Normalerweise wäre die Frage, wem unsere Stadt und unser Gemeinwesen gehört, ganz einfach und eindeutig zu beantworten. Und zwar mit Verweis auf den Artikel 28 (2) unseres Grundgesetzes und die Bestimmungen der Kommunalverfassungen und Gemeindeordnungen der Bundesländer: Nämlich den Bürgerinnen und Bürgern! Doch nun sollen sich die „normalen politischen Verhältnisse“ durch ein Abkommen zur transatlantischen Handels- und Investitions-Partnerschaft mit den USA und Kanada (mit dem Kürzel TTIP) grundlegend ändern. Es wird durch die EU geheim verhandelt.
Internationale Dienstleistungskonzerne auf Beutezug in unseren Städten
Nach vielen gescheiterten Versuchen in der Vergangenheit, über Handelsabkommen (wie MAI, GATS, TRIPS, ACTA, TiSA oder die EU-Dienstleistungsrichtlinie oder EU-Konzessionsrichtlinie zur Wasserprivatisierung) die Kommerzialisierung kommunaler Dienstleistungen und Einrichtungen zu erzwingen, wird dieses Ansinnen durch TIPP nun erneut verfolgt
Es will einen finalen Beutezug der internationalen Dienstleistungskonzerne auf dem Territorium der insgesamt 200.000 bis 300.000 Gebietskörperschaften in ganz Europa und dem EU-Binnenmarkt, der zu 60 bis 70% ein Dienstleistungsmarkt ist. Was macht unsere Städte so begehrenswert für die internationalen Dienstleistungskonzerne? Städte und Gemeinden in Europa bieten eine Vielzahl von Dienstleistungen selbst oder durch kommunale Unternehmen an. Allein die Kommunen in Deutschland vergeben jährlich Aufträge im Wert von 200 Mrd. €. Deshalb ist das öffentliche Vergabe- und Beschaffungswesen Bestandteil des geplanten TTIP-Abkommens. Man spekuliert auf 1 Bio. Dollar Profite durch Privatisierung des Wassermarktes, auf weitere 3,5 Bio. € beim Gesundheitswesen und auf weitere 2,5 Bio Dollar aus dem „Bildungsmarkt“– um nur die drei größten Wachstumsmärkte zu nennen.
Es geht um den Handel mit Dienstleistungen und noch viel mehr
In dem geplanten Freihandelsabkommen für die größte und dominante Freihandelszone der Welt) geht es vor allem auch um Handel mit Dienstleistungen und um Teilhabe an der öffentlichen Auftragsvergabe. Ferner umfasst es den Handel mit Finanzprodukten, es geht um Patente und Urheberrechte, um die Nutzung von Land und Rohstoffen, aber auch um kulturelle Dienstleistungen. Es geht um die Marktöffnung für Abfallentsorgung, Energie und Transportwesen, Wasser- und Abwasserwirtschaft sowie Verkehr und öffentlichen Nahverkehr.
Dafür müssen Sozialstandards, Verbraucher- und Umweltstandards, Regelungen des Tarif- und Arbeitsrechtes geändert, „Subventionsabbau“ und die Beschleunigung von Antrags- und Planverfahren (mit eingeschränkter Bürgerbeteiligung) betrieben werden. Damit sind fast alle Bereiche der kommunalen Daseinsvorsorge und der kommunalen Selbstverwaltung und Planungshoheit massiv betroffen, obwohl von der EU-Handelskommission bestritten. All das heißt verharmlosend: Marktöffnungen nur marktrelevante Bereiche für ausländische Anbieter genauso wie für Inländer und Beseitigung handelshemmender Barrieren.
Parallel finden Verhandlungen für ein Nachfolgeabkommen für das GATS-Abkommen der WTO für den Handel mit Dienstleistungen mit dem Kürzel TISA statt, um künftig alles zu liberalisieren, was nicht in Ausnahmen ausdrücklich erwähnt ist. Damit werden die Städte durch zwei Abkommen gleichzeitig in die Zange genommen.
EU und Bundesregierung verkaufen verfassungswidrig unsere Städte
Obwohl die EU laut Lissabon-Vertrag und gemäß Subsidiaritätsprinzip in die kommunale und regionalen Selbstverwaltungsrechte nicht eingreifen darf, fördert unsere Bundesregierung den verfassungswidrigen Eingriff zur Entrechtung unserer Städte durch das TTIP-Abkommen. Das Primat der Politik wird zum Primat der Wirtschaft. Die Folgen insbesondere auch für unsere Städte sind erheblich, in deren Rechte nur durch Gesetze, nicht aber durch bilaterale Abkommen eingegriffen werden darf.
Was kommt auf die entrechteten Städte und ihre Bürgerinnen und Bürger zu?
Für die durch TTIP entrechteten Städte stellen sich in Zukunft beispielsweise folgende Fragen:
- Müssen die Städte bei öffentlichen Ausschreibungen künftig nicht nur europaweit, sondern auch in den USA oder weltweit ausschreiben? Dürfen sie überhaupt noch entscheiden, ob sie eine Aufgabe selber erledigen oder sind sie generell gezwungen, sich stets der privaten Konkurrenz zu stellen? Ist die übliche „Inhouse-Vergabe“ im Rahmen interkommunaler Zusammenarbeit noch erlaubt? Dürfen die Städte bei der Ausschreibung künftig noch die üblichen Auflagen machen wie z.B. tarifliche Bezahlung oder Mindestlöhne, Einhaltung von Umweltstandard, von Qualitäts- und Sicherheitsstandards mit Vorlegen von Umwelt- und Gütesiegeln, fair gehandelte Produkte (ohne Kinderarbeit), nachhaltige Bauweisen usw.?
- Dürfen die Städte im Rahmen von städtischen Klimaschutzprojekten, als „Fair-Traide-Stadt“ oder im Rahmen der Wirtschaftsförderung örtliche und regionale Unternehmen, Produzenten oder Händler bevorzugen? Dürfen die Städte (zusammen mit dem Jobcenter) noch örtliche Arbeitsmarktprogramme uneingeschränkt auflegen? Wird die kommunale Planungshoheit eingeschränkt z.B. bei Umweltauflagen in Raumordnungs-, Flächennutzungs- oder Bebauungsplänen oder beim Verbot der Ansiedlung von Kaufmärkten auf grüner Wiese zugunsten gewachsene Einzelhandelsstrukturen in der Innenstadt?
- Ist die Gründung, Rekommunalisierung oder Betätigung eigener Stadtwerke noch zulässig oder müssen mit ihnen abgeschlossene Versorgungsverträge aufgehoben und Leitungsnetze für den Zugang Dritter ständig neu geöffnet werden? Unterliegen die Städte dann dem vollständigen Preiswettbewerb und erleiden sie Einnahmeverluste bei den Konzessionsabgaben? Ist der übliche Anschluss- und Benutzungszwang gefährdet? Droht die Privatisierung der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung? Ist die Müll- oder Abfallentsorgung komplett für kommerzielle Anbieter zu öffnen und dürfen noch eigene Abfallwirtschaftkonzepte entwickelt werden?
- Gibt es neue Konkurrenz beim ÖPNV und Subventionsverbote (z. B. Sozialticket)? Gibt es im Straßenbau den Zwang zu PPP-Modellen? Wird der Sonderstatus der öffentlich-rechtlichen (kommunalen) Sparkassen gegenüber den Privatbanken erneut angegriffen, wenn die Finanzregelungen in TTIP einbezogen werden? Droht die Aufhebung von Frackingverboten (bisher durch Land und Bund geregelt) und damit Beeinträchtigung örtlicher Wasserschutzgebiete? Droht eine Veränderung der kleinbäuerlichen Strukturen in ländlichen Gemeinden durch Eindringen von Genmais etc.? Müssen die städtischen Kontrolleure oder die Kreisverwaltung bei ihren Kontrollen zum Verbraucherschutz abgesenkte Schutzstandards hinnehmen? Was kommt auf die kommunalen Datenzentralen hinsichtlich Patenten, Urheberrechten und Datenschutz zu?
- Wird die unverzichtbare Subventionierung von Bildungs- und Kultureinrichtungen in VHS, Musikschule, Stadtbücherei, Museen, Theater, Regional- und Lokalfunk etc. untersagt und müssen sich auch diese Einrichtungen denn kommerziellen Anbietern im Wettbewerb stellen? Was ist mit den Sozialeinrichtungen wie Heime, kommunale Krankenhäuser, Rettungs- und Pflegedienste, sozialer Wohnungsbau? Was ist dann mit den Qualitätsmaßstäben, mit der Bezahlbarkeit, mit den kommunal erworbenen Kompetenzen? Und was ist allgemein mit dem gemeinnützigen Non-Profit-Sektor in den Städten, der auch kommerzielle Begehrlichkeiten weckt? Was ist dann noch mit bürgerschaftlichem Engagement und Ehrenamt sowie Gemeinwesenarbeit?
Was ist zu tun, damit die Stadt wieder uns gehört?
Da ohne freien oder für jeden bezahlbaren Zugang zu öffentlichen Diensten und Einrichtungen wie Bildung, Kultur, Soziales, Energie, Wasser usw. keine Einhaltung der Menschenrechte möglich ist, geht es hier um den Kampf um unser Menschenrechte und um unsere Demokratie und Selbstverwaltung. Das Freihandelsabkommen TTIP ist ein Angriff auf Demokratie und Menschenrechte, auf europäische Sozial- und Umweltstandards – und kein Instrument fairer Handelspartnerschaft. Es geht nicht zuletzt auch um den Kampf für unsere Städte – oder um das, was davon übrig geblieben ist.
Was jetzt folgen muss, sind Initiativen über alle Stadträte landauf, landab gemäß § 23 der Gemeindeordnung NRW, wie bereits in zahlreichen Städte eingeleitet: Denn die Gemeinden haben ihre Einwohner über alle bedeutenden Angelegenheiten zu unterrichten und über wichtige Vorhaben und deren Folgen und Auswirkungen, die das wirtschaftliche, kulturelle und soziale Wohl ihrer Einwohner nachteilig berühren. Also: Ratsanfragen, Ratsresolutionen, Bürgerversammlungen, Marktplatzaktionen, Info-Veranstaltungen, Kandidatenbefragungen zur Kommunal- und Europawahl und vielleicht Schilder an den Ortseingängen und öffentlichen Einrichtungen: „TTIP-freie Zone“! Holen wir uns unsere Städte und unsere kommunale Selbstverwaltung zurück – notfalls auch per Verfassungsklage!
Wilhelm Neurohr (63) war 40 Jahre lang bei einer großen Kommunalverwaltung im Ruhrgebiet tätig als Stadt- und Regionalplaner sowie Agenda-.Beauftragter und 18 Jahre als Personalratsvorsitzender. Vor dem 2. Bildungsweg im Bergbau unter Tage. Er gehört seit 45 Jahren der Gewerkschaft ver.di an, unterstützt Attac, Mehr Demokratie e.V. und Lobbycontroll.