Wilhelm Neurohr

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Vortrag am Mittwoch, 24. Oktober 2012 im Kommunikationszentrum „Börse“ in Wuppertal
(Paritätisches Bildungswerk NRW und attac)

Verschuldete Staaten halten das Finanzsystem aufrecht

Seit 5 Jahren beschäftigt uns nun schon - infolge der globalen Banken- und Finanzkrise 2007/2008 - die sogenannte „Schuldenkrise“ der südeuropäischen Länder, kulminierend oder gipfelnd in Griechenland.

Noch länger beschäftigt uns die anhaltende Schuldenkrise der Städte und Gemeinden infolge unzureichender Einnahmen, nämlich seit 10 bis 15 Jahren, teilweise schon seit 20 bis 25 Jahren.

Und überall soll der Krise begegnet werden mit Einschränkung der Demokratie, mit Abbau der Sozialleistungen und der öffentlichen Infrastruktur, mit Stellenabbau und Lohnverzicht, mit finanziellen Belastungen der Bürgerinnen und Bürger, umso mehr, je weniger Einkommen und Vermögen sie haben.

Nie zuvor in der Geschichte des Kapitalismus haben sich die Staaten und Kommunen in so kurzer Zeitspanne dermaßen verschuldet wie eben seit Ausbruch dieser neuen Weltwirtschaftskrise 2007/2008, die erkennbar eine Kapitalismuskrise und eine Demokratiekrise ist, also eine wirtschaftliche und politische Systemkrise.

Die Finanzkrise privater Bankrotteure wird zu einer Schuldenkrise souveräner Staaten. Das globale Finanzsystem lebt nur noch von Staatshilfe. Mit Milliardensummen und Bürgschaften sollen die Steuerzahler den Steuerflüchtigen helfen.

Dabei wird immer mehr eine Selbstverständlichkeit absichtlich übersehen:

Staaten und Kommunen sind keine betriebswirtschaftlichen Unternehmen

Es ist ja eine Binsenweisheit, dass Staaten und Kommunen laut Verfassung Rechtsgemeinschaften sind - und keine betriebswirtschaftlichen Unternehmen.

Dennoch ist täglich die Rede davon, dass unseren Städte und Gemeinden ebenso wie den Staaten in Südeuropa, allen voran Griechenland, mit ihren öffentlichen Haushalten quasi die Insolvenz, die Pleite oder der Bankrott drohe.

Den verschuldeten - besser gesagt: unterfinanzierten - Staaten und Kommunen werden daraufhin drastische Spardiktate gegen den Willen der betroffenen Bevölkerung auferlegt, um die öffentliche Verschuldung abzubauen, ohne nach deren eigentlichen Ursachen und Urhebern zu fragen, geschweige nach den Konsequenzen des Kaputtsparens.

Die klammen Städte und Gemeinden im Ruhrgebiet z. B. haben notgedrungen ihre Investitionstätigkeit halbiert, mit verheerenden Folgen für die lokale und regionale Wirtschaft.

Wenn alle ökonomischen Akteure nur noch sparen, wird das Staatsdefizit am Ende größer statt kleiner, und es beginnt der Teufelskreis der sinkenden Steuern und Nachfragen, der sinkenden Löhne und ausbleibenden Investitionen. Das erleben wir gerade in Griechenland.

Die Lehren aus der Weltwirtschaftskrise 1929 mit Rezession und Depression werden nicht gezogen. In einer derartigen Finanzkrise darf nicht nur der Rotstift angesetzt werden. Es stellt sich die Frage: Wie viel Sparen verträgt ein Land – oder eine Stadt?

Die strukturelle Kapitalismuskrise in Gestalt der Finanz- und Bankenkrise, der Währungs- oder Eurokrise, wird in eine staatliche und kommunale „Schuldenkrise“ umgetauft - obwohl es die Bankenrettungsprogramme waren, die - mit schwindelerregenden Summen an eingesetzten Steuergeldern - die Staatsschulden weiter nach oben getrieben haben.

Wir wissen ja: Wo ein Schuldner, da auch ein Gläubiger. Die an den Schuldnern und deren Zinszahlungen gut verdienenden Gläubiger-Banken haben ein Geschäftsinteresse an der Verschuldung von Staaten und Kommunen.

Und in der Folge steigen auch die Privatschulden der von einschneidenden Sparprogrammen betroffenen Bevölkerung.

Damit geraten wir in eine Demokratie-Krise.

Die Finanzkrise wird zur Demokratie-Krise

Dazu stellen sich gleich die ersten 4 Fragen:

  • 1. Wieso können Rechtsgemeinschaften Pleite gehen, deren Verfassungsauftrag es ist, sich um Recht und Gerechtigkeit zu kümmern, um das Wohl und die Daseinsvorsorge der Bevölkerung, um ihre Sicherheit und ihre soziale Versorgung? (Deshalb garantiert ihnen ja die Verfassung Bestandsschutz und eine steuerliche Finanzierungsgrundlage – also nicht nur das Recht, Steuern zu erheben, sondern auch die Pflicht, Steuern für die Gemeinschaftsaufgaben zu erheben. Und zwar auch von denen, deren Eigentum der Sozialverpflichtung unterliegt. Über allem steht das Sozialstaatsgebot.
  • 2. Warum wurde die staatliche Finanzierung des Gemeinwohls durch erforderliche Steuereinnahmen, wie es ein halbes Jahrhundert und länger funktioniert hat, immer mehr abgeschafft, indem stattdessen durch Steuerverzicht der private Reichtum mit öffentlicher Armut gefördert wird? Anders gefragt: Warum hat der Eigennutz neuerdings Vorrang vor dem Gemeinnutz?
  • 3. Wie konnte es dazu kommen, dass sich Staaten und Kommunen für einen wirtschaftlichen Wettbewerb nach dem marktradikalen Konkurrenzprinzip missbrauchen lassen, indem sie ihre eigenen gemeinwohlorientierten Leistungen einem betriebswirtschaftlichen Diktat unterwerfen - und einer Marktbewertung durch kommerzielle Rating-Agenturen der Finanzmärke?
  • 4. Und wie konnte es dazu kommen, dass Staaten und Kommunen zu Schuldnern der Gläubiger-Banken wurden, mit erdrückenden Zinsbelastungen, aber mit der gleichzeitigen Selbstverpflichtung, dieselben privaten Banken im Bedarfsfall auch noch mit öffentlichen Steuergeldern zu retten?

Die allseits bekannte Antwort lautet:

Das Demokratieprinzip wurde durch das Ökonomieprinzip abgelöst

Seit den 80er und 90er Jahren, mit dem verheerenden Feldzug des Neoliberalismus und seiner Steigbügelhalter in der Politik, ist das Demokratieprinzip durch das Ökonomieprinzip schleichend abgelöst worden.

Damit haben sich auch die Machtverhältnisse geändert, nach dem alten Sprichwort: „Geld ist Macht“ oder „Geld beherrscht die Welt“. Es regiert ungehindert der Gott Mammon.

Geld als handelbare und beliebig vermehrbare Ware?

Das Geld als Zahlungsmittel wurde selber zur handelbaren und vermehrbaren Ware, losgelöst von der Realwirtschaft – und damit seiner sozialen Funktion beraubt. Geld wurde zum Spekulationsobjekt. Die wundersame Geldvermehrung wurde zur Geldschwemme - im Besitz nur einiger weniger, und den Bedürftigen wurde das Geld entzogen, bis hin zur öffentlichen Armut von Staat und Kommunen.

Es hat sich nämlich die Sphäre des Rechtslebens mit derjenigen des Wirtschaftslebens zunächst vermischt und dann vertauscht.

Zugleich wird die Notwendigkeit einer neuen Geld- und Wirtschaftsordnung politisch nicht erkannt und die Komplexität der Probleme, die man selber mit heraufbeschworen hat, nicht mehr durchschaut. Es werden folglich keine ganzheitlichen Lösungskonzepte verfolgt, nicht einmal ernsthaft diskutiert.

Wir müssen aber das Wirtschaftssystem von Grund auf neu denken. Wir müssen komplett umdenken im Umgang mit Geld, auch bezüglich Zinsen, Immobilien sowie Boden und Arbeit als „verkäufliche Ware“.

Die Struktur unserer Wirtschaft mit ihren anonymen Märkten hat einen Konstruktionsfehler, der geradezu zur Verantwortungslosigkeit gegenüber dem funktionierenden Ganzen verführt: denn ein gesundes Wirtschaftsleben muss sich notwendigerweise nach assoziativen Grundsätzen entwickeln, die auf konkreten menschlichen Beziehungen zwischen Produzenten, Händlern und Konsumenten basieren – also nicht nach dem Grundsatz der größtmöglichen Gewinnmarge, wie dies in der Anonymität des freien Marktes der Fall ist. Wer das begriffen hat und nicht handelt, der hat nicht begriffen.

Vor allem muss das Preisproblem in den Mittelpunkt des volkswirtschaftlichen Denkens rücken, damit der Wert der Ware in ein Verhältnis zum menschlichen Bedürfnis rückt. Dazu bedarf es der assoziativen Preisfindung. Mit dem Warenaustausch und der Festlegung des Geldwertes von Seiten des Staates wird unser ganzes Wirtschaftsleben konfus gemacht, so dass es für die wirtschaftenden Menschen nicht mehr durchschaubar ist.

Dadurch wird die zirkulierende Geldmenge ein völliges wirtschaftliches Abstraktum, nachdem das Geld selber eine Ware geworden ist, die man kaufen und verkaufen und mit der man am so genannten Geldmarkt handeln kann. Mit dieser großen Fälschung des gegenwärtigen Geldwertes wird alles übertönt und ausgelöscht, was an gegenseitiger Wertbestimmung der Waren eigentlich dem Wohl und Wehe der Menschen dienen sollte beim Erzeugen, Austauschen und Konsumieren der Waren.

Der eigentliche Sinn und Zweck des kooperativen Wirtschaftens ist aus dem Blick geraten. Die Wirtschaft ist aber für den Menschen da und nicht umgekehrt. Um die soziale Frage zu lösen, muss also ein ganz anderer Geist in unser Wirtschaftsleben hineinkommen. Davon ist allerdings bei den „Krisenmanagern" gegenwärtig kaum etwas zu verspüren.

Deutschland setzt in der Krise einseitig auf Budgetdisziplin und stellt sich gegen den Rest Europas.

Damit erleben wir täglich die negativen Auswirkungen:

Gewinnmaximierung und Fürsorgepflicht sind nicht kompatibel.
Neoliberalismus und Demokratie schließen sich gegenseitig aus.

Und durch Privatisierung öffentlicher Aufgaben und Einrichtungen stellen sich Staat und Kommunen selber in Frage und geben damit ihre hoheitlichen Aufgaben preis – und auch die kommunale Selbstverwaltung vor Ort als unterste Demokratie-Ebene.

Ohne diese sind aber die allgemeinen Menschenrechte nicht zu gewährleisten, die auf öffentliche Sozial- und Dienstleistungen angewiesen sind.

Und ohne eine neue Geld- und Wirtschaftsordnung und ohne neue Sozialordnung wird die ausreichende Versorgung aller Menschen nicht mehr sichergestellt. Die soziale Frage stellt sich ganz neu. Die Wirtschaft dient nicht mehr den Menschen – und die herrschende Politik auch nicht mehr.

Der Staat wird erpressbar und der Sozialstaat aufgegeben.

Lobbyhörige Politiker, die dem verfassungswidrig Vorschub leisten, gebärden sich damit als Verfassungsfeinde (ohne dass sie der Verfassungsschutz im Visier hat) - und obendrein als korruptionsanfällig.

Lobbyisten ersetzen oder beherrschen die Parlamente und Regierungen

In unserem nicht gerade repräsentativen „Parlament der Lobbyisten und Millionäre“ verweigert sich deshalb aktuell eine Bundestagsmehrheit der Ratifizierung der von 161 Staaten anerkannten UN-Konvention gegen Abgeordnetenbestechung und für deren Strafbarkeit - im Gleichklang mit einigen Bananenrepubliken oder Schurkensaaten wie Nordkorea und Syrien.

Und auch der oppositionelle Vorstoß für Transparenzregeln bei Nebeneinkommen von Abgeordneten stößt mit fadenscheinigen Argumenten auf Widerstand, weil der gläserne Abgeordnete nicht gewünscht sei.

Das Ganze widerspreche den „parlamentarischen Gepflogenheiten“, weil Abgeordnete sonst keine kostenlosen Einladungen zum Abendessen mehr annehmen könnten, so argumentierte der Vorsitzende im Rechtsausschuss des Bundestages, Siegfried Kauder (CDU), der Bruder von Fraktionschef Volker Kauder, der sich vor allem gegen strafrechtliche Konsequenzen von Abgeordnetenbestechung wehrt.

Man will also für die eigenen Fehlentscheidungen und für Fehlverhalten trotz hoher Diäten keine Verantwortung übernehmen.

Unsere Volksvertreter ebnen stattdessen den Weg dafür, dass demokratisch nicht legitimierte Private mit ihren Eigeninteressen die Richtlinien der Politik bestimmen.

Das Primat der Politik wurde aufgegeben und das Wohl der Allgemeinheit hintenangestellt.

Elementare Bereiche der Daseinsvorsorge werden ausverkauft und die Sozialsysteme geschliffen.

Kinderarmut, Altersarmut, Frauenarmut bei Alleinerziehenden, prekäre Beschäftigungsverhältnisse - der soziale Zusammenhalt einer solidarischen Gesellschaft geht verloren, vor Ort in den Kommunen genauso wie bundesweit, europaweit, weltweit.

Das europäische Demokratiemodell und Sozialmodell ist längst in Gefahr – und damit die Sinnhaftigkeit der ganzen EU, die einmal angetreten war, die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern. Heute hat sie EU-weit die höchsten Arbeitslosenquoten und Armutsquoten seit ihrer Gründung. Das einstige Friedensprojekt wurde zum Projekt des sozialen Unfriedens.

Die Schere zwischen Armen und Reichen geht immer weiter auseinander

Die politisch vielbeschworene und versprochene „Bekämpfung der Armut“ findet nirgendwo wirklich statt; im Gegenteil: Jahr für Jahr geht die Reichtums-Armutsschere vor allem in Deutschland weiter auseinander als in allen anderen EU- und OECD-Ländern. In unseren Städten entstehen neue Armutsviertel.

Laut OECD ist die Agenda 2010 nachweisbar der Ausgangspunkt und die Verursachung sowie Beschleunigung der Armutsentwicklung. Und entgegen allen schönredenden Behauptungen weisen sämtliche wissenschaftlichen Untersuchungen nach, dass Hartz IV keinerlei positive Arbeitsmarkteffekte erzielt habe, im Gegenteil, es war der Einstieg in prekäre Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit und Lohndumping. Und die Vermittlungsquote für Langzeitarbeitslose ist schlechter als vorher.

Die politischen Repräsentanten sehen sich als „Diener der Wirtschaft“

Doch wie reagieren unsere auf das Wohl des Volkes vereidigten Spitzenpolitiker darauf? Ich zitiere drei neoliberale Repräsentanten:

  • Ex-Kanzler Gerhard Schröder hatte schon damals vor seinem ersten Amtsantritt 1989 verkündet: Der Staat habe der Wirtschaft zu dienen. Und so hat er sich in seiner 7-jährigen Kanzlerschaft auch verhalten. Und so verteidigt er auch heute noch seine Agenda-Politik, immer noch ausdrücklich unterstützt von Steinbrück, Steinmeier und Gabriel.
  • Seine Nachfolgerin, Kanzlerin Angela Merkel, die den Griechen die gleichen Rezepte vorschreiben will, sprach jüngst mit Blick auf die Finanzmärkte unverfroren davon, dass „die Demokratie deshalb marktkonform umgestaltet“ werden müsse – wenn man so will: „Ein Putsch von oben“. Das neueste Bertelsmann-Projekt spricht demgemäß nur noch von „Marktdemokratie“.
  • Merkels Herausforderer, der selbsternannte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hielt umgekehrt entgegen: Das Marktgeschehen müsse Demokratiekonform umgestaltet werden.

Sein Wort in Gottes Ohr, denn als einstiger Deregulierer der Finanzmärkte und Mitverursacher der Probleme täuscht er vor, vom Saulus zum Paulus geworden zu sein, lobt aber zugleich die menschenverachtende Agenda 2010 in höchsten Tönen und wünscht sich Gerhard Schröder als Wahlkampf-Unterstützer.

Und er warb in seiner Deutschland AG für PPP-Modelle, also für die Finanzierung und Betreibung öffentlicher Infrastruktur durch kommerzielle Private, somit für die weitere Abhängigkeit und Verquickung von Politik und Wirtschaft, - wie er es ja auch mit seinen gut bezahlten Vorträgen vor Banken, Versicherungen und Unternehmen und mit seinem Aufsichtsratsmandat beim Stahl- und Rüstungskonzern Thyssen-Krupp praktiziert hat.

Wir brauchen in Deutschland keinen bloßen Personenwechsel oder Machtwechsel – Macht ist kein Selbstzweck – sondern einen Politikwechsel!

Denn mit denselben Gedanken und Personen, mit denen die Probleme entstanden sind, lassen sich dieselben nicht lösen.

Und auch nicht mit der Steigerung deutscher Waffenexporte um 37% in den letzten Jahren.

Deutschland glaubt ja als Exportweltmeister, es könne in der Krise als einzelner Staat auf Kosten anderer mit seinen Exportüberschüssen und seiner Niedriglohnpolitik, den Kopf aus der Schlinge ziehen.

Damit hat es seine Nachbarn wie Griechenland an den Bettelstab gebracht, um jetzt dem bettelarmen Land mit inzwischen 24% Arbeitslosigkeit neoliberale Spardiktate zu erteilen.

Die „Schuldenländer“ übertrumpfen sich gegenseitig

Dabei sind andere Staaten, die Griechenland - mit einer Schuldenquote von 160 % - Vorschriften machen, selber auch erheblich verschuldet (man muss hinzufügen: selber verschuldet durch unnötigen freiwilligen Einnahmeverzicht):

  • Nämlich die Euro-Länder im Durchschnitt mit 83% (d. h. 23% oberhalb der Euro-Konvergenzkriterien von 60%), Italien sogar bei 100%, Deutschland bei immerhin 70%, Großbritannien bei 82%
  • Die USA hat eine Schuldenquote von 98%, Japan sogar von 100% und Großbritannien bei 82%.

Betrachtet werden müssen auch die staatlichen Haushaltsdefizite von durchschnittlich 4,2% in der Eurozone, die durch Neuverschuldung gedeckt werden müssen. Auch hier stehen die USA und Großbritannien mit 9,8% und 9,1% deutlich schlechter da.

Allerdings rechnet man in Deutschland für 2012 mit 25 Mrd. € Nettoneuverschuldung, geplant waren sogar 40 Mrd. €. Die sogenannte Schuldenbremse verlangt die Reduzierung der Netto-Neuverschuldung auf 0,35% des BIP (Bruttoinlandsprodukts).

Trotzdem sind bloße Ausgabenkürzungen der falsche Weg aus einer Finanzkrise. In Zeiten guter Konjunktur muss hingegen auch Schuldentilgung stattfinden. Und die Regierungen müssen aufhören, zu Lasten der Allgemeinheit großzügige Schenkungsgelder an diejenigen zu verteilen, die schon viel haben.

In Deutschland sind wir jetzt bei über 2 Bio. € Schuldenstand angelangt, weshalb ja von der Staatsschuldenkrise die Rede ist.

Allerdings stehen den 26.000 € öffentlicher pro-Kopf-Verschuldung über 80.000 € privates pro-Kopf-Vermögen gegenüber, allerdings völlig ungleich verteilt. Somit stellt sich die Verteilungsfrage.

Wo aber sind die neuen Gedanken und Taten für realistische Lösungsansätze und wer sind die zugehörigen glaubwürdigen und kompetenten Personen? Nur aus der Zivilgesellschaft kommt der Ruf, ein solidarisches Europa neu zu begründen.

Die Politik läuft den Ereignissen hinterher und hat nur einen Bruchteil der auf dem G-20-Gipfel seinerzeit propagierten Regulierungsmaßnahmen umgesetzt. Die Zockerei der Banken geht längst wie früher weiter.

Und einige selbsternannte Fachleute und Ökonomen kommen mit einfachen Lösungsvorschlägen daher, indem sie suggerieren, man müsse nur an einer Schraube drehen, um alle Probleme zu bewältigen. Man geht aber nicht an die Wurzeln allen Übels.

Wir werden zum Schluss des Vortrages feststellen, dass wir ein ganzes Maßnahmebündel für Lösungsansätze schnüren müssten, mindestens ein „10-Punkte-Programm“.

Die Krise als Krankheitssymptom unserer Gesellschaft

Nunmehr ist doch aktuell erwiesen, dass unser Geldsystem, die Zerreißprobe in unserer krisenanfälligen ökonomischen Entwicklung nicht ausgehalten hat. Der spekulative Umgang mit Geld und Immobilien, mit Wirtschaftsgütern, Bodenschätzen und Lebensmitteln ohne die Rücksichtnahme auf die konkret beteiligten Menschen, sondern nur auf Gewinnmaximierung bedacht, ist unmoralisch und schädlich für die Gemeinschaft. Spekulationen und auch der Handel mit Eigentumsrechten und Rohstoffen wirken sich wie ein Hurrikan aus, der auf seinem Weg alles zerstört.

Es darf nicht alles zur verkaufbaren und handelbaren Ware degradiert werden, schon gar nicht das Geld selber als Zahlungsmittel. Die Verquickung statt Trennung der öffentlich-rechtlichen Institutionen (z. B. Zentralbank) mit den gewinnorientierten Finanzunternehmen verstärkt den Geldfluss aus den Früchten der Geldschöpfung zugunsten einer kleinen Schicht von Begüterten.

Die Unsummen, mit der die Staaten derzeit den sich verspekulierten Privatbanken unter die Arme greifen, wären besser als staatliche Dividenden an die Bevölkerung ausgeschüttet worden als gewaltiges Konjunkturprogramm, anstatt durch die nun erzeugte Inflation die schwächeren Bevölkerungsschichten wiederum zu treffen.

Die Marktdominanz darf nicht länger das demokratische System gefährden, in dem die wirtschaftlichen Lebensmöglichkeiten der Menschen von den Bedingungen einiger weniger abhängen, die aus der Volksherrschaft eine Art Wirtschaftsdiktatur gemacht haben, die dem staatlichen Allgemeinwohl die Steuergelder für die Gemeinschaftsaufgaben entzieht und zur Verarmung eines immer größeren Teiles der Bevölkerung und zum ausufernden privaten Reichtum einer Minderheit beiträgt.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle ist demgegenüber nachweislich finanzierbar und muss Konsens werden zur Grundversorgung eines jeden Bürgers, der mit vereinfachten verbrauchsabhängigen Steuern seinen Konsum eigenverantwortlich steuern könnte, ohne menschenunwürdige Abhängigkeit von demütigenden Sozialhilfeanträgen. Arbeit und Einkommen sind zu entkoppeln. Ein Grundeinkommen für alle trägt zu einer gerechteren Finanzarchitektur bei. Nur teilen macht alle reich.

Sowohl die Arbeitslosigkeit als auch die die Finanzmarktkrise und die Armutsentwicklung und die weltweite Ernährungskrise hängen miteinander zusammen und sind ein Krankheitssymptom unserer Gesellschaft und Ausfluss unseres falschen, nicht bedarfsorientierten Wirtschaftens, dass jedes Gerechtigkeitsgefühl verletzt.

Dadurch wird die zirkulierende Geldmenge ein völliges wirtschaftliches Abstraktum, nachdem das Geld selber eine Ware geworden ist, die man kaufen und verkaufen und mit der man am so genannten Geldmarkt handeln kann. Mit dieser großen Fälschung des gegenwärtigen Geldwertes wird alles übertönt und ausgelöscht, was an gegenseitiger Wertbestimmung der Waren eigentlich dem Wohl und Wehe der Menschen dienen sollte beim Erzeugen, Austauschen und Konsumieren der Waren.

Mit dem verfälschen des Geldwertes ist auch das Wertesystem der Gesellschaft insgesamt in eine völlige Schieflage geraten und berührt nun die Staaten als Rechtsgemeinschaften in ihrer Kernsubstanz.

Die verzweifelten Hilfsaktionen für verschuldete Staaten - „Fass ohne Boden“

Wir sehen ja am Beispiel Griechenland, das infolge dieser völlig durcheinander geratenen Zusammenhänge die erforderlich gewordenen enormen Klimmzüge immer noch nicht ausreichen. Hat Griechenland zu viel oder zu wenig geleistet? (Und auch unsere Städte und Gemeinden sparen sich erfolglos seit 20 Jahren „zu Tode“).

Bis November soll eine weitere Tranche aus dem EU-Rettungsfond in Höhe von 100 Mrd. € auf einem Sperrkonto in Griechenland landen, zunächst bereits zugesagte 31,5 Mrd. €.

Inzwischen warten allerdings weitere 3 Länder mit ganz unterschiedlichen Problemlagen auf Hilfe aus Brüssel, nämlich Spanien, - dem die Eurogruppe bereits bis zu 100 Mrd. € zur Sanierung maroder Banken zugesagt hat - außerdem Zypern, das gerade den EU-Ratsvorsitz innehat, mit erwarteten 15 Mrd. € für den mit Griechenland eng verflochtenen Bankensektor, und neuerdings Slowenien, das als bisheriger Musterschüler der Eurogruppe nun ein Pleitekandidat ist.

Insgesamt haben also nun schon 6 Länder Hilfen in Anspruch genommen (einschl. Portugal und Irland). Die Krise weitet sich aus – Griechenland ist überall.

Kein anderes Industrieland hat jemals zu Friedenszeiten sein Defizit binnen so kurzer Zeit derartig gekürzt wie Griechenland. Seit 2009 hat Athen Einschnitte und Steuererhöhungen in Höhe von über 20% der Wirtschaftsleistung vorgenommen.

Mit dem neuen Sparpaket von 11,6 Mrd. € hätte Griechenland bereits zwei Drittel des abverlangten Weges hinter sich. (Würde Deutschland solche Sparleistungen auf dem Rücken der Bevölkerung absolvieren müssen, gingen auch hier die Menschen massenhaft auf die Straßen). Aber auch unsere Städte und Gemeinden haben teilweise ähnliche Kraftakte hinter sich und noch vor sich.

Inzwischen merkt aber sogar der IWF, der Internationale Währungsfond in der Troika, dass die abverlangten Maßnahmen die Konjunktur in Griechenland abwürgen und die Zinssteigerungen die Spareffekte wieder auffressen.

Weil Griechenland an der verordneten Medizin noch stärker erkrankt ist, hat es keinen Zweck, daraufhin die Dosis nochmals zu erhöhen.

Nur Frau Merkel und Herr Schäuble bleiben bei ihrer Medizin, und Merkel lässt sich für ihren Mut zu dem Griechenland-Besuch feiern, wo die armen Griechen auch noch den teuren Einsatz von 7000 Polizisten zu ihrem Schutz bezahlen mussten.

Alternativer Weg aus der Krise: Island beschirmt seine Bürger statt die Banken

Von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, hat sich vor Kurzem ein anderes Pleite-Land in Europa, nämlich Island (mit allerdings nur 350.000 Einwohnern), am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen, indem es sich der neoliberalen Radikalkur des IWF erfolgreich wiedersetzt hat.

Es hat die fatale Logik der Euro-Rettungspolitik grundsätzlich in Zweifel gezogen – und der Erfolg gibt dem kleinen Land der Widerspenstigen recht, die gefragt haben:

  • Vielleicht muss man gar nicht Milliarden in die Banken pumpen?
  • Vielleicht ist es gar nicht notwendig, aus Sparzwang den Sozialstaat zu zerstören?

Zur Erinnerung:

(nachzulesen auch in Kontext-Wochenschrift 2. September 2012, taz-Beilage):

Bekanntlich hatten um die Jahrtausendwende private Banken auf Island mit staatlicher Rückendeckung das große Rad gedreht. Mit Top-Ratings und Spitzenzinsen lockten sie Kapital aus der ganzen Welt nach Island.

Die Banken nahmen bei sich selbst Geld auf, indem sie über getarnte Briefkastenfirmen wiederum Bankanteile erwarben. Mit diesem Scheinkapital trieb man die Aktienkurse immer höher. Am Ende war die Bilanzsumme der Banken zehnmal so hoch wie die heimische Wirtschaftskraft.

Die Geldschwemme wurde mit billigen Krediten an die Bevölkerung weiter gereicht. Luxusimmobilien wuchsen daraufhin in den Himmel.

Zwei Wochen nach dem Lehmann-Crash in den USA stürzte die isländische Krone in den Keller und es folgte der Crash. Island war ein Euro-Krisenland.

Wie bei uns riefen daraufhin die Finanzinstitute Islands nach dem Staat.

Doch der entscheid sich für das genaue Gegenteil der neoliberalen EU-Troika-Hilfspolitik:

Während Deutschland und Europa Milliarden um Milliarden in bankrotte Banken pumpten, ließ Island die Finanzinstitute einfach Pleite gehen. Die Banken wurden zerschlagen und unter nationale Kontrolle gestellt.

Für die ausländischen Forderungen erklärte man sich nicht zuständig. Sie wurden in die Obhut der Gläubiger gegeben - mit besten Wünschen zur freundlichen Resteverwaltung.

Gleichzeitig zog man einen Schutzwall um die heimische Wirtschaft. Für inländische Guthaben wurde eine staatliche Garantie ausgesprochen. Der eigene Bankensektor wurde soweit stabilisiert, dass kein Geldautomat seinen Dienst verweigerte.

Das Kapital reagierte wie überall, es floh – und die isländische Krone verlor zwischenzeitlich 80% ihres Wertes. Zurück blieben zunächst Arbeitslosigkeit, Überschuldung und gigantische Bauruinen, vor allem das Prestige-Objekt Worls-Trade-Center Reykjavik als Finanzzentrum des Geldadels, das die Investoren dem Staat vermacht hatten.

Doch dann begann das isländische Wunder. Der Staat kratzte irgendwie das Geld zusammen, um den Prestige-Bau der Hauptstadt in Sparversion fertigzustellen, aber nicht als Finanzzentrum, sondern als Mehrzweckhalle für die Bevölkerung, wo jetzt Chöre singen anstelle des hohen Liedes auf den Turbokapitalismus.

Der IWF, der Internationale Währungsfond, setzte bei Island nicht die Daumenschrauben an, nachdem er vorher in ganz Südamerika nach seiner desaströsen Krisenpolitik gerade Hausverbot bekommen hatte.

Island war der erste europäische Sozialstaat nach 40 Jahren, der die Hilfe der Schocktherapeuten aus Washington benötigte.

Island praktizierte das Gegenteil der griechischen Krisenmedizin

Die isländische Politik hätte der Bevölkerung einen Sozialabbau zugunsten der Bankenrettung nicht vermitteln können und der IWF brauchte nach dem Rückschlag in Südamerika ein Erfolgserlebnis.

Die Isländer verhandelten deshalb hart und selbstbewußt und duldeten keine Schnitte ins soziale Netz. Sie wollten eine Steuerpolitik, die die Reichen stärker belastet. Außerdem wollte man keine Ausgabenkürzungen im Abschwung und verordnete Kapitalverkehrskontrollen, um die Kapitalflucht aus dem Land zu stoppen.

Island praktizierte also rundum das Gegenteil von dem, was der IWF und die herrschende Ökonomie als probate Krisenmedizin z.B. in Griechenland anbieten.

Nachdem die kriminellen Exzesse der Finanzwelt offengelegt wurden, kamen für isländische Verhältnisse jeden Samstag riesige Menschenmengen vor dem Parlament zusammen und forderten empört Aufklärung. Es brannten Weihnachtsbäume und klapperten Kochtöpfe.

Die „Kochtopf-Revolution“ fegte schließlich das gesamte Establishment hinweg und wählte demonstrativ aus Verachtung gegen die Politik einen Komiker in das Amt des Hauptstadt-Bürgermeisters.

Islands Staatsoberhaupt hatte daraufhin alle Forderungen der Demonstranten erfüllt, die Regierung trat zurück, ebenso der Chef der isländischen Zentralbank und die Finanzaufsicht.

In Island wirkte Demokratie erfolgreich als Konjunkturprogramm

Island wurde daraufhin das einzige Land, in dem der Staat seine Bürger und nicht seine Banken beschirmt hat, das also nicht auf die Finanzmärkte, sondern auf die Mehrheit seiner Bürger gehört hat.

Das Staatsoberhaupt war sehr zufrieden mit seinem umstürzlerischen Volk und dem Sieg der Demokratie über die Finanzmärkte.

Den Druck der Straße betrachtet er als legitimen Ausdruck des demokratischen Souveräns.

Er wurde deshalb wiedergewählt, nachdem er die sozialdemokratische Partei verlassen und eine linksradikale Partei gegründet hatte.

Zugleich wurde eine Spezialeinheit für Finanzdelikte gebildet, um die Verantwortlichen für das Desaster dingfest zu machen.

Auch das Bankgeheimnis wurde für alle Delikte im Zusammenhang mit Finanzcrash aufgehoben, um so das Vertrauen der Bevölkerung allmählich wiederzugewinnen.

Die Finanzkrise wird in Island nicht nur als Wirtschaftskrise betrachtet, sondern als fundamentale Krise des politischen Systems.

Eine solche Krise ist nur mit demokratischen Mitteln zu lösen, mit Demokratie als Konjunkturprogramm.

Nach dem Totalabsturz Islands kann nach dem Neubeginn nun vom isländischen Wunder gesprochen werden, als lobendes Beispiel für einen alternativen Weg aus der Krise. Dieser war aber nur möglich durch zivilen Ungehorsam!

Darüber sollte in aller Welt bis nach Griechenland berichtet werden, auch wenn man in der EU und in Deutschland nichts davon hören möchte.

Und auch die neoliberalen Medien-Netzwerke möchten darüber nichts schreiben, außer dass „Islands nationaler Alleingang“ angeblich nicht übertragbar sei auf andere Länder“...

Ich wünschte, wir könnten den Titel des heutigen Vortragsabend umwandeln: Statt „Griechenland ist überall“, lieber: „Island ist überall“.

Aktuell findet gerade in Island eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung statt, mit erweiterten Mitspracherechten für die Bevölkerung.

Die EU auf dem sicheren Weg in den nächsten Finanzcrash?

Doch wir kehren jetzt zurück in den unliebsamen Alltag der Realitäten in Resteuropa außerhalb Islands, auf dem sicheren Weg zum nächsten Finanzcrash:

In der aktuellen Situation erleben wir zunächst die dramatischen Folgen der vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführten Fehlentwicklungen:

  • Das drastisch vermehrte Privatkapital vagabundiert weltweit an den Finanzmärkten auf der Suche nach lohnenden Geldanlagen, abgehoben von der Realwirtschaft, und verursachte so die Finanzkrise. Die zunehmende Konzentration von Einkommen und Reichtum in den Händen einiger weniger sorgte für die Geldschwemme einerseits und die fehlende Geldzirkulation andererseits, und damit für die Krise – da gibt es einen direkten Zusammenhang.

Zum zweiten Mal und pausenlos trifft es die verarmten Bevölkerungsschichten im Niedriglohnsektor auf der Armutsstufe und zunehmend die Mittelschichten, auf die man die ungeeigneten Problemlösungen finanziell abwälzen möchte.

Statt durch breites Streuen des Volkseinkommens, durch höhere Löhne und staatliche Transferleistungen die Nachfrage und damit die Realwirtschaft anzukurbeln, wird die Realwirtschaft nur zum Anhängsel der virtuellen Finanzmärkte. Der zunehmende Reichtum für wenige spiegelt sich nicht in den Steuereinnahmen der Staaten.

Die Gewerkschaft ver.di hat ein solide durchgerechnetes Steuerkonzept entwickelt, bei dem die höhere Besteuerung der 0,6% reichsten der Gesellschaft, dem Staat 300 Mrd. € zusätzliche Steuereinnahmen erbringen würde.

Die Konzentration des gesamten Reichtums in den Händen einiger weniger

Dazu nur einige wenige Zahlen zur Umverteilung von unten nach oben, die ja hinlänglich bekannt sind:

  • Es wird geschätzt, dass weltweit ein Drittel des globalen Geldvermögens sich in den Händen von nicht einmal 100.000 Menschen befindet, das wären 0,001% der Weltbevölkerung.
  • Das Privatvermögen der 500 reichsten Deutschen von insg. 3,3 Bio. €, das sind 3.300 Mrd. €, beträgt das 11-fache des Bundeshaushaltes von 306 Mrd. € für 80 Mio. Bundesbürger. Geld genug ist da, nur zu viel Geld in falschen Händen.
  • Und das Privatvermögen der reichsten Europäer, also einiger weniger tausend Milliardäre und Multimillionäre, beträgt 7 Bio. €. Das ist mehr als das Doppelte der 3 Bio. € Staatsschulden der 5 europäischen Schuldnerländer insgesamt, nämlich Griechenland, Spanien, Italien, Portugal und Irland mit 122 Mio. Bürgerinnen und Bürgern. (Mit einer 50%-igen einmaligen Besteuerung dieser Privatvermögen wären diese 5 Länder auf einen Schlag schuldenfrei! Stattdessen muss sich ganz Europa sorgen, dass dieses kleine Griechenland mit 11 Mio. Menschen das gesamte übrige Europa in den Abwärtsstrudel reißt!)

Für Deutschland hat ja gerade der jüngste Armutsbericht verdeutlicht, wie bei uns, im reichsten Land Europas, die Armuts-Reichtums-Schere immer weiter ungebremst auseinanderklafft:

  • Die privaten Vermögenswerte sind in den zurückliegenden Jahren um 2,3 Bio. € auf fast 9,4 Bio. € gestiegen. Gleichzeitig ist das Nettovermögen des Staates um 800 Mrd. € geschrumpft.
  • In Deutschland gehören dem reichsten einen Prozent der Bevölkerung über 35 Prozent des Gesamtvermögens, andere bereinigte Zahlen sprechen sogar von bis zu 66%. Derweil haben in den letzten 4 Jahren seit der Finanzkrise 90% der Bevölkerung an Vermögen verloren.
  • Das oberste Fünftel besitzt 71% des Gesamtvermögens, das untere Fünftel hat keinerlei Vermögen, für die 3/5 in der Mittelschicht verbleibt 29% des Gesamtvermögens.
  • Die untersten 50% der Bevölkerung, also die untere Hälfte statistisch zusammengefasst, besitzen zusammen nur 1,4% des Netto-Gesamtvermögens.

Verarmte Staaten und Bürger als Kehrseite privater Reichtumsvermehrung

Zugleich verfügt der deutsche Staat nur noch über ein Netto-Vermögen von sechs Prozent der Wirtschaftsleistung. Die Netto-Privatvermögen kommen dagegen auf etwa 300 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In anderen europäischen Ländern sieht die Lage ähnlich aus.

Ähnlich verhält es sich bei der Entwicklung der Einkommen in Deutschland:

  • Die obersten 20% verzeichnen in den zurückliegenden Jahren hohe Einkommenszuwächse von 12,7%,
  • die untersten 10% haben Einkommensverluste von – 5,3%,
  • die Einkommen der mittleren 70% stagnieren
  • Die Rentner haben Kaufkraftverluste von 20%, also einem Fünftel
  • Jeder 4. Arbeitnehmer ist im Niedriglohnsektor beschäftigt
  • Die Quoten für das Armutsrisiko sind je nach Personengruppe auf über 60 % für Arbeitslose und 43,3% für Alleinerziehende gestiegen, für Rentner hat sie sich vervierfacht.

Was ist die Kehrseite dieser politisch gewollten Entwicklung, die nicht naturgesetzlich über uns hereingebrochen ist?

Das ist neben den sozialen Verwerfungen und demokratischen Rückschritten die öffentliche und private Schuldenentwicklung, die politisch gewollt ist, als Folge steuerpolitischer und europapolitischer Entscheidungen:

  • Die Staatsverschuldung in Deutschland beträgt, wie gesagt, rund 80% des Bruttosozialproduktes und beläuft sich aktuell auf ca. 2.000 Mrd. Euro, das sind 2 Bio. €.
  • Unser Bundesland NRW hat 172 Mrd. € Schulden,
  • und die Kommunen in Deutschland haben insgesamt 133 Mrd. € Schulden,
  • die Hälfte davon allein die Städte in NRW mit 57 Mrd. € Schulden oder 3.200 € pro Einwohner, allein 22 Mrd. € für kurzfristige Kassenkredite;
  • Ein Drittel dieser Kommunalschulden entfällt allein auf 10 Städte im Rhein-Ruhrgebiet, Spitzenreiter sind Oberhausen, Duisburg, Hagen, Remscheid und der Kreis Recklinghausen,aus dem ich komme.
  • In den 10 Städten des Kreises Recklinghausen summieren sich allein die Kassen- oder Dispokredite auf 2,4 Mrd. €, von denen seit Jahren die Gehälter der Beschäftigten bezahlt werden. Die Städte sind also faktisch schon längst pleite.

Griechische Verhältnisse in unseren Kommunen

Der Niedergang der Kommunen begann übrigens schlagartig mit der sogenannten Jahrhundert-Steuerreform von SPD-Finanzminister Hans Eichel unter rot-grün. Und er setzte sich fort unter der schwarz-gelben Rüttgers-Regierung in NRW nach dem Motto: „Privat vor Staat“.

Fazit: Nordrhein-Westfalen mit seinen Städten steckt längst so tief im Schuldensumpf wie Griechenland.

  • Der Zerfall der Städte geht sichtbar vor sich, damit einhergehend das Ende der kommunalen Selbstverwaltung mit dem sozialen und kulturellen Kahlschlag und der zunehmenden sozialen Verelendung der schwächsten Bevölkerungsschichten. In einzelnen Ruhrgebietsstädten ist jedes 3. bis 5. Kind von Armut betroffen.

Hinzu kommt noch die private Verschuldung:

  • Fast 3 Mio. Privathaushalte sind bundesweit überschuldet. Vielen droht die Privatinsolvenz.
  • Jeder Privathaushalt hat im Durchschnitt fast 27.000 € Kreditschulden für Konsumkredite und Hypothekenkredite.

Dieselben neoliberalen und lobbyhörigen Politiker, die das gefördert und zugelassen haben, spielen sich nun als Retter von Staaten und Kommunen auf mit ihren „Hilfspaketen“, vom europäischen ESM-Stabilitätsmechanismus mit einem Kapitalstock von 700 Milliarden Euro bis hin zum Stärkungspaket Stadtfinanzen in NRW mit völlig unzureichenden 3,5 Mrd. € bis 2020.

Das Bemerkenswerte daran ist: Es werden bei der Vergabe dieser Hilfsgelder nicht nur irgendwelche zu erreichenden Summen als Sparvorgaben genannt, und die einzelnen Maßnahmen und Schritte überlässt man den Parlamenten, sei es in Griechenland, sei es in unseren Städten.

Sondern es wird diktatorisch von oben konkret die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und Dienstleistungen vorgeschrieben, der Ausverkauf öffentlichen Vermögenswerte, der Abbau von Stellen im öff. Dienst, die Reduzierung von Löhnen und Renten und Kürzung von Sozialleistungen, Schließung sozialer und kultureller Einrichtungen, möglichst der Verzicht auf Steuererhöhungen

– bis hin zum Vorschreiben der 6-Tage-Woche und des 10-stündigen Arbeitstages einschließlich Samstags für die Griechen, der Lockerung des Kündigungsschutzes, der Rente mit 67 usw. Nach der neoliberalen Lesart: Die faulen Griechen müssen wir erst mal an die Arbeit kriegen.

Selbst die Zahlen über den angeblich aufgeblähten öff. Dienst, bzw. die hohe Staats(ausgaben)quote in Griechenland belegen bloße Vorurteile: In Wirklichkeit liegt Griechenland im europäischen Vergleich (nach erfolgter Entlassung von 80.000 Staatsdienern) mit unter 49% im Mittelfeld, seitdem es 80.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst entlassen hat, noch hinter Frankreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Österreich, Niederlande und Italien, gleichauf mit Schweden und nur geringfügig über Deutschland mit fast 46%.

Doch am deutschen Wesen des neoliberalen Musterschülers soll die Welt genesen?

Sanierung der Staatsfinanzen nur Vorwand für weiteren neoliberalen Feldzug?

Es wird immer offensichtlicher, dass es nicht allein um die Sanierung der griechischen Staatsfinanzen geht, sondern um einen neoliberalen Feldzug, der alle Lebensbereiche erfasst.

Die für Griechenland verordneten Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst nutzen übrigens die privaten Wirtschaftsunternehmen in Griechenland schamlos aus, indem auch sie auch ihren Beschäftigten bei der Gelegenheit mal eben die Löhne entsprechend kürzen. So geht die gesamte Wirtschaft und Kaufkraft den Bach herunter. Arbeitnehmer, Selbständige und Unternehmen verlassen teilweise Griechenland.

Ein ähnlicher Trend ist auch in unseren Kommunen zu beobachten. Weil die Nothaushalts-Kommunen gezwungen waren, ihre Gewerbesteuer- und Grundsteuer drastisch zu erhöhen, gibt es erste Abwanderungstendenzen von Unternehmen und Bürgern vom nördlichen Ruhrgebiet ins benachbarte Münsterland. Die Kommunen sanieren sich zu Tode.

Gefordert wird dennoch der ganze neoliberale Katalog der Grausamkeiten, ob es die Troika der EU-Kommission mit der EZB und dem IWF für Griechenland ist, oder ob es die Gemeindeprüfanstalt in NRW (mit einem FDP-Politiker an der Spitze) und die Kommunalaufsicht für unsere überschuldeten Städte in NRW sind.

Die Vorgehensweise ist immer die gleiche. Von der Selbstverwaltung zur Fremdverwaltung durch Sparkommissare. Finanzminister Schäuble hat ja gerade einen mit allen Veto- und Eingriffsrechten versehenen EU-Währungskommissar gefordert.

Die neoliberalen Krieger hinterlassen ihre Spuren der sozialen Verwüstung. Wir erleben die Preisgabe der politischen Souveränität von Staaten ebenso wie von entmündigten Kommunen als unterste, tragende Säule des Staates.

Andernfalls wird mit Verweigerung der Hilfsgelder gedroht aus dem EU-Rettungsfond oder aus dem Stärkungspaket Stadtfinanzen.

Ob die an die Sparprogramme gekoppelten Hilfsgelder zur Problemlösung oder Problemverschlimmerung beitragen, können wir schon alsbald beurteilen.

Die EU-Finanztechnokraten überfordern Politiker und Parlamente

Parallel dazu entwickeln die Politiker im Bund und auf der EU-Ebene - auch angesichts der anhaltenden Massenproteste in den südeuropäischen Ländern - hektische Aktivitäten zur vermeintlichen Krisenbewältigung.

Sogar die von attac und übriger Zivilgesellschaft seit langem geforderte Finanztransaktionssteuer wird plötzlich hoffähig und von den ersten 11 Euro-Staaten in Angriff genommen (mit 0,1% für Wertpapiere und 0,01% für Derivate) – ein Erfolg der hartnäckigen Zivilgesellschaft, wenn gleich attac 0.5% vorgeschlagen hatte..

Auch sind erste Maßnahmen gegen Marktmanipulationen und Insidergeschäfte auf den Weg gebracht worden.

Von den vollmundigen Ankündigungen des selbst ernannten SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück zu den Steuererhöhungs- und Bankenregulierungsplänen erst gar nicht zu reden.

Sind das Wiedergutmachungen für vorherige politische Fehlentscheidungen oder bloße Beruhigungspillen, um politische Handlungsfähigkeit gegenüber den allmächtigen Finanzmärkten vorzutäuschen?

Doch wie gesagt: Mit denselben Gedanken und Personen, mit denen die Probleme verursacht wurden, lassen sich niemals die Probleme lösen.

Und schon gar nicht mit systemerhaltenden statt systemverändernden Maßnahmen. Nur im bestehenden System gibt es systemrelevante Banken und scheinbar nicht systemrelevante Kommunen.

Der große Gesamtzusammenhang und eine erfolgversprechende Zukunftsvision gehen völlig verloren bei der täglichen Krisenpolitik, die nur auf Ereignisse reagiert und an Symptomen herum kuriert. Ein gestalterischer oder reformerischer Ansatz existiert derzeit kaum.

Das eigentliche Funktionieren von Wirtschaft und die Wertsetzung des zirkulierenden Geldes ist kaum noch im Bewusstsein der Marktradikalen und –abhängigen.

Geld ist nicht dazu da sich selber zu vermehren, sondern das Gemeinwohl zu vermehren. Das müsste eigentlich die Botschaft des Euro sein: Von der Konkurrenzwirtschaft der Binnenmärkte zur solidarischen Gemein wohlwirtschaft weltweit. Und das am besten mit einem krisenfesten, bedingungslosen Grundeinkommen für alle Menschen.

Inzwischen schwirrt nicht nur uns, sondern auch den Fachleuten der Kopf bei der Begriffswelt der hilflosen und hektischen Krisenmanger, die erklärtermaßen selber nicht mehr den Durchblick haben. Da ist die Rede von:

  • Euro-Rettungsschirm oder Krisenfond EFSF mit erstem, zweiten und dritten Hilfsprogramm,
  • Europäischer Stabilitätsmechanismus ESM (mit Garantien von 620 Mrd. €, einem Kapitalstock von 700 Mrd. €, davon 200 Mrd. € Rücklagen; Deutschland ist mit 168 Mrd. beteiligt).
  • Europäischer Fiskalpakt mit Sicherungsfond (zur Begrenzung des strukturellen Defizits auf 0,5% des BIP)
  • Wünschenswerte Eurobonds und Wachstumspakete (Solidarisch gedeckte Anleihen der EU, niedrig verzinst, gegen Gebühr an Griechenland u.a., gegen staatliche Insolvenz, wie seinerzeit in Argentinien)
  • Schuldenbremse, Umschuldung und Schuldenschnitt
  • EU-Strukturfond und EU-Projektanleihen
  • Bankenunion, Fiskalunion, Wirtschaftsunion und politische Union
  • Troika aus Internationalem Währungsfond IWF, Europäischer Zentralbank und EU-Kommission
  • Europäische Investitionsbank EIB (das ist die EU-Investmentbank zur Finanzierung tragfähiger Projekte mit langfristigen Finanzierungsmitteln)
  • Finanztransaktionssteuer.

Fragen wir mal unsere Abgeordneten in Bundestag und Europaparlament, ob sie bei der geforderten Mitbestimmung über das Vorgehen der Brüsseler Finanztechnokraten wirklich mitreden können und wollen.

Sie haben ja nicht mal den verfassungsähnlichen Lissabonner EU-Vertrag gelesen und verstanden, dem sie gleichwohl zugstimmt hatten.

Lissabon-Strategie und -vertrag als neoliberales Fundament der EU

Dort ist das neoliberale Fundament der EU festgeschrieben worden und zugleich die Lissabon-Strategie, mit der die EU den Anspruch erhob, im Wettbewerb der Kontinente und Märkte zum erfolgreichsten Binnenmarkt der Welt zu werden - und sei es mit militärischer Sicherung der auswärtigen Rohstoff- und Energievorkommen und der Handelswege von und nach Europa (laut EU-Militärdoktrin GASP und Bundeswehr-Weißbuch) .

Also die Fortsetzung der marktradikalen Politik mit anderen, nämlich militärischen Mitteln.

Seither sind die Rüstungsproduktion und -exporte Deutschlands und Europas auf historische Spitzenhöhe angelangt, weit mehr als in Zeiten des kalten Krieges.

Im deutschen Bundeshaushalt wird mit über 30 Mrd. € mehr Geld für Militär und Rüstung ausgegeben als für sämtliche Ausgaben von Bildung, Forschung und Kultur, von Gesundheit, Umwelt, Landwirtschaft und Ernährung, sowie Verkehr, Städtebau und Wohnen zusammen. Dort aber muss gespart werden.

Und kein anderes NATO-Land außer USA gibt in Relation zur Wirtschaftskraft so viel Geld für Rüstung aus wie Griechenland, nämlich 5 - 6 Mrd. €, das sind 4,3% des BIP (der Durchschnitt der OECD-Industrieländer beträgt nur 1,7%)

Nicht ohne Grund ist der exorbitante Militärhaushalt Griechenlands bei den Spardiktaten außen vorgeblieben, weil nämlich Deutschland der Hauptrüstungslieferant an Griechenland ist. Stattdessen muss die Bevölkerung bluten.

Dies nur als Randnotiz angesichts der aktuellen Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU.

Im Lissabon-Vertrag ist auch der Vorrang des freien Kapitalverkehrs vor den sozialen Rechten der Bevölkerung festgeschrieben sowie die (im deutschen Grundgesetz verankerte) Sozialverpflichtung des Eigentums kurzerhand in die „freie Eigentumsverfügung“ umgewandelt worden – und keiner im Bundestag und Europaparlament hat es bemerkt?

Für eine aussichtslose Vorrangstellung auf den Weltmärkten unterlässt die nun krisengeschüttelte EU keine Anstrengung, ohne Rücksicht auf die Verlierer in außereuropäischen Teilen der Welt.

Die Verlierer der marktradikalen Konkurrenzkampfes der EU bleiben außen vor

Die Wirtschaftsflüchtlinge aus den Verlierer-Ländern dieses gnadenloses Wettbewerbes werden ja bekanntlich an den EU-Außengrenzen abgefangen oder man lässt sie vor den Küsten untergehen.

Die Euro-Krise hat nun den ökonomischen und chauvinistischen Weltmachtträumen eines überlegenen Europas vorerst einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Europa ist längst auf der globalen Verliererstraße und wird von Asien belächelt und von Amerika sorgenvoll beobachtet, wenngleich Amerika vergleichbare eigene Probleme hat.

Von der Immobilien- und Bankenkrise zur Staatsschuldenkrise, weiter zur Krise der Euro-Währung und der Reallöhne, hin zur Wirtschafts- und Demokratiekrise – und das Ganze als große Struktur- und Systemkrise des neoliberalen Kapitalismus als erkennbar gescheitertes Modell.

Bei der ersten großen Finanzkrise 2007/2008 wurde mancher erschrockene Neoliberale selbstkritisch vom Saulus zum Paulus auf der Suche nach Konsequenzen und Alternativen. Aber das hielt nicht lange vor.

Übriggeblieben ist nur ein hilfloses Kurieren an Symptomen, wie gesagt.

Systemerhaltung statt Systemveränderung ist weiterhin Kern aller Strategien, so es denn welche gibt.

Nicht Demokratie statt Fiskalpakt wird verfolgt, sondern umgekehrt: Fiskalpakt statt Demokratie.

Griechenland nur ein Testfall für die weitere Schocktherapie der Neoliberalen?

Die Eurokrise ist nur die Spitze einer tiefen Kapitalismuskrise, einhergehend mit einer ernsten Demokratie-Krise - man kann es gar nicht oft genug wiederholen.

Deshalb müssen wir uns ohne Illusionen folgendes vor Augen führen:

  1. Schon in den nächsten Monaten wird die Krise unserer südeuropäischen Nachbarn auch zu unserer Krise - denn Griechenland ist überall.
  2. Griechenland ist nur ein Testfall für die Schocktherapie der neoliberalen EU-Akteure
  3. Wir stehen vor einer weiteren Ausplünderung der Gesellschaft und der Staaten mitsamt Kommunen durch eine kleine radikale Minderheit der Banken, Spekulanten und Aktionäre.

Die internationalen Finanzmärkte bewegen 200 Bio. US-Dollar, das Dreifache des Weltsozialproduktes. Auf der weiter anhaltenden Suche nach spekulativen Anlagemöglichkeiten zerstören sie die Realwirtschaft und das soziale Gefüge.

Vor diesem Szenario bleiben die betroffenen Menschen erstaunlich ruhig und abwartend. Abgesehen von den Griechen, Spaniern und Portugiesen gibt es wenig Widerstand.

Jetzt ist die Zivilgesellschaft gefordert!

Die große zivilgesellschaftliche Protestaktion am 28. September unter dem Motto: „Umfairteilen“, als Bestandteil europaweiter Proteste, fand hier in Deutschland mit nur 40.000 Teilnehmenden eine enttäuschende Resonanz, europaweit waren es wenige Hunderttausend.

Da hatte die Occupy-Bewegung am 15. Oktober 2011 mehr auf die Beine gestellt, nämlich die größte Protestaktion in der Menschheitsgeschichte: In 82 Ländern dieser Welt waren 20 Millionen Menschen in über 1000 Städten zeitgleich gegen die Finanzmärkte auf die Straße gegangen – mehr noch als im Februar 2003 weltweit gegen den Irak-Krieg.

Daran sollten wir anknüpfen.

Doch immer noch lässt sich die murrende Bevölkerung, anders als in Südeuropa, bei uns kaum mobilisieren.

Trotz Politik- und Parteienverdrossenheit herrscht bei aller Skepsis und Sorge immer noch der Glaube und die Hoffnung, unsere Eliten in Regierungen, Parlamenten, Parteien und Wirtschaft würden letztendlich schon wissen, was sie tun.

Immerhin gibt es den Aufruf der Initiative von Habermas, Altvater u.a. „Europa neu begründen“ mit tausenden Unterschriften. Das Institut „Solidarische Moderne“ veranstaltet zum gleichen Thema dazu am 17. November ein Forum in der Uni Essen mit Oscar Negt, Frau Ypsilanti und anderen.

Es gibt den Aufruf der Initiative: „Demokratie statt Fiskalpakt“ sowie die attac-Aktion: „Bank wechseln!“ Und es gibt das Blockupy-Bündnis gegen ein neoliberales Europa sowie das Treffen der Teilnehmer des europäischen Sozialforums vom 8. bis 11. November in Florenz, um Kräfte zu sammeln „für ein anderes Europa“. Ferner gibt es länderübergreifende Anstöße zum Aufbau von Solidaritärts-Komitees. Am 14. November plant der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) europaweite Protestaktionen.

Und in Recklinghausen treffen wir uns am 1. November in kleiner Runde mit einem EU-Angeordneten, um im Ruhrgebiet ein öffentliches Forum zu solchen Europa-Fragen vorbereitend auf den Weg zu bringen. Vielleicht sollte man all diese Initiativen bündeln und zusammenführen zu einer schlagkräftigen Bewegung.

Banken misstrauen Haftungsgemeinschaft zwischen Bund, Ländern und Gemeinden

Das Grundwissen vom Funktionieren der Wirtschaft und des zirkulierenden Geldes mit seiner Sozialfunktion scheint bei den verantwortlichen Eliten teilweise in Gänze verloren gegangen zu sein, und auch das Grundverständnis für das Funktionieren von Demokratie.

Sogar die sogenannte Haftungsgemeinschaft zwischen Bund, Ländern und Kommunen wird in Frage gestellt. Sie stoße angeblich an ihre Grenzen, so die Meinung derjenigen Banken, die den Städten und Gemeinden mit Nothaushalten neuerdings die Kassenkredite verweigern wollen.

Mit der WL Bank Münster (Westfälische Landschaft Bodenkreditbank für Gewerbeflächenförderung), einer Tochter der Volks- und Raiffeisenbanken und spezialisiert auf die Finanzierung von Kommunen, hat sich kürzlich die erste Bank entschieden, keine Kredite mehr an Kommunen im Nothaushalt zu vergeben. "Das ist eine geschäftspolitische Entscheidung", begründet Marketingdirektor André Krabbe den Schritt. "Wir wollen einen Impuls setzen, dass es so nicht weitergehen kann."

Damit steht die WL Bank nicht alleine da: Auch die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) schiebt seit kurzem der hemmungslosen Verschuldung einen Riegel vor und verleiht nur noch 750 Euro pro Einwohner an eine Kommune. Den ursprünglichen Plan, Kredite an der Pro-Kopf-Verschuldung einer Gemeinde auszurichten, ließ die KfW laut Medienberichten nur nach massivem Widerstand der Vertreter von Kommunen und Ländern wieder fallen. Sonst wären die ersten Kommunen trotz Staatshaftung pleite gegangen.

Die Entscheidungen von WL Bank und KfW haben Signalwirkung, der weitere Banken folgen könnten, glauben Experten. Zwar galten Darlehen für Kommunen bisher für die Banken immer als risikolos – schließlich müssten im Zweifel das Land und der Bund für ihre Verbindlichkeiten einspringen.

Selbst die Rating-Agentur Moody hat vorige Woche diejenigen Banken abgestuft, die Bund, Länder und Kommunen Kredite geben, weil die Kreditwürdigkeit der Garantiegeber sinke. Also: Die öffentliche Hand gilt generell als nicht mehr sicher für die Finanzmärkte, nachdem selbige die öffentlichen Haushalte zuvor geplündert haben.

Die Schuldenkrise in Griechenland, Italien und Spanien hat die Banken „verunsichert“. Die Illusion, dass es bei solchen Geschäften keine Risiken gibt, ist seitdem zerstört", sagt der bekannte Finanzwissenschaftler und Kommunal-Gutachter Prof. Martin Junkernheinrich.

Naive Stadtkämmerer haben mit Zinswetten Millionen verzockt

Übrigens stehen auch in den USA die ersten Kommunen am Rande der Pleite, (z. B. Stockton), ausgelöst durch sogenannte Zinswetten. Der kindlich-naive Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten der Finanzmärkte ist verführerisch.

Auch Hunderte unserer deutschen Stadtkämmerer hielten ja hochspekulative Anlageprodukte für einen genialen Ausweg aus ihren Haushaltsnöten – und verloren Unsummen. So haben z. B. auch Remscheid und Solingen Millionen verzockt.

Diese gesamten Fehlentwicklungen sind fast nur erklärbar mit entweder unfähigen oder abhängigen und korrupten Politikern, die das Geschäft von Interessengruppen und Finanzspekulanten dem Einsatz für das Gemeinwohl vorziehen.

Damit gefährden sie die Demokratie und den sozialen Frieden – und die sozialen Lebenschancen einer ganzen verlorenen Generation.

Wie eingangs gesagt: Das globale Finanzsystem lebt nur noch mit Staatshilfe. Mit Milliardensummen und Bürgschaften sollen die Steuerzahler den Steuerflüchtlingen helfen und den Finanzmarkt weitgehend unreguliert belassen.

Deshalb hat seit Beginn der Finanzkrise im Herbst 2008 die deutsche Finanz- und Versicherungswirtschaft den Parteien CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen kräftiger denn je Geld gespendet. Die CDU erhielt von Deutscher Bank, Allianz und anderen rund 1,6 Millionen Euro, die FDP 1,1 Millionen. Die SPD erhielt 270.000 Euro, CSU und Grüne jeweils 170.000 Euro. Allein Die LINKE ging leer aus.

Der „anonyme“ Finanzmarkt hat konkrete Namen und Gesichter

Denn wir haben es keineswegs nur mit anonymen Finanzmärkten zu tun, sondern mit handelnden und vernetzten Personen.

Spitzenpolitiker wechseln zu Banken und Finanzunternehmen, und Spitzenbanker wechseln in öffentliche Ämter.

Ich tische jetzt keinerlei Verschwörungstheorie auf, aber die personelle Verflechtung von namhaften Spitzenpolitikern, darunter vielen Ex-Staatschefs und Ministern, mit der Hochfinanz in Europa und den USA, ist erschreckend. Darüber lohnte sich ein eigener Vortragsabend.

Im Internet habe ich dazu eine unvollständige Übersicht veröffentlicht (unter Zeitfragen blog).

Die Namen aller großen Bankmanager tauchen dort ebenso auf wie die Namen der meisten ausgeschiedenen Staatschefs aus Europa und zahlreicher Minister sowie EU-Kommissare und Inhaber wichtiger öffentlicher Ämter und Funktionen.

Um nur ein paar Namen und Fakten zu nennen (siehe auch le Monde, Juni 2012):

  • In Italien wurde mit der Ernennung von Mario Monti zum italienischen Ministerpräsidenten eine Regierung der Banker installiert, kaschiert als Technokraten- oder Experten-Regierung. Die meisten neuen Minister stammen aus den Chefetagen der großen italienischen Konzerne, darunter der frühere Vorstandsvorsitzende der zweitgrößten italienischen Bankengruppe (Untesa Sanpaolo). Regierungschef Mario Monti selber war Berater für Goldman Sachs und Coca-Cola und saß im Verwaltungsrat von Fiat und Generali.
  • Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), der Italiener Mario Draghi, war früher ebenfalls Direktor bei der als „Krake“ bezeichneten weltgrößten Privatbank, Goldman Sachs. Sogar der Präsident der Weltbank, Robert Zoellick, kommt von Goldman Sachs. Und der Vizepräsident der EZB, der Portugiese Victor Constancio, war Vizepräsident der Bank von Portugal. Zum EZB-Direktorium gehören auch Peter Praet, vormals Direktor der Nationalbank von Belgien sowie der Deutsche Jörg Asmussen, u. a. vorher Staatssekretär und Aufsichtsratsmitglied bei der DeutschenTelekom.
  • Doch werfen wir noch einen genaueren Blick in ein unsichtbares Bankenimperium, das heimlich die Welt lenkt: Die gezielte Platzierung ihrer Spitzenleute in öffentliche und politische Ämter rund um den Globus ist eine Spezialität der weltgrößten und einflussreichsten Bank mit Sitz in New York, nämlich Goldmann Sachs, zu deren Netzwerk 30.000 weitere Banken gehören. Goldman Sachs ist Finanzdienstleister für Großunternehmen und Staaten, mitverantwortlich für die Finanzkrise 2007, u.a. durch Wertpapier-betrug und durch systematische Hilfestellung für die griechische Regierung bei der Verschleierung der wahren Staatsschulden. (Vorige Woche war eine Fernsehdokumentation darüber in ARTE zu sehen).

Die Finanzmafia der Eliten als Krisentreiber

  • Vorsitzender von Goldman Sachs International ist der ehemalige EU-Kommissar Peter Sutherland, vormals auch erster Generaldirektor der Welthandelsorganisation WTO. Ehemalige Goldman-Sachs-Manager sind außer dem bereits genannten EZB-Chef Mario Monti z. B. auch der für die Überwachung des globalen Finanzsystems zuständige Marc J. Carney, als Vorsitzender des Financial Stability Board.

Der Vorsitzende von Goldman Sachs Deutschland, Alexander Dibelius, ist Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und im weißen Haus in Washington sitzen etliche Goldman-Sachs Spitzenleute, so z. B. der ehemalige Finanzminister unter Bill Clinton, Robert Rubin, ferner Henry Paulson, beide heute als Berater des US-Finanzministeriums. Auch der Kanzleichef des heutigen US-Finanzministers unter Obama war in der Chefetage bei Goldman Sachs, nämlich Mark Patterson, ebenso der Wirtschaftsstaatssekretär Robert Hormats.

Aber nicht nur in den Regierungen, auch in den übrigen Weltinstitutionen hat Goldman Sachs seine Spitzenleute platziert. So auch den Vorsitzenden der amerikanischen Zentralbank, Wiliam Dubley, ferner in der Börsenaufsicht und für die Überwachung der Rohstoffmärkte den Ex-Banker Garry Gansler. Und auch der Chef der kanadischen Nationalbank, Mark Garrey, der auch mit der Zuständigkeit für die Reform des internationalen Finanzsystems betraut wurde.

In diesen Tagen ist Rajat Gupta, Verwaltungsratsmitglied bei Goldman Sachs und einstiger Wallstreet-Star sowie Chef des Beratungsunternehmens McKinsey, zu immerhin 2 Jahren Gefängnis verurteilt worden - wegen Insiderhandels und Weitergabe vertraulicher Informationen an einen Hedgefond in 2008 (der Hedgefond-Manager wurde bereits zu 11 Jahren Haft verurteilt).

  • Auch anderswo haben viele frühere Protagonisten der sozialliberalen Wende inzwischen die Seite gewechselt, so z.B. Wim Kok, der ehemalige Ministerpräsident der Niederlande. Er sitzt heute im Aufsichtsrat des niederländischen Finanzdienstleiters ING, ferner in den Aufsichtsräten von Shell und KLM.
  • Und unser Ex-Kanzler Gerhard Schröder hat ja nicht nur ein neues Betätigungsfeld als Aufsichtsratsvorsitzender der Nord-Stream AG gefunden, an dem die Unternehmen Gazprom, Eon BASF, GDF, Suez und gasuni beteiligt sind. Er ist außerdem Berater für das Europa-Geschäft der Rothschild Investmentbank. Ferner ist er Aufsichtsratsvorsitzender beim Ölkonzern TNK-BP. Dort wurde vorige Woche ein Manager festgenommen (taz vom 20.10.2012), kurz vor dem geplanten Milliarden-Deal mit dem Energiekonzern Rosneft. Der PR-Chef soll Unternehmern gegen Millionenbeträge hohe Posten in der russischen Verwaltung angeboten haben. Rosneft-Bos Igor Setschin ist enger Vertrauter von Präsident Putin, der den Kauf von TNK-BP befürwortet. Rosneft wurde mit der Übernahme zum weltgrößten börsennotierten Ölkonzern unter staatlicher Regie von Rußland – das mit Gazprom nun den größten Gaskonzern und mit Rosneft den größten Ölkonzern lenkt – mit Schröders Mithilfe.
  • Sein Ex-Innenminister Otto Schily sitzt heute in einer europäischen Investmentberatungs-Firma (European Advisory Board von Investcorp) mit Sitz im arabischen Inselstaat Bahrain. In diesem Gremium sitzen auch der österreichische Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel, ferner der Sozialist Giuliano Armato, früherer italienischer Ministerpräsident und Vizepräsident des europäischen Verfassungskonvents. Außerdem der ehemalige spanische Außenminister der konservativen Regierung Aznar, Ana Palacio. Und sogar der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan ist dort mit von der Partie.
  • Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement sitzt im Aufsichtsrat von der RWE Power AG und fungiert als „Senior Advisor“ der Citigroup Markets Deutschlands und als strategischer und operativer Berater einer Investmentfirma (namens RiverRock European Capital Partners). Ex-Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) sitzt im Aufsichtsrat von 2 Banken und war Kurater der neoliberalen Arbeitgeber-Initiative „neue Soziale Marktwirtschaft“
  • Caio Koch Weser, ehemals Staatssekretär im deutschen Finanzministerium, sitzt seit 2006 im erweiterten Vorstand der Deutschen Bank. Der frühere Bankchef Josef Ackermann hat ja zu Zeiten der großen Koalition die Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück in der Finanzkrise regelmäßig beraten. Und Kanzlerin Merkel hat ja für ihn dafür im Kanzleramt eine Geburtstagsfete auf Staatskosten ausgerichtet.
  • Ex-Finanzminister Peer Steinbrück, jetzt SPD-Kanzlerkandidat – er erhielt die ersten öffentlichen Glückwünsche zu seiner Nominierung ausgerechnet von Ex-Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann - ist bislang noch Mitglied im Aufsichtsrat des Stahl- und Rüstungskonzerns KruppThyssen und gutbezahlter Redner vor Banken, Versicherungen und Unternehmen. Der frühere Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und ehemalige Chef der Staatskanzlei in NRW, Wilhelm Adamowitsch, der unter NRW-Ministerpräsident Clement und Bundeswirtschaftsminister Clement gedient hat, ist seit 2011 Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, also Spitzenlobbyist des Dachverbandes der Rüstungsindustrie.
  • Der ehemalige SPD-Bundesarbeitsminister Walter Riester tritt neben seiner Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter als Referent bei verschiedensten Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche in Erscheinung und ist Aufsichtsratsmitglied von ArcelorMittal Bremen. Zum 1. Oktober 2009 wurde Walter Riester Aufsichtsrat des Finanzdienstleisters Union Asset Management Holding. Die geschäftlichen Verbindungen Riesters (und Bert Rürups) zum Finanzdienstleister AWD (Stichwort: Maschmeier) kritisierte Transparency International als "Beispiel für politische Korruption.
  • Der frühere Präsident der deutschen Bundesbank, Axel Weber ist jetzt Verwaltungsratspräsident der Schweizer Großbank UBS. Der ehemalige bayrische Finanzminister Georg Fahrenschon ist jetzt Präsident des deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Der ehemalige stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg ist jetzt Cheflobbyist von Volkswagen.
  • Sogar die deutschen Geheimdienstler mischen mit: Der frühere Präsident des Bundenachrichtendienstes, Ernst Uhrlau, ist jetzt Berater der Deutschen Bank. Und der frühere Generalsekretär der CDU in NRW, Andreas Krautscheid, ist nun Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Banken. Usw. usf. Auf der Homepage von Lobbycontrol findet man unter dem Stichwort „Seitenwechsler“ etwa weitere 100 Namen und Funktionen umgestiegener deutscher Politiker – also durchaus ein Massenphänomen und keine Einzelfälle.
  • Der frühere deutsche Außenminister und Vize-Kanzler Joschka Fischer von den Grünen ist heute Unternehmensberater und Lobbyist für die Energieversorger RWE und OMV (Nabucco-Pipeline).
  • Der ehemalige britische Außenminister David Miliband von New Labour ist heute als Berater für eine Investmentfirma in den USA (Vantage Point Capital Partners) tätig und für eine pakistanische Holdinggesellschaft. Und Peter Mandelson, Handelsminister unter Tony Blair und danach EU-Kommissar für Handel, berät seit 2011die US-Investmentbank Lazard.
  • Tony Blair, der britische Ex-Premier selber, hat eine erkleckliche Zahl von Ämtern angesammelt, als Berater bei der Schweizer Finanzholding ZFS (Zurich Financial Services), als Redner für den Hedgefonds Lansdown Partner, und Vorsitzender des Internationalen Beraterstabes von JP Morgan Case – dem auch Henry Kissinger angehört, der ehemaligen US-Präsidentenberater, sowie Ex-UNO-Generalsekretär Kofi Annan.
  • Der erfolgreichste amerikanische Hedgefonds-Manager Alan Greenspan holte sich den langjährigen Chef der US-Zentralbank zum Berater, der bereits einen zweiten Beratervertrag mit einem der wichtigsten Gläubiger der USA hatte, der Pacific Investment Management Company (mehrheitlich im Besitz der Allianz-Versicherung).
  • Für international führende Hedgefonds tätig war auch Lawrence Summers, Finanzminister unter Bill Clinton und Präsident des nationalen Wirtschaftsrates unter Präsident Obama. Der frühere Staatsminister im britischen Außenministerium und spätere Leiter des UN-Entwicklungsprogramms, Lord Mallow-Brown, stellte sich ebenfalls in den Dienst von Hedgefonds und Finanzunternehmen.
  • Sogar der französische Sozialist Hollande, heutiger Präsident Frankreichs, griff im Wahlkampf auf Berater zurück, die ein zweites Standbein in der Wirtschaft haben als Verwalter von Investmentfonds, die auf die zunehmende Verschuldung südeuropäischer Länder spekulieren. Und zu seinem Wahlkampfmanager hat er ausgerechnet den Vizepräsidenten des Lobby-Zirkels der Industrie, dem alle französischen Unternehmensgruppen angehören, engagiert, Pierre Moscovici.

Die Folgen personeller Verflechtung zwischen Politik und Finanzwelt

Man könnte die Liste abendfüllend fortführen. Was hat sie mit unserem heutigen Thema zu tun?

Sehr viel, denn sie zeigt einerseits die Interessen-Verflechtung der Oberschichten von Politik und Wirtschaft als eine Krisenursache, und gibt andererseits dem scheinbar anonymen Finanzmarkt und seiner Krise konkrete Gesichter.

Die zunehmende personelle Verflechtung von Spitzenpolitikern in Deutschland, Europa und weltweit mit den Bankern und Finanzjongleuren und umgekehrt ist erschreckend und entlarvend.

Die gesamten Fehlentwicklungen an den Finanzmärkten sind fast nur erklärbar mit entweder unfähigen oder abhängigen und korrupten Politikern, die das Geschäft von Interessengruppen und Finanzspekulanten dem Einsatz für das Gemeinwohl vorziehen.

Damit gefährden sie die Demokratie und den sozialen Frieden – und die sozialen Lebenschancen einer ganzen verlorenen Generation.

Denen da oben geht es nur noch darum, den Oberschichten noch mehr Einkommen und Einfluss zu verschaffen.

Heute gibt es bereits weltweit etwa 63.000 Personen, deren Vermögen jeweils 100 Mrd. Dollar übersteigt.

Deren Privatvermögen addieren sich auf 50 Bio. Dollar, was dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt aller Staaten der Welt entspricht.

Sie sind es mit ihrem obszönen Reichtum, welcher den bedürftigen Massen entzogen wird, die für die Armutsentwicklung mitverantwortlich sind.

Sie sind die Gewissenlosen, die 800 bis 900 Millionen Menschen in 20 Armutsländern hungern lassen und jährlich 8,8 Mio. Menschen daran sterben lassen, alle 3 Sekunden stirbt ein Kind an Hunger.

Doch der Geldadel interessiert sich nicht für die Nöte der Welt, auch wenn er den eigenen Ast absägt, auf dem er sitzt.

Auch in Europa ist es an der Zeit, die Lüge aus dem öffentlichen Leben zu verbannen und die Täter des Finanzadels und ihre politischen Handlanger öffentlich beim Namen zu nennen.

Die Beispiele Griechenland und Spanien, wo die Hälfte der Jugendlichen von Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit betroffen ist, zeigen, wohin die neoliberale Politik in Europa und weltweit führt.

Die Finanzmärkte als Spiegel der Menschheit und ihrer Werte?

Die Griechen können sich nur noch mit dem Philosophen Aristoteles trösten, der mit einfachen Worten sagte:

„Ein freier Mann ist derjenige, der die richtige Menge an Geld an die richtige Person zum richtigen Zeitpunkt und auf die richtige Art und Weise vergibt.“

Der bekannte und umstrittene britische Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson von der Harvard-Universität hat es so formuliert:

„Die Finanzmärkte sind wie ein Spiegel der Menschheit, indem sie uns jede Stunde und jeden Werktag vor Augen führen, wie wir unseren eigenen Wert und den der Ressourcen der ganzen Welt einschätzen. Es ist nicht der Fehler des Spiegels, wenn er uns unsere Makel genau so aufzeigt wie unsere schönen Seiten.“

Ich füge hinzu: Allerdings zeigt uns der Spiegel nur ein Zerrbild, solange die Finanzmärkte ungebändigt, also dereguliert bleiben.

Das Gegenbild wiederum spiegelt den dramatischen Demokratieverlust durch die unsägliche Vermischung von Wirtschaft und Politik, bis dahin, dass immer noch in Ministerien und bei der EU-Kommission Lobbyisten Gesetzestexte ausarbeiten oder Politiker unmittelbar in diejenigen Wirtschaftsunternehmen wechseln, mit denen sie vorher politisch verbandelt waren, wie vorhin dargestellt.

In Brüssel sind über 50.000 Lobbyisten akkreditiert, einschließlich aller großen 250 multinationalen Konzerne, mit freiem Zugang zur EU-Kommission.

Die meisten Probleme im Finanz- und Wirtschaftsbereich, in der Klima- und Umweltpolitik, in der Verbraucherpolitik (z. B. „Lebensmittelampel“), beim Verkehrskollaps, in der Rentenpolitik usw. sind fast ausschließlich durch lobbyhörige Politik und Zugeständnisse an Einzelinteressen zurückzuführen.

In ihren unsozialen und zerstörerischen Auswirkungen wirken solche Entscheidungswege kriminell. Deshalb gehört einer gewissen Politikerkaste das Handwerk gelegt, und die Intransparenz bei den politischen Verflechtungen gilt es schonungslos aufzudecken.

10-Punkte Programm als Handlungsrahmen zur Krisenbewältigung

Der erste und wichtigste Punkt eines ganzheitlichen Handlungsrahmens zur Krisenbewältigung, den ich abschließend als 10-Punkte-Programm und Diskussionsbeitrag skizzieren möchte, ist also:

  1. Demokratie verteidigen und Lobbyismus eindämmen: Die Wiederherstellung des Demokratieprinzips und die Rückgewinnung des Primats der Politik erkämpfen, auch durch Ahndung von Korruption und stärkere Einflussnahme der Zivilgesellschaft; Demokratisierung der EU
  2. Finanzmärkte regulieren und Banken entmachten: Konsequente Einführung wirksamer Kontrollen der Finanzmärkte, strengere und einflussreichere Bankenaufsicht, gesetzliche Beschränkung des Bankgeschäftes auf die eigentliche dienstleistende Kernfunktion für die Realwirtschaft, keine systemrelevanten Größenordnungen der Banken mehr zulassen (Zerschlagung der Großbanken), Vergesellschaftung der mit öffentlichen Mitteln geretteten Banken, Verbot spekulativer Finanzprodukte, Meldepflichte für Finanztransaktionen im außerbörslichen Handel, Trennung des Kredit- und Einlagengeschäftes vom Investmentbanking, Festschreibung von Obergrenzen bei Beleihung von Hypotheken; Verpflichtende Milliardeneinzahlungen der Banken (anstelle der Steuerzahler) in einen europäischen Rettungsfond; Einrichtung einer eigenen europäischen Rating-Agentur als unabhängige Stiftung.
  3. Steuergerechtigkeit herstellen, Reichtum umverteilen und Fiskalpakt verhindern: Deutliche und gezielte Erhöhung der steuerlichen Einnahmen für Staat und Kommunen für die öffentlichen Gemeinschaftsaufgaben und zugunsten gerechter Vermögensverteilung (Aufhebung der Vermögenskonzentration), insbesondere durch höhere und gerechte Besteuerung großer Vermögen und Einkommen, (vor allem auch leistungsloser Einkommen durch große Erbschaften, Spekulationsgewinne und Aktienverkäufe etc.).; Steueroasen schließen und Steuersünder aufspüren, Beseitigung von Steuerprivilegien, Aufhebung des undemokratischen Fiskalpakts mit Zwang zum Sozialabbau. Einführung eigener Kommunalsteuer für Städte und Gemeinden.
  4. Staaten und Kommunen entschulden und Schuldenursachen beseitigen: „Gesellschaftspakt Schuldentilgung“ mit Lastenausgleichsfond (Umfinanzierung der Altschulden) zur radikalen Entschuldung überforderter Schuldnerländer und Kommunen durch geordneten Schuldenschnitt und durch Schuldenstreichung, vorheriges Audit über staatlichen Verschuldungsursachen und –zusammenhänge; Einführung von Eurobonds als solidarische Maßnahme (Für den Finanzmarkt attraktive, niedrig verzinste Anleihen der EU-Gruppe zur Weitergabe an bedürftige Länder gegen geringe Gebühr und Anreiz zum Abbau von Neuverschuldung).
  5. Umorientierung der Sparprogramme – an richtiger Stelle sparen: Sparpotenziale bei den immensen Rüstungsausgaben ausschöpfen, bei Subventionen an die Wirtschaft und für ökologisch schädliche Produkte, bei „Rettungspaketen“ für Ansprüche privater Kapitalanleger, bei Prestige-Projekten wie Stuttgart 21 u.a.m. anstelle der Sparprogramme im Sozialbereich.
  6. Investitionen anreizen und Konjunktur beleben – Marshallplan für die Krisenländer: Staatliche und europaweite Konjunkturprogramme und Investitionsanreize sowie öffentliche Investitionen in Bildungs-, Forschungs- und Infrastrukturprojekte etc. zur Belebung der Wirtschaft in den Krisenstaaten, (in Anlehnung an Marshallplan und den deutschen Lastenausgleich sowie „Aufbau Ost“ seinerzeit in Deutschland).
  7. Geldreformen einleiten zur Währungsstabilisierung: Abschaffung des Zinseszins (als Hauptursache für die zwanghafte Geldvermehrung), Evtl. Erwägung von sog. „Expressgeld“ in Griechenland als staatliches Regionalgeld (alternativ zum Rückzug auf Drachme, zum Verbleib Griechenlands in der Eurozone mit Entspannung der Situation und Vorteile für Wirtschaftsaufschwung), Unterstützung der örtlichen Regionalgeld-Initiativen in den einzelnen Regionen Europas (zur Stärkung regionaler Wirtschaftskraft im Euro-Raum unabhängig von Währungsschwankungen), Einführung von sog. „Vollgeld“ (Ausweitung der gesetzlichen Zahlungsmittel und Geldschöpfung nur noch durch gemeinwohlverpflichteter Nationalbank statt von Eigeninteressen verfolgenden Geschäftsbanken); Unterstützung der attac-Aktion: „Banken wechseln“.
  8. Soziale Sicherheit und Kaufkraft für die Menschen schaffen - durch Grundeinkommen und Mindestlöhne: Kräftige Lohnerhöhungen, Gewährleistung tarifgerechter Löhne, Beendigung des Lohndumpings insbesondere im Exportland Deutschland (sowie schrittweise Angleichung der Löhne und staatlichen Sozialleistungen in Europa nach den jeweiligen Lebenshaltungskosten); Europaweites Verbot der Leiharbeit; Erhöhung der Sozialleistungen bei Arbeitslosigkeit und Bedürftigkeit; Soziale Grundsicherung für alle Europäer durch bedingungsloses Grundeinkommen und armutsfeste Renten;; u. v. m.
  9. Demokratisierung der Wirtschaft und eine solidarische Gemeinwohlökonomie: Striktere Abgrenzung statt Vermischung zwischen Politik und Wirtschaft; Einrichtung eigener Wirtschaftsräte als demokratische Beratungs- und Mitgestaltungsorgane (Wirtschaftsdemokratie) ; Stärkung der Mitbestimmung in allen Unternehmen; Stärkung der gewerkschaftlichen Einflussmöglichkeiten; Ablösung des Bruttoinlandproduktes als wirtschaftlichen Erfolgsmaßstab durch Wohlstandsindikatoren; Stärkung des Non-Profit-Sektors, Stärkere Kontrolle von Qualitäts- und Sozialstandards in Produktions- und Dienstleistungsbetreiben mit Transparenz der Prozesse, Bildung von Assoziationen zwischen Produzenten, Händlern und Verbrauchern, Stärkung der Verbraucherschutzes und der Verbraucherrechte sowie der Verbraucherberatung; Verschärfte Haftungsregelungen für Produzenten und Dienstleister.
  10. Aufklärung über Wirtschaftszusammenhänge als notwendiges Bildungs- und Weiterbildungsprogramm: Verpflichtende Einführung von Rechts- und Wirtschaftskunde in allen Schulformen und Studiengängen, gezielte Ausweitung der Weiterbildungsprogramme über volks- und gesamtwirtschaftliche (nicht nur betriebswirtschaftliche) Zusammenhänge zur Erlangung von Wirtschaftkompetenz und Beurteilungsfähigkeit. Kurzum: Behebung des ökonomischen Analphabetentums und Einstieg in die Gemeinwohlökonomie, indem wir das Wirtschaftssystem von Grund auf neu denken lernen.

Ich schließe mit einer nicht immer so bewussten Binsenweisheit:

Nirgendwo sonst sind die Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten so sehr lebensnotwenig aufeinander angewiesen und voneinander abhängig wie im globalen Wirtschaftsleben: Einer für alle, alle für einen. In der arbeitsteiligen Gesellschaft wäre der Einzelne heutzutage gar nicht mehr lebensfähig ohne Solidarität. In der französischen Revolution hieß das Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, Gleichheit im Rechtsleben und Freiheit im Geistesleben.

Das muss über allem stehen – sonst ist Griechenland bald überall.
Doch Griechenland sei Dank – denn die Krise ist eine große Chance zum Umdenken.
In diesem Sinne wünsche ich uns eine anregende Diskussion.