Die zivilgesellschaftlichen Vorbereitungen für den bevorstehenden „Europäischen Aktionstag“ am 19. März 2005 in Brüssel und in den einzelnen EU-Staaten, wie im Oktober 2004 auf dem Europäischen Sozialforum in London von der „Versammlung der sozialen Bewegungen“ beschlossen, sind in vollem Gange. Im Mittelpunkt der geplanten Aktionen steht der europaweite Sozialabbau, für den die EU den Bezugsrahmen darstellt, sowie die umstrittene EU-Dienstleistungsrichtlinie zur Handelsliberalisierung und vor allem die nachbesserungsbedürftige EU-Verfassung, deren kritisierten Mängel die Defizite in der geistigen Verfassung Europas zutage treten lassen. Da diese bei den alles überlagernden ökonomischen und staatspolitischen Themen in dem sich formierenden Europäischen Einheitsstaat kaum im Blick sind, will die Zivilgesellschaft am 19. März die Aufmerksamkeit vor allem darauf lenken.
In der Strategie von Lissabon wurde im Milleniumsjahr 2000 das Ziel formuliert, die EU mit dem europäischen Binnenmarkt bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum“ auf dem Weltmarkt zu machen. Dazu dient auch der heftig umstrittene Entwurf der EU-Dienstleistungsrichtlinie - nach deren zuständigem EU-Kommissar und Verfasser auch „Bolkestein-Direktive“ benannt - die in Europa noch weitreichender wirken wird als das weltweite GATS-Abkommen über den internationalen Handel mit Dienstleistungen (siehe Goetheanum Nr. ...).
Nach dieser Gesetzesvorlage sollen die Anbieter von Dienstleistungen fast aller Branchen im Wesentlichen nur den gesetzlichen Vorschriften ihrer Herkunftsländer unterworfen sein. Damit wird nicht nur die Abwärtsspirale bei den sozialen Standards einschließlich der Tarif- und Lohnstandards weiter vorangetrieben, sondern auch der „wettbewerbshemmende“ Umweltschutz, Verbraucherschutz und Arbeitsschutz nach jeweiligem nationalen Recht sollen durch diese Direktive regelrecht ausgehebelt werden, so befürchten die Kritiker.
Der deutsche Bundespräsident Gerhard Schröder hat deshalb die Auseinandersetzung um die von Wirtschaftsminister Clement uneingeschränkt befürwortete EU-Dienstleistungsrichtlinie zur „Chefsache“ erklärt, weil er Lohndumping in Deutschland befürchtet und damit eine Verschärfung der Massenarbeitslosigkleit durch billige Arbeitskräfte aus Süd- und Osteuropa. Seit der EU-Osterweiterung im Mai vergangenen Jahres haben bereits allein 26.000 Beschäftigte in der deutschen Fleischindustrie ihre Arbeitsplätze an preiswertere Konkurrenz aus Osteuropa verloren. Innerhalb weniger Monate sei ein Milliarden-Markt mit mafiösen Strukturen, Lohndumping und moderner Sklaverei entstanden, sagten Vertreter der Gewerkschaft Nahrung, Genuss und Gaststätten.
Der Wettkampf um die niedrigsten Löhne, die schwächsten Umwelt- und Sozialstandards und den wirkungslosesten Verbraucherschutz als Gemeinschaftsprinzip?
Bundesregierung und Gewerkschaften sowie Wirtschaftsverbände befürchten gemeinsam ähnliche Effekte in anderen deutschen Wirtschaftszweigen wie Handwerk und Gesundheitswesen. Durch das sogenannte „Herkunftslandprinzip“ würde die EU-Dienstleistungsrichtlinie von Bolkestein es ermöglichen, dass deutsche Firmen sich als Briefkastenfirmen auch im europäischen Ausland niederlassen, um dann nach den niedrigsten Gesetzesstandards und Tarif- und Umweltstandards anderer Länder ungehindert im Inland die nationalen Gesetze und Rechtsverordnungen auszuhebeln. Künftig würden dann nicht die Arbeitsplätze ins billigere Ausland abwandern, sondern die billigeren Arbeitskräfte im Inland zu andersartigen und inakzeptablen Bedingungen arbeiten. Darum hat Bundeskanzler Schröder mit EU-Kommissionspräsident Barroso über umfangreiche Ausnahmeregelungen für Deutschland verhandelt.
Kann es aber Sinn des europäischen Zusammenschlusses sein, gegenseitig um Vor- und Nachteile für das jeweils eigene Land bestrebt zu sein, anstatt wirtschaftlich und sozial zu kooperieren und auszugleichen? Ist Konkurrenzkampf und Marktfundamentalismus im europäischen Binnenmarkt geeignet, eine soziale und wirtschaftliche Gemeinschaft voran zubringen? Ist das im Interesse der Menschen in Europa und welche Geisteshaltung liegt dem zugrunde? Auf welchem Weg begibt sich Europa in die gemeinsame Zukunft?
Diese Themen und Fragen will die Zivilgesellschaft deshalb in den Mittelpunkt des Europäischen Aktionstages am 19. März stellen, zusammen mit den Kritikpunkten an der EU-Verfassung. Darin werde nach mehrheitlicher Auffassung auch die seit über 10 Jahren forcierte Militarisierung der EU festgeschrieben, indem die Länder per Verfassung auf Mindestmilitärausgaben und deren Steigerungen festgelegt werden sollen. Durch die Eskalation im Irak würden sich solche Strategen gestärkt fühlen, die Europa als militärisches Gegengewicht zu den USA positionieren wollen. „Der wirtschaftliche Riese soll einen starken militärischen Arm bekommen“, heißt es in einem Flugblatt der Kritiker. Vor diesem Hintergrund sei auch der strittige Vorstoß des deutschen Bundeskanzlers zur Reform des Transatlantischen Miltärbündnisses anläßlich der jüngsten NATO-Konferenz zu sehen.
Solidarische und rechtliche Grundlagen für eine andere Politik - wo bleibt der europäische Beitrag zur Erfüllung der UN-Resolutionen zur Armutsbekämpfung?
Die Menschen in Europa, so hoffen die Aktivisten der zivilgesellschaftlichen Bewegung als Organisatoren des Europäischen Aktionstages, sollen „aufstehen gegen die Fortführung der neoliberalen Politik auf europäischer Ebene und in der Welt, um die Grundlagen für eine andere Politik zu schaffen - für ein Europa der Rechte und der Solidarität unter den Völkern in internationaler Vernetzung.“ Stattdessen leisten Länder Europas wie z. B. Belgien zweifelhafte Beiträge zum Frieden etwa in Afrika: Belgische Firmen mit Interessen im Kongo haben die Lizenz zum Bau einer Munitionsfabrik im Nachbarland Tansania, unweit von der Kriegsregion Burundi, erworben. Eine weitere Munitionsfabrik besitzen die Belgier bereits in Kenia. Trotz Protesten von Amnesty international und Pax Christi erfolgt von dort aus die Verbreitung von Kleinwaffen in Afrika, wie kürzlich bekannt wurde. Anlaß für eine Neubesinnung der europäischen Auslands- und Weltpolitik?
Nachdem am Jahresbeginn 2005 wieder im brasiliansichen Porto Allegre zum vierten Mal das „Weltsozialforum“ der Zivilgesellschaft stattfand (siehe Goetheanum Nr. ...) - als Gegenveranstaltung zu dem seit 24 Jahren veranstalteten „Weltwirtschaftsforum“ der politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Elite in Davos - wird bei kritischer Nachbetrachtung beiden zentralen Großveranstaltungen vorgehalten, mittlerweile an die Grenzen ihrer Sinnhaftigkeit gestoßen zu sein. Einzig erwähnenswert sei in diesem Jahr, dass mit Chirac und Schröder erstmals zwei Regierungschefs des reichen Nordens die Frage nach internationalen Steuern (Tobin-Steuer als Abgabe auf Spekulationsgewinne an den internationalen Finanzmärkten) zur Finanzierung dringender globaler Aufgaben zugunsten ärmerer Länder unterstützten, wie seit Jahren durch Globalisierungskritiker von Attac gefordert. Doch bislang konnten sich die beiden Staatschefs nicht einmal gegen die Bedenken und Widerstände der eigenen Wirtschafts- und Finanzminister und der Banken durchsetzen.
Die selbst eingegangene Verpflichtung zur Armutsbekämpfung und Entwicklungshilfe werden nur von vier EU-Ländern erfüllt. Dies stellten die EU-Wirtschaftsminister bei ihrem informellen Treffen in Luxemburg über den europäischen Beitrag zu den von den Vereinten Nationen - durch Bereitstellung von 0,7% ihres jeweiligen Bruttosozialprodukte - festgelegten Jahrtausend-Zielen fest. Die Ziele sollten eigentlich bis 2015 erreicht werden. Tatsächlich aber läßt die Hilfe der EU-Mitgliedsstaaten nach einem in Brüssel veröffentlichten ernüchternden Bericht der Nichtregierungsorganisationen zu wünschen übrig, so dass sie die Ziele kaum erreichen können.
Deutschland als die stärkste und reichste Wirtschaftsnation Europas liegt mit gerade einmal 0,28% ihres Bruttosozialproduktes für Entwicklungshilfe an sechstletzter Stelle in der EU. Auch die Bilanz beim Schuldenerlass für die Entwicklungsländer sieht betrüblich aus: Bisher hat Deutschland statt 42 nur 6 afrikanischen Ländern die bilateralen Schulden erlassen. Stattdessen setzen die europäischen Staaten als ehemalige Kolonialmächte ihren politischen Schwerpunkt in der Liberalisierung der Handelspolitik und erklären mit der EU-Dienstleistungsrichtlinie auch die zwischenmenschlichen Dienstleistungen zu einer bloßen Handelsware.
Orientierung an Rendite statt am Menschen: Freihandel als Unterbietungswettbewerb läßt die soziale Verantwortung der Wirtschaft zum Lippenbekenntnis verkommen
Der Freihandel ist jedoch nicht die beste Rezeptur gegen das Elend in den Entwicklungsländern, denn die Menschen in den armen Staaten brauchen keine Almosen, sondern eine gerechte und gesunde Ordnung der Weltwirtschaft - im Geiste der sozialen Dreigliederung. Was trägt Europa aus geistiger Sicht dazu bei? Gäbe es nicht die zivilgesellschatlichen Initiativen, würde von offizieller staatlicher und wirtschaftlicher Seite reichlich wenig dazu beigetragen. Insbesondere die deutsche Wirtschaft betätigt sich stattdessen als „Exportweltmeister“ und damit als Beschleuniger des Unterbietungswettbewerbes, bei dem nicht mehr der Mensch, sondern fast nur noch die Rendite zählt.
Die soziale Verantwortung ist oftmals nur noch ein Lippenbekenntnis auf den Konferenzen in Davos und Brüssel, denn auch die sozialen und ökologischen Faktoren werden in dieser Denkweise zunehmend ökonomisiert. Es geht vorrangig um Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung in Form von Kommerzialisierung, gemäß dem neoliberalen Credo des Washington-Konsenses von 1989, der die Marktlibneralisierung mit dem Standortkonkurrenzkampf zum Patentrezept erkoren hat.
Die „Hilfe“ für Entwicklungsländer reduziert sich auf Marktöffnung und Wirtschaftswachstum, weil Entwicklung und Freihandel gleichgesetzt werden und die Rolle des Staates darauf beschränkt wird, Freihandelsbedingungen zu verbessern - als das angeblich beste Rezept gegen das Elend in der Welt, trotz vielfach gegenteiliger Wirkungen. Gerade hat der Wettbewerb wieder einmal den neoliberalen Marktmythos bestätigt, das die Liberalisierung des Agrarhandels der Schlüssel zur Armutsbekämpfung sei, obwohl dadurch lediglich die reichen Länder und großen Lebensmittelkonzerne immer reicher werden. Fairer Handel bekommt keinen Vorrang vor freiem Handel, auch wenn dadurch die Menschenrechte der UN-Konvention für die Menschen in den Verlierer-Ländern unter die Räder geraten.
Die Beeinflussung der EU-Verfassung von einseitigen Wirtschaftsinteressen und neoliberalem Denken statt durch den europäischen Geist der Zivilgesellschaft - sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Fortschritt oder Rückschritt?
Da die Ernährung der Armen durch den Agrarhandel weder sicherer noch reichhaltige geworden ist, stellt sich die Frage, welchen Zwecken dient die Liberalisierung ohne Kurskorrektur am Welthandels- und Finanzsystem? Die Sicherung von Rahmenbedingungen für den fragwürdigen Freihandelsbegriff, zu dem auch der Dienstleistungshandel gehört, ist kein Thema. An einer gerechten, brüderlichen Verteilung des global geschaffenen Reichtums ist die EU nicht wirklich interessiert - im Gegenteil: Die EU-Verfassung ist in weiten Teilen von dem neoliberalen Gedankengut und damit gerade nicht von europäischem Geist und Rechtsverständnis geprägt, wie von der Zivilgesellschaft eingefordert.
Um so spannender sind die bevorstehenden Volksabstimmungen über die Europäische Verfassung in zehn Mitgliedssaaten, bevor der Verfassungsvertrag im November 2006 in Kraft treten wird. Während Litauen, Ungarn und Slowenien ihn bereits durch parlamentarische Abstimmung ratifiziert haben, hat Spanien gerade die Volksabstimmung bei niedriger Wahlbeteiligung hinter sich gebracht. In Polen und Tschechien ist wohl ebenfalls mit einer mehrheitlichen Zustimmung zu rechnen. Ob die europakritischen Briten nächstes Jahr ihre Zustimmung verweigern und ob die zur Abstimmung aufgerufenen Franzosen zustimmen, darauf blickt nun ganz Europa. Droht andernfalls der Zerfall der europäischen Staaten- und Wirtschaftsgemeinschaft und damit der EU, oder bleibt das Scherbengericht allein deshalb aus, weil die einzelnen Staaten staats- und völkerrechtlich kein Austrittsrecht haben?
In Frankreich braut sich vielleicht eine knappe Volksmehrheit gegen die Verfassung zusammen, so befürchten Beobachter, woraufhin Präsident Chirac eine zeitliche Abkürzung der Diskussionen erwägt. Die Stimmungen in mehreren Völkern drohen umzukippen, teils wegen der nationalen und egoistischen Sichtweisen, teils auch wegen der negativen sozialen Folgen der Konkurrenzwirtschaft innerhalb des Binnenmarktes und der daran orientierten EU-Politik, die von den Menschen vielfach als sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Rückschritt statt als Fortschritt erlebt und empfunden wird . In Deutschland hat man gar nicht erst die Volkssouveränität bei einer Verfassungsgebung zugestanden.
Wäre jedoch eine Vielstimmigkeit statt Einstimmigkeit im europäischen Einheitssaat tatsächlich das Ende Europas? Oder würde nicht der von einseitiger Wirtschaftsdominanz und Binnenmarktorientierung geprägte Staatenbund endlich zu einer bisher vernachlässigten und nachzuholenden Diskussion mit der Zivilgesellschaft gelangen, wie es denn eigentlich um die geistige Verfassung dieses vereinten Europa bestellt ist? Wie ist eigentlich das gemeinsame Leitbild über die Rolle und Aufgabe Europas in der Welt, jenseits wirtschaftlicher und machtpolitischer oder militärischer Interessen? Da gibt es auch in der Verfassung einiges zu verbessern und nachzuarbeiten, wenn sich die Menschen in Europa aus ihrem Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden und vor ihren kulturellen Hintergründen und Bedürfnissen mit der EU identifizieren sollen. Deshalb wird die eigentliche Diskussion um die EU-Verfassung nicht bis 2006 abgeschlossen ein, sondern dann erst richtig beginnen.