Je mehr sich der Staat und die Kommunen mit dem Verweis auf „leere Kassen“ aus den sozialen und öffentlichen Gemeinschaftsaufgaben zurückziehen, desto mehr verstärken sich die sozialen Probleme in der Gesellschaft. In einem funktionierenden Gemeinwesen kann sich jedoch eine soziale Gemeinschaft nicht alleine auf den Staat oder auf den Markt verlassen. Weder der Rückzug ins Private noch die Privatisierung öffentlicher Aufgaben im Sinne von „Kommerzialisierung“ dienen der Problemlösung. Eine aktuelle Studie belegt nun: Es gibt ein unerschöpfliches Reservoir an Menschen, die längst ohne Entlohnung gemeinnützige Tätigkeiten verrichten nach dem Motto: „Der Staat sind wir“. Ohne das freiwillige ehrenamtliche Engagement wäre die gesellschaftliche Solidarität längst am Ende. Eine vernetzte Gesellschaft aktiver Bürgerinnen und Bürger grenzt niemanden aus, sondern bezieht jeden ein – in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Rund 35% aller Deutschen engagieren sich unentlohnt in fast allen gesellschaftlichen Bereichen, manche sogar parallel in mehreren Aufgabenfeldern. Insgesamt über 20 Millionen Menschen aller Altersgruppen übernehmen auf freiwilliger Basis individuelle Verantwortung für die Gemeinschaft. Es stimmt auch nicht das Vorurteil, dass sich die Jugendlichen in der „Spaßgesellschaft“ als Egomanen betätigen, denen das Wohl der Allgemeinheit gleichgültig ist. Vielmehr engagieren sich die 14- bis 24-jährigen sogar häufiger als die Restbevölkerung. Diese Erkenntnisse sind durch eine noch unveröffentlichte Studie des Bundesfamilienministeriums („Freiwilligensurvey“) gewonnen worden.
Die oft beschworene Krise des Ehrenamtes, also das angebliche Nachlassen des freiwilligen Engagements, trifft laut Studie so nicht zu. Es findet lediglich ein Strukturwandel statt, eine Abkehr von den traditionell an Vereinen gebundenen, oft lebenslangen Ehrenämtern in etablierten Organisationen. Der „Ehrenamtliche neuen Typs“ beteiligt sich lieber an selbst initiierten praktischen und konkreten Projekten für eine bestimmte Episode, weniger an Vereinigungen mit abstrakten allgemeinen Zielsetzungen wie Demokratie oder Bürgerrechte. Festzustellen ist auch das zunehmende Engagement der älteren Menschen, deren Anteil an der Bevölkerung wächst und deren Rüstigkeit zunimmt. Besonders stark ausgeprägt ist ehrenamtliches Engagement bei den sozial integrierten Menschen in den gut ausgebildeten und gut verdienenden Mittelschichten mit eigenen Kindern, am geringsten bei den Arbeitslosen, obwohl die Zahl der gesellschaftlich engagierten Erwerbslosen steigt, da sie oftmals ihre brach liegenden beruflichen Fähigkeiten dabei einbringen können.
Ein erneuertes Verhältnis zwischen Individualität und Gemeinschaft
Aus dem im Abbau befindlichen Sozialstaat erwächst nicht automatisch, sondern nur durch freien Entschluss der sozial Handelnden eine starke Bürgergesellschaft, die hoffen lässt, dass sich nicht immer mehr Menschen in eine isolierte Privatheit zurückziehen und aus den öffentlichen Angelegenheiten aussteigen, um sich nur noch der individuellen Existenzsicherung und Bedürnisbefriedigung zu widmen. Eine Gesellschaft könnte ohne ein öffentliches Leben ihrer einzelnen Mitglieder dauerhaft nicht funktionieren, im Gegenteil: die Gemeinschaft lebt von den individuellen Fähigkeiten und Handlungen der Einzelnen. Die einstmals staatlich organisierte Sozialität und Solidarität, die der neoliberalen Ideologie um Opfer gefallen ist, kann aus der Bürgergesellschaft heraus in Eigeninitiative neu belebt werden. Eine starke Bürgergesellschaft könnte eine Stärkung statt Schwächung des Staates bewirken, indem die Stärken und Betätigungen des Einzelnen zu einer neuen Gemeinschaftsbildung in einem sozialen Netzwerk beitragen, welches das Staatswesen verändert durch ein verändertes Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden und eine neue individuelle Moral und Ethik.
Dennoch wäre es ein Fehler, zu glauben, man könne alle sozialen Einrichtungen des Staates alter Prägung abschaffen, indem nicht mehr zwischen Ehrenamt und staatlichen Aufgaben in einer Rechtsgemeinschaft unterschieden wird. Gerechtigkeit und Solidarität in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen stellen sich nicht von alleine ein, zumal wir von einer assoziativen Wirtschaft mit einer sozial ausgleichenden Verteilungsfunktion noch weit entfernt sind. Das Ehrenamt kann nicht staatliche Organisation und originäre staatliche Aufgaben völlig ersetzen – im Gegenteil: das Ehrenamt gehört zum Kulturellen Leben einer Gesellschaft und hat dort seine Funktion und Wirkung, als Ausdruck für den sozialen und kulturellen Zusammenhalt sowie die Lebendigkeit und nachhaltige Zukunftsfähigkeit eines Gemeinwesens .
Soziales Engagement kann nicht nur auf der Logik bauen, damit das eigene Überleben zu sichern und im Gegenzug Helfer für sich zu finden oder als Helfer für andere das befriedigende Gefühl der Selbstlosigkeit zu erleben. Das eigene Leben an einem gewählten moralischen Standard auszurichten, dient weniger der Selbstvervollkommnung als „Gutmensch“ als vielmehr in Nächstenliebe der Frage, wie zu gesellschaftlichen Zuständen beigetragen werden kann, mit denen Güte ermöglicht wird inmitten unguter gesellschaftlicher Verhältnisse. Dazu gehört auch das Eintreten für die Schwachen, Benachteiligten und Unterdrückten aus eigener ethischer Entscheidung, damit die öffentlichen Güter nicht noch weiter unter Druck geraten. So ist der ethische Individualismus nicht nur ein Erkenntnishaltung, sondern ein tägliches und lebenslängliches Handlungsmotiv im Spannungsfeld zwischen Individualität und Gemeinschaft, denn jede lokale und regionale Handlung aus Freiheit und Liebe in freiwilliger Gemeinschaft mit anderen hat Auswirkungen auf die gesamte Menschheit und das Weltgeschehen.