Wilhelm Neurohr

Ein Neuanfang für Europa?

Mit Bestürzung und Ratlosigkeit haben die politischen Eliten in ganz Europa die ablehnende Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger Irlands zum Lissabonner EU-Reformvertrag aufgenommen. Von einem „schwarzen Freitag für Europa“ war die Rede – obwohl sich dieser Freitag, der 13. Juni 2008 als ein Glückstag für Europa und die Demokratie herausstellen könnte – wenn sich nun endlich das „Europa der Staaten“ in ein demokratisches „Europa der Bürger“ verwandelt. Dazu muss gemeinsam über die fehlenden Visionen und Ziele Europas, das nicht mit der von Lobbyisten gesteuerten EU gleichzusetzen ist, gestritten werden.

Nachdem bereits der umstrittene EU-Verfassungsvertrag in 2005 am Votum der Bürger in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war, wurde den Menschen in Europa eine breit angelegte inhaltliche Diskussion und Beteiligung an den Verfassungsfragen versprochen: Eine gemeinsame „Besinnungs- und Denkpause“ war seinerzeit angekündigt worden – doch nichts von alledem geschah. Im Gegenteil: Ohne jede Bürgerbeteiligung etikettierte stattdessen eine Regierungskonferenz unter deutscher Ratspräsidentschaft hinter verschlossenen Türen den abgelehnten Verfassungsvertrag als „Lissabonner Reformvertrag“ mit nahezu gleichem Inhalt um – eine „europäische Verfassungslüge“, die von den Iren entlarvt wurde. Dafür stellt man sie nun fälschlich als „undankbare und unaufgeklärte Europa-Gegner“ ins Abseits.

Demokratische Defizite und mangelndes Demokratieverständnis

Das ablehnende Votum der Iren wurde von Oppositionspolitikern als „schallende Ohrfeige für die ewige Regierungshinterzimmerpolitik“ erkannt. Brüssel und die Regierungschefs hatten in der Tat kein Interesse daran, dass der eigentliche problematische Inhalt der von Lobby-Interessen geprägten EU-Verträge allzu öffentlich wurde. Die offiziellen Verlautbarungen beschränkten sich inhaltlich nur auf Teilaspekte wie die neuen Abstimmungsmodalitäten zwischen den Staaten, mit der Behauptung, Europa würde künftig angeblich demokratischer – ein geschicktes Ablenkungsmanöver von den schwerwiegenderen übrigen Inhalten des Verfassungs- oder Reformvertrages, gegen die sich die „No-Bewegung“ in Irland gewehrt hat, stellvertretend für die 500 Millionen EU-Bürger, die nicht gefragt und beteiligt wurden:

Die neoliberale Wirtschaftsideologie erhält darin quasi bindenden Verfassungsrang, die Marktfreiheit der Unternehmen erhält Vorrang vor den sozialen Rechten der Menschen; die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen wird erzwungen. Die stetige Aufrüstung aller Mitgliedsstaaten wird verpflichtend und durch eine Rüstungsagentur (EDA) kontrolliert, weltweite Militäreinsätze auch für wirtschaftliche Rohstoffinteressen sind künftig ohne jede Parlamentsbeteiligung zulässig; in Kriegszeiten wird die Todesstrafe und bei „Aufruhr“ in der Bevölkerung werden Todesschüsse für zulässig erklärt; im Schlussprotokoll verpflichten sich die EU-Staaten zudem zum Ausbau der Atomenergie.

Das Europa-Parlament erhält zwar mehr Anhörungsrechte als zuvor nach dem Nizza-Vertrag, aber nicht die Kernkompetenz demokratischer Parlamente für eigene Gesetzesinitiativen und für die parlamentarische Kontrolle der Exekutive, also fehlende demokratische Gewaltenteilung. Die Nationalparlamente erhalten zwar ein Veto-Recht, verlieren aber wichtige politische Kompetenzen an Brüssel, also das Gegenteil des Subsidiaritätsprinzips mit Verlagerung der Entscheidungen nach oben statt nach unten. Teile der nationalen Verfassungen und der Menschenrechtskonvention werden unterlaufen. Der ehemalige Bundespräsident und Verfassungsrichter Roman Herzog, Konventsvorsitzender für die EU-Grundrechtscharta, bezweifelte öffentlich, ob Deutschland daraufhin noch als parlamentarische Demokratie bezeichnet werden kann.[1]

An breiter Bürgerbeteiligung führt kein Weg vorbei

Die Ratifizierung dieser inhaltsgleichen Ersatzverfassung durch die 27 Nationalparlamente - 18 Länderparlamente haben bereits ohne inhaltliche Diskussion zugestimmt - wurde in Brüssel nur noch als „reine Formsache“ angesehen. Deshalb lag den meisten Parlamenten der 400-seitige Vertragstext gar nicht erst vor. Auch der deutsche Bundestag stimmte blindlings zu. In der Fernseh-Sendung „Panorama“ wurden vor der Abstimmung Spitzenpolitiker aller Parteien zu den wichtigsten Vertragsinhalten befragt – nicht einer konnte vor laufenden Kameras eine zutreffende Antwort geben. Viele Bürger sind informierter als ihre Volksvertreter. Allein in Irland musste per Verfassung ein Referendum für die Bevölkerung durchgeführt werden, nachdem die Iren bereits den früheren EU-Nizza-Vertrag im Volksentscheid abgelehnt hatten. In England wurde die versprochene Volksabstimmung verweigert und in Frankreich sogar die dortige Verfassung geändert, um ein erst zugesagtes Referendum zu unterbinden.

Anstatt nun in Brüssel zu taktieren, wie trotz der demokratischen Ablehnung durch die Iren das strittige Vertragswerk für die EU unverändert an den Bürgern vorbei durchgeboxt werden kann, etwa über ein reduziertes „Kerneuropa“, durch Irlands Austritt oder durch Ausnahmeregelungen oder wie auch immer, ist jetzt ein Neuanfang für Europa überfällig: ein neuer Verfassungskonvent unter Bürgerbeteiligung und ohne Lobbyisten, eine begleitende Leitbilddiskussion über den Weg und Ziel Europas in eine nachhaltige Zukunft, und anschließend ein europaweites zeitgleiches Referendum über eine neue demokratische Verfassung. So können sich die Bürger mit Europa identifizieren, denn es ist zu wichtig, es allein den Staatschefs und Lobbyisten zu überlassen. [2]


[1] Vertiefende Informationen sind nachzulesen in meinem aktuellen Buch „Ist Europa noch zu retten? Wie die EU den Europa-Gedanken verfälscht. Wege zu einer europäischen Identität“, Pforte-Verlag 2008.

[2] Siehe www. mehr-demokratie.de