EU-Dienstleistungsrichtlinie übertrifft Hartz IV
Wenn am 11. Februar Arbeits- und Wirtschaftsminister Clement zum „Vestischen Empfang“ (und wohl auch zu Wahlkampfzwecken) ins Kreishaus nach Recklinghausen kommt, dann dürfte es derzeit eigentlich nur ein einziges aktuelles Thema geben: Die heftig umstrittene EU-Dienstleistungsrichtlinie, die von ihm als „Wachstumschance“ befürwortet, aber von allen anderen abgelehnt wird: Von den Gewerkschaften über die kommunalen Spitzenverbänden und den Zentralverband des deutschen Handwerks bis hin zu den Verbraucherorganisationen und allen Sachverständigen, die im Bundestag dazu angehört wurden – mit Ausnahme des Bundesverbandes der Arbeitgeber. Warum?
Diese folgenschwerste und skandalöseste Gesetzesinitiative in der Geschichte der Europäischen Union wird die Emscher-Lippe Region besonders hart treffen und die regionale Struktur- und Wirtschaftsförderung in Zukunft entbehrlich machen: Das EU-Gesetzesvorhaben setzt sich völlig über nationales Recht hinweg und wird dank einer einflussreichen Lobby dafür sorgen, dass wir unser Land und unsere hiesige Arbeitsmarktregion bald nicht mehr wiedererkennen, geschweige die wenigen Reste unseres Sozialstaates. Die regionale Strukturpolitik könnte „eingestampft“ werden.
Im Zuge der Wettbewerbs-Ideologie des Europäischen Binnenmarktes sollen nach den Regelungen des „Herkunftslandprinzips“ für ausländische Dienstleistungsunternehmen, die in Deutschland tätig sind und Aufträge abwickeln, die inländischen Standards faktisch nicht mehr gelten: Ob Sozial- oder Tarifstandards, ob Umwelt- und Gesundheitsstandards, ob Verbraucherschutz oder die Sicherung der Arbeitsplätze heimischer Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe – alles das bleibt auf der Strecke, ebenso die öffentlichen Dienstleitungen: ob Verkehr, Theater, Museen, Friedhof, Krankenhäuser und Pflegedienste – vielleicht auch staatlich finanzierte Schulen.
Befürchtet wird ein Wettbewerb um die niedrigsten Löhne, die laschesten Umweltgesetze, den schwächsten Verbraucherschutz und das dünnste soziale Netz sowie eine Vermehrung von Briefkastenfirmen in Ländern mit den geringsten Standards – eine Harmonisierung der 25 EU-Länder auf niedrigstem Niveau und entgegen den Zielen der neuen EU-Verfassung. Die regionale Struktur- und Wirtschaftsförderung im Emscher-Lippe Raum sowie die Mittelstandspolitik würde ins Leere laufen, weil die heimischen Betriebe stets auf der Strecke blieben.
Erstaunlich ist nur, dass zu diesem brisanten Thema die heimische EU-Abgeordnete Jutta Haug nach ihrer Wiederwahl öffentlich auf „Tauchstation“ gegangen ist, nachdem sie vor der EU-Wahl noch täglich in der Presse präsent war. Hat die Interessenvertreterin der Bevölkerung und der Arbeitnehmer und mittelständischen Handwerksbetriebe in dieser Region eigentlich noch das Wohl der Menschen in dieser Region vor Augen und wie wird sie im Straßburger Parlament abstimmen? Soll das Ganze unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgezogen werden? Warum keine Informationen und Einwohnerversammlungen in diesem Wahlkreis und warum keine Resolutionen und Konferenzen mit Kommunalpolitikern der Region, um das von Clement befürwortete neoliberale Projekt vom Kopf auf die Füße zu stellen?
Die Arbeitnehmer und Gewerkschaften in dieser Region sind jedenfalls über den Entwurf der EU-Dienstleistungsrichtlinie in großer Sorge, ebenso die Dienstleistungs- und Handwerksbetriebe. Die EU-Richtlinie hat noch weitreichendere Folgen als Hartz IV für die Lebensumstände der Menschen! Kein Thema für unsere Kommunal- und Regionalpolitiker?
Wilhelm Neurohr, Recklinghausen, Personalratsvorsitzender und Sprecher des Arbeitskreises der Personalräte (ver.di)