Das Projekt ‹Spirituelle Orte im Ruhrgebiet› wurde 2002 ins Leben gerufen. Orte des Unsichtbaren sichtbar zu machen, ist ein Anliegen der Initiatoren. Stadtentwicklung durch Belebung spiritueller Orte in den alten Industriestädten sowie In-Wert-Stellen von Orten, die zur Stille, zur Konzentration und zur Orientierung nach innen einladen sowie die regionale Identität erweitern - so lauten die Zielstellungen dieses Projektes.
Eine öffentliche ‹Zukunftskonferenz spirituelle Orte im Ruhrgebiet› im März 2002 mit 50 Schlüsselpersonen aus den Bereichen Wirtschaft, Kirche, Kultur, Stadtverwaltung sowie Stadtentwicklung und eine Folgekonferenz in der Alten Synagoge der Ruhrgebietsmetropole Essen mit rund 350 Teilnehmern brachten ein ungewöhnliches Projekt auf den Weg, das mittlerweile die Menschen in der alten Industrieregion Ruhrgebiet immer mehr ergreift. In Kooperation mit der Universität Duisburg-Essen, dem Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen und mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie vielen weiteren Akteuren wurde ein bemerkenswerter Prozeß in Gang gesetzt, der in einer nüchternen materialistischen Zeit und Umgebung mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit aufgenommen und weiterentwickelt wird. Aus der ersten Konferenz ging ein Unterprojekt hervor: 100 Orte für Spiritualität im Ruhrgebiet.
Aufspüren spiritueller Orte
Es war der slowenische Bildhauer und Geomant Marko Pogacnik (‹Goetheanum› Nr. 5/2003), der als Vortragsredner auf der ersten Konferenz, vor dem Hintergrund seiner durchgeführten Lithopunktur-Projekte in mehreren Ländern und Regionen und die noch umzusetzende Planung im Ruhrgebiet, entscheidende Impulse gab für dieses ungewöhnliche Projekt und zur Belebung der Essener Stadtlandschaft. Er wies bei der (Wieder-)Belebung der spirituellen Orte auch auf die besondere Rolle der Landschaft als vielschichtiger Organismus und lebendiges Wesen hin. Inzwischen markieren mehrere Skulpturen verschiedenere Künstler im Essener Stadtgebiet bedeutende spirituelle Orte.
Im Dezember 2004 fand eine Open-Space-Veranstaltung über neue Pfade zu spirituellen Orten statt und im Juli 2005 ist eine spirituelle Sommerakademie auf der Museumsinsel Hombroich geplant, später auch ein Symposium an der Universität Essen. Ein weiteres eigenständiges Projekt mit dem Titel ‹Nachhaltigkeit und Religion - eine Pilgerreise› begibt sich auf drei Wegen zu seinen Zielen: Wissenschaft und Religion, Wissenschaft und Schule sowie Wissenschaft und Praxis. Gesucht werden wissenschaftliche und religiöse Erklärungen und Erkenntnisse zu den Themen Weltverständnis und Menschenverständnis, Religion und Schöpfer, Sakramente, religiöses Naturverständnis und Nachhaltigkeit, Schöpfung und Belebung von Landschaften, interreligiöser Dialog und naturwissenschaftliche Welterkenntnis sowie theologisch-philosophische Reflexion über das ‹In-der-Welt-Sein›.
Die maßgebliche Initiatorin, die Politikwissenschaftlerin und Professorin Barbara Mettler-von Meibom, hat das Projekt im weiteren Verlauf als Kommunikationsprojekt angelegt, das zu Eigenaktivitäten und weiteren Einzelprojekten anregt. Über 100 spirituelle Orte wurden bisher im Ruhrgebiet mit breiter Beteiligung der Bevölkerung ausfindig gemacht. Sogar einem Büroturm wurden als Ort der Meditation spirituelle Qualitäten zugesprochen.
Wiederbelebung von Spiritualität
Zu den genannten spirituellen Orten gehören christliche wie nichtchristliche sakrale Orte - zum Beispiel der Essener Dom, die Domschatzkammer, die Alte Synagoge in Essen, der hinduistische Tempel oder das buddhistische Zentrum -, ebenso wie künstlerische Orte - das Ikonenmuseum in Recklinghausen oder das Folkwang-Museum in Essen -, aber auch archäologische Stätten, revitalisierte Stadtlandschaften, Naturorte mit alten Bäumen, Wäldern, Hügeln, Gewässern sowie nicht zuletzt viele zu Kulturstätten verwandelte ehemalige Industriebauten im Ruhrgebiet, wie die alte Zeche ‹Zollverein› als Weltkulturerbe, in der auch Anthroposophen aus Nordrhein-Westfalen im vorigen Jahr ein künstlerisches Begegnungsfest veranstaltet hatten.
Den Beteiligten dieses Projekts geht es um die (Wieder-)Belebung von Spiritualität, indem durch die Befassung mit spirituellen Orten zu gelebter Spiritualität eingeladen werden soll. Das Anliegen, Spiritualität im Alltag zu leben und zu tun, fand bisher große Resonanz bei den Menschen im alten Industrierevier Ruhrgebiet.
So besuchten fast 4000 Menschen im Rahmen des Kulturevents ‹ExtraSchicht› im Ruhrgebiet im vorigen Sommer die eigens hergerichtete und in einen spirituellen Ort verwandelte Gebläsehalle der Henrichshütte, ein stillgelegtes Stahlwerk in Hattingen an der Ruhr, das im Januar abgerissen wurde. In der mit 60 Bäumen von über 50 Meter Höhe und 100 Sträuchern ausgestalteten Industriehalle mit ihrem besonderen Ambiente fanden vielfältige Aktivitäten statt, wie beispielsweise Gesang und Tanz aus allen spirituellen Traditionen und eine mobile Malwerkstatt. Darüber hinaus gab es ein begehbares Labyrinth, einen Meditationsraum, Informationstafeln zu den spirituellen Orten, ein Fotoprojekt und manches mehr. Ein Klavierkonzert und ein nächtliches Theaterprojekt verhalfen ebenfalls zur Überschreitung der ‹Kraft des Alltäglichen› zugunsten einer ‹Kraft des Spirituellen›.
Bei den verschiedenen Veranstaltungen wurde erlebbar: Spirituelle Orte sind überall dort, wo wir sie suchen. Nicht jeder Ort wird als spirituell wahrgenommen oder mit Spiritualität in Verbindung gebracht, ohne gewisse Strahlkraft oder das ‹gewisse Etwas›.
Was ist ein spiritueller Ort?
Das Projekt wirft viele Fragen auf: Ist Spiritualität überhaupt an ‹heiligen Orten› oder in ‹heiligen Räumen› zu finden, oder ist das Kennzeichen von Spiritualität nicht ihre ‹Raumvergessenheit›? Ist ein Ort an sich spirituell, oder wird er erst durch den Menschen spirituell wahrgenommen? Sind spirituelle Orte überall dort, wo wir sie suchen? Können von einem Erdenort zumindest äußere Inspirationen ausgehen, die den Menschen innerlich ergreifen? Erweist ein spiritueller Ort seine Wirkung erst durch das Berührtsein von Herz und Seele im menschlichen Inneren für diejenigen Menschen, die dafür geistig-seelische Organe ausgebildet haben, während er den davon nicht ergriffenen Menschen als ein ganz gewöhnlicher Erdenort erscheint? Gibt es Orte in der Welt, die dauerhaft über die Nähe des Christus verfügen?
Ist der ‹Geist des Ortes› erlebbar, wenn der ganze Mensch als Wahrnehmungsorgan auftritt? Ist ein spiritueller Mensch in der Lage, Zwiesprache mit seiner Umgebung zu führen, in der Erkenntnis, daß es eine Wechselwirkung von Innen und Außen, von Geistigem und materieller Umwelt gibt, da die natürliche und die gebaute Umwelt als Gottes- oder Menschenschöpfung geistig durchdrungen sind? Prägt nicht der Mensch die Umwelt und umgekehrt die Umwelt den Menschen, als geistig-seelisches Wechselspiel, bis hinein ins Physische? Ist somit nicht jeder Ort spirituell, der die Ganzheit und das All-eins-Sein dieser Welt an jedem Ort wahrgenommen werden kann? Ist nicht jeder Ort, an dem der Geist des Menschen sich materialisiert hat, in Häusern, Kirchen, Industriebauten oder Landschaftsgestaltungen, spirituell, da jede Handlung des Menschen aus dem spirituellen Geist entsteht? Vielleicht hilft die lateinische Bedeutung von ‹Spiritus› weiter: bewegte und strömende Luft; im eigentlichen Sinne unklar, insbesondere: Atmen, Atemzug, Atem, Seufzen, Lebensluft, Seele, Geist, Weltseele, Gesinnung, Sinn, Begeisterung, Schwung, Selbstgefühl, hoher Geist, Mut, Übermut, hochfahrendes Wesen, Hochmut, Aufgeblasenheit, Stolz, Unwille, Erbitterung....? Eine weite Suche nach dem beweglichen Geist in seiner erdenräumlichen Entfaltung?
Sensibilisierung für öffentliche Orte
Bei der Projektarbeit ‹Spirituelle Orte im Ruhrgebiet› erfolgte vor dem Hintergrund der entstandenen Fragen allmählich ein Paradigmenwechsel. Es geht mehr um Spiritualität als um Orte, um die Wertschätzung vorhandener Spiritualität und das Ermöglichen neuer Spiritualität: Über den Ortsbezug zur Kommunikation und Aktion, mit Vernetzung der spirituellen Initiativen und Gruppen und mit einer Wissenserweiterung nach innen und außen. Es geht vor allem um die (Wieder-)Belebung von Spiritualität durch das Befassen mit Orten, die zur Spiritualität einladen. Dies soll im Projektverbund erfolgen. Spirituelle Orte als äußere Gegebenheiten, an denen der Mensch seine innere Verbundenheit mit der Ganzheit dieser Welt erlebt, welche die individuelle spirituelle Entwicklung gefördert haben oder dem einzelnen Spiritualität vermitteln können. Es geht also um Sensibilisierung für öffentliche Orte, die Spiritualität wecken und fördern und damit innere Räume der Spiritualität öffnen, die dann Impulse für das eigene Leben auslösen. Diese können dann gelebt werden - auch im grauen Alltag einer alten Industrieregion, wo rund fünf Millionen Menschen aus über 100 Nationen auf engstem Raum leben.
Persönlich freue ich mich, mit Ruhrgebietsmenschen aus Wissenschaft, Stadtplanung und Landschaftsarchitektur, mit Dombaumeistern, Pfarrern, Künstlern, Unternehmern, Beratern, Pädagogen, Geomanten und Bergleuten in der Arbeitsgruppe ‹Spirituelle Orte im Ruhrgebiet› an höchst spannenden Projekten seit zwei Jahren selbst mitarbeiten zu können. In den anthroposophischen Zweigen in den Ruhrgebietsstädten Hagen und Essen durfte ich über die Spiritualität des Ruhrgebietes und seiner Menschen sowie über seinen Genius loci drei Vorträge halten und auch mehrere Aufsätze im Goetheanum veröffentlichen (‹Goetheanum› Nr. 29-30/1994 und Nr. 50/2001).
Was sich im Ruhrgebiet im Lichte einer großen Öffentlichkeit abspielt, ist in einer an Spiritualität armen materialistischen Zeit zur Nachahmung empfohlen. Denn die Menschen in der nüchternen materialistischen Umgebung und ökonomistischen Weltprägung hungern und dürsten nach Spiritualität, bis hinein in ihre entweihten Lebensorte.