Der in eine Verhandlungsphase überführte „wilde Streik“ bei den Opel-Werken in Bochum, bei dem sich zuletzt 20.000 Menschen aus dem Ruhrgebiet und der ganzen Bundesrepublik mit den verzweifelten Arbeitern solidarisch zeigten, markiert einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit den allmächtigen Weltkonzernen und das Ende nationalstaatlicher und nationalökonomischer Lösungen von Sozial- und Gesellschaftskonflikten. Die soziale Frage ist endgültig zu einer globalen Frage geworden, bei der die lokalen und regionalen Möglichkeiten sowie die künftige Rolle der Verbraucher neu zu bewerten sind. Die Staaten müssen zu einer transnationalen Politik im Bündnis mit den zivilgesellschaftlichen sozialen Bewegungen finden, um sich mit den Standards für weltweite soziale Gerechtigkeit auseinandersetzt, anstatt die neoliberale Politik der transnationalen Konzerne umzusetzen, die diese nicht selbst betreiben können. Anstatt wie ein Kaninchen ängstlich auf die Schlange zu starren, die einen gleich schlucken will, sollten die Veränderungen als gestalterische Herausforderung akzeptiert werden. Insbesondere der Verbraucherbewegung kommt dabei eine globale Schlüsselrolle zu, da sie Veränderungen auch im Sinne der sozialen Dreigliederung bewirken kann.
Mit der Ablösung der staatlich flankierten Nationalölokonomie durch den grenzenlosen Kapital- und Warenverkehrs ist auch die neue soziale Bewegung insgesamt an einem entscheidenden Punkt der Umorientierung angelangt. Hatten sich die inzwischen weitgehend eingestellten Montagsdemonstrationen noch auf den nationalen Wohlfahrtsstaat konzentriert, überzeugt diese Ausrichtung auch viele Mitstreiter nicht mehr, von denen sich Anfang Oktober nur noch 20.000 bei der großen zentralen Demonstration in Berlin gegen den Sozialabbau einfanden, quasi als Schlußpunkt der eindrucksvollen Straßenaktionen des Jahres 2004 in Deutschland.
Die ebenfalls nur 20.000 Teilnehmer des dritten Europäische Sozialforums der Zivilgesellschaft Mitte Oktober in London aus immerhin 65 Ländern - bei den ersten beiden Sozialforen in Florenz und Paris wurden noch jeweils 100.000 Teilnehmer gezählt - kamen auf ihren 400 Seminaren und Kulturveranstaltungen nunmehr zu neuen Erkenntnissen und Überlegungen. Künftig will man sich wieder verstärkt den globalen Hintergründen und Zusammenhängen des Sozialabbaus zuwenden. Hierbei will man auch besonders die Rolle der EU im Handel mit Dienstleistungen ins Visier nehmen, die mit ihrer weltweiten Marktöffnung für die großen internationalen Dienstleistungskonzerne die sozialen Standards der Herkunftsländer für ausreichend hält. Damit würde die beim Opel-Streik zutage getretene Abwärtsspirale bei den Sozial- und Arbeitsstandards sowie Löhnen sich noch schneller und tiefer nach unten drehen.
Der Opel-Streik aus kosmopolitischem Blick: Globales und Lokales sind ohne sichernde Staatsmauern verbunden
Die Opel-Arbeiter in Bochum, die den tragischen Aufstand gegen die neue Weltordnung mit der stumpfen und riskanten Waffe des Streiks versuchten, lenkten die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf ihre schmerzliche Erfahrung, daß das Globale und Lokale direkt und untrennbar durch alle scheinbar sicheren Staatsmauern und Rechtsordnungen hindurch verbunden sind. Während viele noch im nationalen Blick verharren, hält der Münchener Soziologie-Professor Ulrich Beck 1 einen neuen „kosmopolitischen Blick“ für erforderlich, „um das Nächstliegende und Wichtigste zu verstehen, das sich im Innersten unseres alltäglichen Lebens vollzieht und unsere Existenzgrundlage in Frage stellt.“
Wer in dieser Lage nach der Politik rufe, fordere letztlich: „Rettet die Konzerne - damit sie ihre Arbeitsplätze dorthin transportieren, wo sie am billigsten und am besten produzieren können!“ Genau hier liege auch ein Grund für die wachsende Politik- und Demokratieverdrossenheit: „Diejenigen, die wir gewählt haben, sitzen machtlos und ratlos auf der Zuschauertribüne, während diejenigen, die wir nicht gewählt haben, Schlüsselentscheidungen treffen, die unser Leben und Überleben bestimmen.“ Auch der Vorwurf „unpatriotischen Verhaltens“, den nicht nur Bundeskanzler Schröder gegen transnationale Konzerne erhebt, ist nach Auffassung von Ulrich Beck absurd, weil er aus einer anderen Welt komme und nur einmal mehr anzeige, daß die führenden Politiker ihre und unsere Lage in der globalisierten Welt nicht verstehen. Die erste Epoche der Moderne sei vorbei, in der Staat, Gesellschaft und damit auch die Auseinandersetzung von Arbeit und Kapital eine territorial begrenzte Einheit bildeten. In der zweiten Moderne gelte nun diese nationalstaatliche Axiomatik nicht mehr - es zerfallen die in Fleisch und Blut übergegangenen Selbstverständlichkeiten unseres Denkens und Handelns.
„Grenzen sind Grenzen, sollte man meinen. Aber gerade das gilt nicht mehr: Einerseits erhöht die EU ihre Festungsmauern, und der deutsche Innenminister Schily versucht sogar, potentielle afrikanische Asylsuchende in Auffanglagern in Afrika präventiv abzufangen. Andererseits greifen all diese Grenzhybride ins Leere, sind erschreckend inexistent, da in der vernetzten Welt aufgrund der transnationalen Handlungsmöglichkeit der Unternehmen scheinbar ausgeschlossene Andere als Konkurrent um den eigenen Job aktuell oder potentiell allgegenwärtig ist. Der europäische Festungsbau, der Arbeitsmärkte abschirmen soll, folgt dem Schweizer Käse-Modell der Grenze, bei dem bekanntlich die Löcher den Ausschlag geben.“
„Die Kaufentscheidung kann immer und überall in einen Stimmzettel verwandelt werden“ Grenzüberschreitendes Denken und Handeln bricht absurde nationalstaatliche Wirtschaftspolitik auf
Ulrich Beck fragt: „Gibt es überhaupt ein Paradigma der Gegenmacht zum global agierenden Kapital? Wie könnte dieses aussehen?“. Um am Markt zu überleben, müssen sich die Akteure grenzüberschreitenden Einflüssen stellen und selbst grenzüberschreitend denken und handeln. Die Absurdität nationaler Wirtschaftspolitik bricht ungewollt angesichts der drohenden Arbeitslosigkeit bei Opel hervor. Großkonzerne wie Siemens und BMW erwirtschaften inzwischen zwei Drittel oder drei Viertel ihres Umsatzes im Ausland. Das ist gut für die Arbeitsplätze im Ausland, aber schlecht für die Steuern im Inland. Solange wir im nationalen Blick verharren, verstehen wir die Welt nicht mehr. „Am Streik der Opel-Arbeiter kann man gleichsam am lebenden Körper eine der wichtigsten Veränderungen in der Geschichte der Macht beobachten“, meint Ulrich Beck. Es sei die genaue Umkehrung des Kalküls der klassischen Macht und Herrschaftstheorie, wie sie in den Schriften Max Webers niedergeschrieben steht, und diese Umkehrung sei es, das die Machtmaximierung transnationaler Unternehmen ermögliche. Das Zwangsmittel sei nicht der drohende Einmarsch, sondern der drohende Nicht-Einmarsch der Investoren oder ihr Ausmarsch.
Ulrich Beck: „Es gibt nur eines, das schlimmer ist, als von Multis überrollt zu werden: nicht von Multis überrollt zu werden!“ Diese Form der Herrschaft sei nicht länger an die Ausführung von Befehlen gebunden, sondern an die Möglichkeit, anderweitig - in anderen Ländern - günstiger zu investieren, und der dadurch eröffneten Drohkulisse, etwas nicht zu tun, nämlich nicht in diesem Land zu investieren. „Die neue Macht der Konzerne gründet in diesem Sinne gerade nicht - wie die Staatsmacht - auf Gewalt als ultima ratio, um den eigenen Willen anderen aufzuzwingen, und sie ist deshalb viel beweglicher, da ortsunabhängig, und in der Folge dessen global einsetzbar.“ Ulrich Beck gelangt zu der Feststellung, daß das Erpressungspotential dieser Herrschaft die Logik ökonomischen Handelns perfektioniere: immer und überall nein zu sagen, nicht zu investieren, ohne öffentlich begründungspflichtig zu werden - das sei der zentrale Machthebel weltwirtschaftlicher Akteure.
Zum global agierenden Kapital gibt es als Gegenmacht das Paradigma der sozialen Bewegung, die auf dem Einfluss des „politischen Konsumenten“ beruht - diese zutreffende Perspektive entwickelt Ulrich Beck richtigerweise. Denn die Kaufentscheidung kann immer und überall in einen Stimmzettel verwandelt werden, mit dem der Käfer über die Politik der Konzern abstimmt. Die Machtressource der Nicht-Investition entspricht in gewissem Sinne die Machtressource des Nicht-Kaufes, über die jeder einzelne, aber insbesondere transnationale Boykott- und Verbraucherbewegungen verfügen. „Fatal für das mobile Kapital ist es, daß es gegen diese wachsende Gegenmacht der Verbraucher keine Gegenstrategie gibt. Selbst allmächtige Weltkonzerne können ihre Konsumenten nicht entlassen. Auch die Drohung, in andere Länder auszuwandern, wo die Verbraucher noch brav sind, ist ähnlich selbstmörderisch wie der Streik der Opel-Arbeiter gegen die Stillegung ihres Werkes. Transnational vernetzt kann der Konsument also zu einem scharfen Gegenmachtinstrument geformt werden.“ Da die Gewinnspannen der Unternehmen nicht zuletzt auf der Globalisierung des Konsums beruhen, sei die Zerbrechlichkeit der Legitimation die „Achillesferse transnationaler Unternehmen“.
Notwendige Voraussetzungen für ein assoziatives und kooperatives Wirtschaften unter globalen Bedingungen
Ist aber globaler Machtkampf zwischen den Beteiligten am Wirtschaftsleben dasjenige, was Rudolf Steiner mit assoziativer Wirtschaft in Kooperation und Verständigung zwischen Produzenten, Händlern und Konsumenten für zukunftsfähig hielt mit Blick auf eine gesundes Wirtschafts- und Sozialleben? Wir haben heutzutage in Anbetracht der anonymisierten Weltwirtschaft mit dem neoliberalen Marktfundamentalismus und -automatismus zunächst einmal gar keine andere Wahl, als in der Konkurrenzwirtschaft - als einem kranken Wirtschaftsorganismus - mit seinen Macht- und Kapitalkonzentrationen wieder ein gesundes Gleichgewicht zwischen den einseitigen Interessen der großen Weltkonzerne und den vernachlässigten Interessen der Verbraucher herzustellen, um wieder zu einer Aufwertung regionaler Wirtschaftskreisläufe infolge der notwendigen Globalisierung zu gelangen sowie zu einer Rücksichtnahme auf die Überlebensinteressen aller Beteiligten und weltweit voneinander Abhängigen.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es den sozialen Bewegungen - im Sinne von Nicanor Perlas so bezeichneten trisektoralen Partnerschaften - in den letzten Jahren mehr und mehr gelungen ist, in direkten Verhandlungen mit den Konzernspitzen auch Vereinbarungen über Menschenrechtsfragen, Umweltfragen, Fragen sozialer Sicherheit, ja, sogar der Abwanderung von Arbeitsplätzen zu erzielen. Davon können nach Auffassung von Ulrich Beck die Staaten, aber auch die Städte, Gewerkschaften und Arbeitnehmer lernen: Als isolierte einzelstaatliche Akteure sind sie den transnationalen Unternehmen weitgehend machtlos ausgeliefert; nur wenn sie gleichzeitig und sich ähnlich wie die Konzerne uns sozialen Bewegungen auch transnational orientieren und organisieren, könnte es gelingen, ihre Eigenmacht zurückzuerobern. So gesehen muß auch der soziale Dreigliederungsgedanke sich über den nationalökonomischen Kurs hinaus global orientieren, bis hin zu Fragen eines sozial orientierten Weltwirtschaftsrates oder Weltwirtschaftsparlamentes.
„Genau das ist das Erfolgsgeheimnis der Europäischen Union: dauerhafte Kooperation zwischen Staaten verhindern nicht, sondern erhöht deren Handlungsfähigkeit. Paradox Formuliert: Souveränitätsverzicht erweitert Souveränität“, davon ist Ulrich Beck überzeugt und fragt: „Gelingt es also, die Widersprüche zwischen Verhandlung und Konfrontation, zwischen Arbeitgebergewinnern und Arbeiterverlierern der Europa-Strategie von General Motors zu vermitteln und eine transnationale europäische Kompromissperspektive zu eröffnen?“.
Die globalisierungskritische soziale Bewegung wird auch diese Fragen mit auf die Tagesordnung setzen müssen, wenn sie statt nationalstaatlicher Protestaktionen nunmehr am 19. März 2005 im Vorfeld des EU-Gipfels in Brüssel eine zentrale europäische Demonstration gegen das „neoliberale Europa“ plant sowie eine zweite Aktion beim Treffen der Regierungschefs der reichen G-8-Staaten am 2. Juli 2005 im schottischen Gleneagles. Dort sollen die Regierungen an ihr Versprechen erinnert werden, im Jahr 2005 den entscheidenden Kampf gegen die Armut in der Dritten Welt zu beginnen. Beim europäischen Sozialforum 2006 in Athen kann dann Bilanz gezogen und die Diskussion über einen Kurswechsel fortgesetzt werden - so gestaltet sich soziale Dreigliederungsarbeit durch die Kulturkraft der Zivilgesellschaft in Zeiten der Globalisierung.
1 Ulrich Beck in seinem aktuellen Aufsatz: „Auswirkung der Globalisierung - Vorwärts durch Verzicht!“ Siehe auch sein neuestes Buch „Der kosmopolitische Blick“ (Suhrkampp Verlag , Frankfurt 2004) sowie seine Bücher über die „Risikogesellschaft“ und „Die Zukunft der Arbeit“, ferner das aktuelle Interview Ulrich Beck in Publik-Forum Nr. 20/2004 zum Thema: „Zwischen Neoliberalismus und Weltpolitik oder: Wie kann man Globalisierung gestalten?“