verfügungsgewalt über Menschen. Es wurde der Frage nachgegangen, wo sind Einzelurteile angebracht und wo Mehrheitsurteile?
Die sehr lebendige Diskussion mit vielen Fragen verlief leider etwas chaotisch, weil sich die drei Referenten nicht über die Moderation und die jeweiligen Diskussionsbeiträge abgesprochen hatten und ins Gehege kamen oder gegenseitig ins Wort fielen - und weil aus meiner kritischen Zuhörer-Sicht etwas zu sehr dozierend und belehrend auf die Teilnehmer eingeredet wurde, bei gleichzeitigem Abschneiden ihrer Wortmeldungen oder Einwendungen, so dass die Gesprächskultur etwas abglitt und in anderen Workshops mehr teilnehmerorientiert war. Dies mag mit daran gelegen haben, dass in der Kürze der Zeit improvisiert werden musste und viele Fragen nur kurz angerissen oder oberflächlich angeschnitten werden konnten. Ein älterer Teilnehmer mahnte eine spirituelle Betrachtungsweise an. Für Vertiefungen standen aber die Referenten danach zur Verfügung und verteilten eine schriftliche Einführung in die soziale Dreigliederung.
Öffentliche Güter unter Druck – Privatisierung von Politik und Erosion von Demokratie
Selber war ich mit den Mitstreitern von ver.di NRW auf dem Kongress und vorher von den zentralen Veranstaltern als Personalratsvorsitzender und Vertreter von ver.di und attac auf das Podium im Hörsaal gebeten worden zum Thema: „Öffentliche Güter unter Druck“, zusammen mit Rainer Plassmann als Vertreter des Europäischen Verbandes öffentlicher Unternehmen (CEEP), mit Doris Schuepp, Vizepräsidentin der schweizerischen Gewerkschaftsbundes und Generalsekretärin des Schweizerischen Verbandes Öffentlicher Dienste, ferner mit Prof. Christoph Scherrer von der Universität Kassel und mit Angela Pfister vom Österreichischen Gewerkschaftsbund und Mitglied des Wirtschafts- und Sozialausschusses der EU als Moderatorin. Thema war die allgegenwärtige heftige Kontroverse um die öffentliche Daseinsvorsorge und deren künftiger Gestaltung sowie die Frage nach den Kräften, die hinter den Kommerzialisierungsbestrebungen stehen.
Rainer Plassmann, der auf EU-Ebene mitverhandelt hat, stellte die konkreten Gefahren und Auswirkungen der EU-Dienstleistungsrichtlinie als „innereuropäisches GATS“ für die öffentlichen und kommunalen Betriebe und Unternehmen und die künftigen Ausschreibungen dar – ein weiterer Zugriff auf die dem Wettbewerbsrecht unterworfenen öffentliche Dienste in einer konzertierten Aktion Mit dem Begriff der „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ werden öffentliche und private Unternehmen gleichgestellt und sind auch gleich zu behandeln, ohne Rücksicht auf den Gemeinwohlcharakter der öffentlichen Dienstleistungen, so dass es sich in Wirklichkeit um eine Schwächung in der Rechtstellung öffentlicher Unternehmen handelt und um eine Stärkung privatwirtschaftlicher Verwertungsinteressen. Bei der öffentlichen Auftragsvergabe führt das zu Zwangsausschreibungen mit Ungleichbehandlung.
Prof. Christoph Scherrer erwies sich ebenfalls als profunder Kenner des Themas GATS und von Globalisierungsfragen, der sich seit geraumer Zeit mit der Frage der öffentlichen Daseinsvorsorge du den internationalen Entwicklungen der Privatisierung befasst. Er beantwortete die Frage nach den Auswirkungen der Privatisierungswelle auf die flächendeckende Versorgung und ihre Qualität sowie nach den Alternativen zu der Vermarktung öffentlicher Dienste. Doris Schuepp berichtete von ihrem erfolgreichen Kampf in der Schweiz gegen die Strommarktliberalisierung. Sie war die Promotorin des erfolgreichen Bürgerentscheides im Jahre 2002.
Mir wurde der Part übertragen, über die Erfahrungen deutscher Betriebs- und Personalräte mit der Privatisierung öffentlicher Dienste sowie über die daraus resultierenden Probleme für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst zu berichten, ferner Alternativen und Lösungsansätze aufzuzeigen und Ansätze für eine effizientere Gestaltung des öffentlichen Sektors bei gleichzeitiger Garantierung der flächendeckenden Versorgung darzulegen. (Hierzu habe ich auch eine 12-seitige Ausarbeitung erstellt, die unter Wilhelm.Neurohr@web.de abrufbar ist). Bei der lebhaften Diskussion im Saal wurde auch eine Stärkung von Elementen der direkten Demokratie vorgebracht und eine Initiative gab ihr Vorhaben bekannt, sich für einen wieder öffentlichen statt privatwirtschaftlichen Betrieb der deutschen Bahn AG einzusetzen und Unterschriften dafür zu sammeln, da die privatisierte Bahn AG umfangreicher subventioniert werde als vormals die staatliche Deutsche Bahn.
Instrumente direkter Demokratie zur Sicherung der Daseinsvorsorge war deshalb Thema eines weiteren Workshops. Prof. Bodo Zeuner befasste sich überdies in einem Vortrag, den ich besuchte, mit der Frage der Privatisierung von Politik bei gleichzeitiger Erosion von Demokratie: Die Politik des Marktradikalismus drohe jede Politik aufzulösen. Wo angeblich keine Alternativen bestehen, gibt es auch keinen Raum für Entscheidungen, Kontroversen, Kritik, öffentliche Diskurse und Partizipation der Bürgerinnen und Bürger. In Wirklichkeit werde weiter Politik gemacht, aber politische Herrschaft entziehe sich immer mehr der Anforderung demokratischer Legitimation. Sie tarne sich als privat-ökonomische Verfügungsgewalt, unterstützt von einer selbst zur Herrschaftsinstanz gewordenen Wissenschaft, insbesondere die Wirtschaftswissenschaft werde zur Ersatzreligion, gestützt durch die Privatisierung der politischen Kommunikation durch die Medien.
Informationsfreiheit, Kultur sowie Instrumente direkter Demokratie und der Mythos Demografie
Gefährdet ist so auch die Informationsfreiheit. Eine freie Informationsgesellschaft statt Monopolisierung von Infrastruktur und Wissen wurde diskutiert, auch die Entwicklung zu weniger Freiheit und Zensur im Netz, zu digitalem Rechte-Management und Softwarepatenten anstelle freier Software und öffentlicher Infrastrukturen. Ein weiterer Workshop von der attac-AG Medien in Berlin befasste sich mit dem Zusammenhang von Macht, Wirtschaft, Medien und Politik: Medien spiegeln das intellektuelle und politische Klima eines Landes wieder. Strukturen, Selektions- und Darstellungsmechanismen der Mediensegmente gestalten maßgeblich den öffentlichen Diskurs, insbesondere das Leitmedium Fernsehen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen trägt seinem gesellschaftlichen und verfassungsrechtlich verankerten Auftrag in Anbetracht der immer komplexer werdenden Zivilgesellschaft nicht mehr Rechnung, das bewies auch die mangelnde Berichterstattung über diesen großen Perspektivenkongress. Allein eine Berliner Tageszeitung würdigte in ihrem Leitartikel auf der Titelseite die aus dem Kongress mit hervorgegangene Einführung einer Komplementärwährung als Regionalgeld für Berlin, den „Berliner“.
Die Frage wurde aufgeworfen, ob auch Medien der Gegenöffentlichkeit nötig und möglich sind und welchen Beitrag sie leisten können. Weitere Kongressthemen waren Kunst und Kultur, auch die Kulturpolitik in Land und Kommune nach dem Motto: „Der letzte macht das Licht aus...“, denn Hauptleidtragende der rigorosen finanziellen Streichpolitik in de Kommunen sind die Träger von Kunst und Kultur – öffentliche Theater und Bühnen, Musikschulen, freie Kunst- und Theaterszene, bildende Künstler, Schriftsteller usw. Vielfach gehen die existenzbedrohenden Einsparungen an die Substanz und Existenz. Auch hier stellten sich die Fragen nach Alternativen und Gegenwehr. Gegenbewegung brauch Visionen und Aktionen.
Zu en Aktionsfeldern gehören auch Instrumente der direkten Demokratie wie Bürger- und Volksentscheide zur Sicherung der Daseinsvorsorge, wie von ver.di Hamburg am Beispiel des Hamburger Volksentscheides „Gesundheit ist keine Ware“ dargestellt, bei dem es gegen den Verkauf eines städtischen Krankenhauses ging und um das Entwickeln einer Perspektive.
Ein anderer zentraler Aspekt wurde auf dem Kongress in einem Vortrag aufgegriffen, den ich besuchte: Seitdem die demografischen Veränderungen als Vorwand für die angebliche Notwendigkeit von Sozialabbau, insbesondere der Rentenleistungen genommen werden, weist Norbert Reuter vom ver.di-Ressort Wirtschaftspolitik nach, dass die Altersquotienten keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Probleme geben und dass die Demografie keinen Sachzwang bedeute, ja, dass es sogar mehr statt weniger zu verteilen gebe, denn „Produktivität schlägt Demografie“. Es komme nicht auf die Altersquote an, sondern auf den Gesamtquotienten: Die 31% nicht Erwerbstätigen in 2002 (Alte und Kinder zusammen) sinken bis 2050 auf 26%. In Deutschland haben wir derzeit die niedrigste Frauenerwerbsquote in Europa, die deutlich hin zu mehr Erwerbsfähigkeit steigen wird, da wir heute nur 69% Erwerbsfähige haben. Würde zudem die Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahrzehnten abgebaut, wären mehr Menschen erwerbstätig als heute. Mit der ohnehin steigenden Produktivität können wesentlich mehr Nichterwerbstätige mit unterhalten werden als bisher, zumal wir den größten demografischen Wandel bereits hinter uns haben und nicht vor uns, so dass Alterung nichts neues ist. Die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung ist deutlich gestiegen und steigt weiter, so dass weniger erwerbstätige Menschen mehr Werte schaffen, die zur Verteilung für alle verfügbar wären. Außerdem kann die momentane Geburtenrate nicht einfach in die Zukunft verlängert werden, zumal mit dem erweiterten Europa die Lebensräume und damit die Bevölkerung Europas sich durchmischen werden, also die räumliche Konzentration der Alten durch Verjüngung infolge von lebensräumlicher Mobilität aufgebrochen wird. Diese Erkenntnisse lassen eine andersartige Rentenreform ohne demografische Abstriche zu. Der Mythos Demografie gehört in das Feld der neoliberalen Zweckpropaganda.
Gemeinsames prozesshaftes Lernen aus unterschiedlichsten Denkrichtungen mit den Leitwerten: Demokratie und universelle Menschenrechte
Die Themenpalette des Kongresses reichte noch viel weiter, als hier darstellbar, z. B. auch von den Perspektiven der Migration über Frauen- und Menschenhandel in Deutschland als Knotenpunkt täglicher sklavenähnlicher Ausbeutung bis hin zur Frage der transnationalen sozialen Rechte und ihrer Verteidigung oder Aneignung, über die Frage der Verteilungsgerechtigkeit hinaus. Der Abschlusstag am Sonntag begann mit einem Vortrag von Prof. Nowotny aus Wien über ein alternatives ökonomisches Modell für Deutschland und Europa mit Überlegungen zur Steuergerechtigkeit und für eine Zukunft der öffentlichen Daseinsvorsorge, setzte sich fort mit einem Grußwort aus dem Süden von Prof. Ariel Salleh von der Universität Melbourne und mündete in einem großen Abschlusspodium mit dem ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske, mit Hugo Braun von der Initiative für ein deutsches Sozialforum, mit Kerstin Sack von attac und Nele Hirsch (fzs) sowie ein Vertreter des Sozialverbandes, moderiert von Beate Wilms von der Taz. Sie befragte die Podiumsteilnehmer nach 2-3 vordringlichen und kurzfristigen sowie längerfristigen Perspektiven und wollte wissen, wie sich das auf diesem Kongress gebildete Bündnis politisch einbringt, mit welchen Aktions- und Protestformen und evtl. zivilem Ungehorsam gegenüber der Mauer von Ignoranz. Leider ignorierte die Moderatorin in unsensibler Weise den Willen des Publikums und strapazierte seine Geduld, auch als Vertreter einer Erwerbsloseninitiative protestierten, dass kein Betroffener mit auf dem Podium sitzt. Ver.di-Chef Frank Bsirske löste die Diskussion darüber unbürokratisch: Er holte kurzerhand einen Stuhl aus dem Publikum und bat unter dem Beifall des Auditoriums kurzerhand den Sprecher der protestierenden mit auf das Podium.
Die Frage, was die Anwesenden aus den 80 unterschiedlichen Einzelorganisationen und Initiativen überhaupt eint, erbrachte folgende Übereinstimmungen: Unbehagen an der Einheitspartei-Politik der im Bundestag vertretenen Parteien, der Widerstand gegen die Schrumpfung öffentlicher Bereiche durch den Neoliberalismus und gegen die Einschränkung der Demokratie sowie gegen die Bereicherungschancen für einige wenige ferner , das Engagement für mehr Bürgerbeteiligung und das Streben nach Alternativen sowie die Suche nach Experimentierbaustellen und das gemeinsame prozesshafte Lernen mit den Leitwerten Demokratie und universelle Menschenrechte. Einig war man sich auch darin: Vielfalt ergibt produktive Spannungsverhältnisse und aus Differenzen ergibt sich Klärungsbedarf. Nur Protest gegen etwas sei zu gering, vielmehr habe sich mit diesem Kongress ein politischer Raum geöffnet. Die Zielrichtung sei nicht die Wiederherstellung von Altem, sondern zukunftsfähige Alternativen und ein mehr an Demokratie und Menschenrechten. Gemeinsam will man sich den Herausforderungen stellen, „ohne revolutionäre Sonntagsreden, die in der Alltagspraxis blamiert werden“. Eine sozialverträgliche Ökonomie im dritten Sektor sei zu entwickeln, mit längeren Zeitperspektiven für Veränderungen. „Die Welt verändert sich sonst ohne uns“.
Ganz zum Schluss der Fragen und Beiträge aus dem Plenum, nach Zeitüberschreitung und sich schon leerendem Saal, verlangte ein Diskussionsredner an unpassender Stelle lautstark und beinahe missionarisch eine „spirituelle Orientierung“ dieser sozialen Bewegung. So unvermittelt und ungeschickt ohne Kontext in den unruhigen Raum gestellt, erntete die „Forderung“ den Unmut, die Heiterkeit und die Ablehnung der strapazierten Zuhörer, die an den 3 Tagen bewiesen hatten, dass sie durch die Art und Weise der Menschenbegegnung durchaus spirituell bewegt und durchdrungen waren, wie an der gesamten Tagungsatmosphäre spürbar war, wie man sich aufeinander eingelassen hat und miteinander umgegangen war: Stärke, Kraft und Kreativität aus der Vielfalt, jenseits von Feindbildern, auf der Suche nach neuen Wegen und Qualitäten auch im eigenen Verhalten, mit einer Fundgrube von Anregungen, mit denen unterschiedliche Perspektiven zu einer sozialen Gesamtperspektive verschmelzen und mit denen eine bunte Bewegung gemeinsame Visionen erarbeitet hat, damit die Tagesprobleme mit Perspektiven verknüpft werden.
Wie geht es konkret weiter?
Die Abschlussfrage, die alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie die Veranstalter gleichermaßen bewegte, war diejenige, wie es nach diesem Kongress weitergeht. Wollen wir mehr werden bei der Bündnispolitik? Verstehen wir uns als autonome außerparlamentarische Opposition? Wie kann der Impuls dieses Kongresses nun in den lokalen Austausch gelangen und auch zu einer breiten Volksbildungsbewegung werden, da die gesellschaftlichen Verhältnisse nach Veränderungen schreien? Und wie kann auch die stark vertretene Gewerkschaftsbewegung ein neues Profil erlangen und sich aus parteipolitischen Bindungen lösen, um eine eigenständige Rolle in der Zivilgesellschaft zu suchen? Wie Können die erarbeiteten Perspektiven in die lokale und regionale Verbreitung und Vertiefung gelangen? Geplant sind regionale Kongresse, für die von den Mitträgern Expertisen und Referenten zur Verfügung gestellt werden.
Diese und weitere Fragen wurden bei dem anschließenden Vernetzungstreffen nach dem Perspektivenkongress diskutiert, um den Vernetzungsgedanken und die Alternativmodelle zunächst in die eigenen Organisationen hineinzutragen, eine Regionalisierung der Perspektivendiskussion hinzubekommen und die Mitarbeit in lokalen Sozialbündnissen und Sozialforen zu verstärken, zugleich die Sozialforumsprozesse in Deutschland und Europa zu unterstützen. Eine thematische Zusammenarbeit bei ausgewählten Schwerpunktthemen wurde verabredet, die bereits im Herbst dieses Jahres in gemeinsame Kampagnen münden sollen: Eine Kampagne gegen Sozialabbau und Hartz IV und für Existenzsicherung und eine echte Bürgerversicherung, eine weitere Kampagne gegen Arbeitszeitverlängerung und für Arbeitszeitverkürzung in Verbindung mit einem anderen Arbeitsbegriff, eine Kampagne gegen die Privatisierung und für öffentliche Güter sowie Steuergerechtigkeit, ferner eine Kampagne gegen Ausgrenzung und für globale soziale rechte, Antidiskriminierung, Integration und Solidarität, schließlich eine Kampagne gegen Neoliberalismus und für Wiederaneignung („Es ist genug für alle da! Zeit zum Umverteilen!“). Weitere Aktionsfelder wurden angesprochen: Anders leben, arbeiten, konsumieren und solidarisch wirtschaften, gegen Standortkonkurrenz. Einzelkampagnen gegen die Wasserprivatisierung wurden erwogen u.a.m.
Jetzt kommt es auf die handelnden Menschen vor Ort an, denn eine Veränderung der Welt findet entweder durch sie statt oder sie findet gar nicht statt. Für die Teilnehmer des Netzwerkes soziale Dreigliederung war erfahrbar, dass die Offenheit und das latente Verständnis für dreigliederungsgemäße Ansätze wohl selten so groß war wie in dieser Zeit und in solchen Zusammenhängen und Menschenkreisen, so dass sich die Perspektive auftut: Jetzt ist Dreigliederungszeit in der Zivilgesellschaft, damit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit an die richtige Stelle gelangen.