Beflügelt durch den „arabischen Frühling“ in 16 Ländern regt sich auch eine europäische Demokratiebewegung von unten, beginnend in Südeuropa mit der spanischen und griechischen Protestwelle und dem italienischen Referendum. Die derzeit besonders rührige spanische Jugend erfährt Solidaritätsaktionen in den meisten EU-Ländern sowie in den USA und in Südamerika; sie organisiert bereits einen weltweiten Protesttag am 15. Oktober 2011. Zuvor gab es in Westeuropa bereits Unruhen, in England und Frankreich Großdemonstrationen gegen den Sozialabbau und das Diktat der Finanzmärkte, in Mitteleuropa die inzwischen abgeklungenen deutschen Montagsdemonstrationen, die wieder auflebenden Bürgerprotesten gegen Stuttgart 21 und die erfolgreiche Anti-Atombewegung.
Den Anfang machten schon vor ein bis zwei Jahrzehnten die Basisbewegungen in 8 Ländern Lateinamerikas, die einen politischen Umbruch erwirkten. Es folgten 1989 die Bürgerrechtler in der DDR mit der erfolgreichen Wende, später die oppositionellen „Jasmin“-Proteste in China und Aktionen der Menschenrechtsaktivisten in Russland unter schwierigsten Bedingungen. Globale Vernetzungen und Aktionen erleben wir seit 10 Jahren über die globalisierungskritischen Weltsozialforen der sozialen Bewegung mit Großveranstaltungen in Porto Alegre (Brasilien), in Mumbai (Indien), in Nairobi (Kenia), in Belém (Amazonasgebiet) sowie 2011 in Dakar (Senegal). Eine globale Revolution des Bewusstseins lässt die mündigen und solidarischen Menschen in ihrer Würde erwachen. Die akute Finanzkrise erfordert jetzt solidarisches und konsequentes Handeln an vielen Orten – aber auch zukunftstaugliche Alternativkonzepte.
Die neue Demokratiebewegung hat das Potenzial, um Demokratie, Freiheit und Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen
Die weltweit um sich greifende zivilgesellschaftliche Auflehnung richtet sich gegen die „Diktatur der Ökonomie“ und der unkontrollierten Finanzmärkte. Sie richtet sich zugleich gegen die überkommenen und korrupten Parteien, die sich mehr den Eigeninteressen und Wirtschaftsinteressen als den Interessen der Menschen verpflichtet fühlen, welche sich ihrer Rechte und Würde beraubt sehen. Diese erleben sich derzeit mehrheitlich immer mehr als soziale Verlierer ohne Zukunftsperspektiven, während einige wenige zu Lasten der Gemeinschaft und zum Schaden von Menschheit und Erde zunehmend in Reichtum und Überfluss schwelgen und gemeinschaftsschädigend ihre eroberten Besitzstände und Einflussbereiche zäh verteidigen. Doch nur teilen macht alle reich. Und nur die demokratische Teilhabe an den Entscheidungen und Entwicklungen gewährleistet soziale Gerechtigkeit, Wohlstand für alle und Frieden. Der soziale Frieden ist hingegen empfindlich gestört und bedroht, weil sich die demokratisch gewählten Repräsentanten von ihrem Volk entfernen und sich ihrer eigentlichen Verantwortung für diese Zustände entledigen.
Die sich deshalb ausbreitende globale Jugendrevolte aus der Zivilgesellschaft verhilft unaufhaltsam der Demokratie und Freiheit zum Durchbruch. Die Menschenrechte und eine soziale Zukunft lassen sich nicht länger vorenthalten. Die demokratische Aufbruchstimmung im 21. Jahrhundert ist ansteckend: Eine globale Revolution des Bewusstseins beginnt – und wir sind mittendrin. Es geht um die soziale Zukunft der gespaltenen Menschheit und ihre Überlebenschancen auf diesem Planeten. Den herrschenden politischen Parteien, Repräsentanten und Institutionen wird eine solche Wende nicht zugetraut; sie stehen für den Niedergang und das überholte System und alte Denken, die aus abgelaufenen Jahrhunderten hinübergerettet wurden. Ein wirkliches Umdenken findet bei den abhängigen Machteliten kaum statt oder es folgen nicht die sichtbaren Konsequenzen daraus. Die Zivilgesellschaft wird stattdessen zum Selbstgestalter ihres kollektiven Schicksals, das sie nun selber in die Hand nimmt.
Das Sozial- und Wirtschaftssystem und das Geldwesen rufen nach einer völligen Neugestaltung
Die neue globale und europäische Demokratiebewegung von unten hat das Potenzial, die Macht der Finanzmärkte und ihrer politischen Lobbyisten zu brechen. Sie kann die Abwälzung der Kosten der ökonomischen Krise nach unten verhindern, zumal wohl spätestens 2012 der nächste große Finanzcrash droht. Die soziale Umverteilung von unten nach oben hat keine Akzeptanz, keine Legitimation und keine Zukunft mehr. Das Geldwesen, das sich von der realen Wirtschaft abgelöst hat, und das davon beeinflusste Sozial- und Wirtschaftssystem rufen nach völliger Neugestaltung: Nachhaltiges und kooperatives statt kurzsichtiges und konkurrenzorientiertes Wirtschaften ist angesagt, mit fairem Handel und ökologischer Ausrichtung. Die sozial gerechte Teilhabe aller Menschen am wirtschaftlichen Reichtum und an der Ressourcenverteilung ist die vorrangigste Gegenwartsaufgabe, damit nicht weiterhin ganze Generationen und Regionen ihrer Lebens- und Zukunftschancen beraubt werden.
Die Zeit ist längst überreif für eine ökonomische und ökologische Revolution zur Umgestaltung der sozialen Verhältnisse und zur Rettung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, beginnend mit einer radikalen Demokratisierung in Politik und Wirtschaft, mit dem beschleunigten Atomausstieg und einem ernsthaften Ressourcen- und Klimaschutz, mit gesunder Ernährung und menschenwürdigen Lebensbedingungen für die gesamte Weltbevölkerung sowie nachhaltigen Lebensbedingungen auch für nachfolgende Generationen. Das ist der Mehrheitswille der Erdbevölkerung, die erkannt hat, dass die Diktatur der Ökonomie die sozialen Werte und Demokratie aushebelt, die ohnehin erst in den Kinderschuhen steckt.
Demokratie, Freiheit und Solidarität jetzt – das ist der unüberhörbare Ruf der Straße und der Plätze in vielen Ländern der Welt. Das wirkt auch ansteckend und beflügelnd auf die Jugend Europas. Denn die heute aktive zivilgesellschaftliche Bewegung von unten bewegt schon jetzt mehr als seinerzeit die (nicht vergleichbare) 68-er Bewegung der „außerparlamentarischen Opposition“ in anderem historischen und soziologischen Kontext. Und die heutigen Verhältnisse rufen nach solidartischer Aktion der Betroffenen: Denn die Verletzung der Menschenrechte und der Menschenwürde ist durchaus auch Alltag im neoliberal ausgerichteten Europa, also nicht nur in ihrer gröbsten Ausprägung in den so genannten „Schurkenstaaten“. Der „arabische Frühling“ ist längst nach Europa hereingeweht. Es herrscht weltweit so etwas wie eine politische und demokratische Aufbruchstimmung und Neubesinnung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ja, es beginnt das demokratische Jahrhundert der mündigen Zivilgesellschaft, die Revolte der vielen mündigen Individuen, die sich zur rechten Zeit mit anderen zusammentun, und wir sind nicht nur mitten drin – sondern als mündige Individuen hoffentlich auch gestaltend dabei.
Demokratie von unten als ein Aufbruch der Vielen - Von der repräsentativen zur partizipativen Demokratie
Autoritäre politische Regime und korrupte Parteienherrschaft haben im 21. Jahrhundert ebenso ausgedient wie die angeblich „repräsentative“ parlamentarische Demokratie aus den abgelaufenen Jahrhunderten, in der lauter Nichtbetroffene über Betroffene entscheiden. Die echte partizipative Demokratie steht erst ganz am Anfang, denn soziale und politische Teilhabe sind auch in Europa noch nicht eingelöste Versprechen. Die EU selber mit ihrer Verfilzung von Politik und Wirtschaft bringt den 500 Mio. Europäern nicht ein mehr an Demokratie und Sozialität, sondern weniger. Damit gehrt der Enthusiasmus für Europa verloren, dessen Politiker sich mehr den Finanzmärkten statt den sozial verlierenden Bürgern verpflichtet fühlen.
Wie wenig unsere gewählten Parlamente der Vermögenden und Versorgten „repräsentativ“ zusammengesetzt sind, wissen wir auch seit jeher aus Deutschland, wo ganze benachteiligte Bevölkerungsgruppen und Altersgruppen in den Parlamenten gar nicht vorkommen, so dass stets lauter Nichtbetroffen über Betroffene entscheiden. Laut aktuellen Umfragen ist das Vertrauen der Deutschen in den Berufsstand der Politiker dramatisch gesunken: 91% vertrauen Politikern nicht. Vom Lobbyismus, von den Parteispenden und den Nebeneinkünften der meisten abhängigen Parlamentarier erst gar nicht zu reden. Allein die Parteien in Deutschland erhielten 148 Mio. € an Spenden, von denen 80% unveröffentlicht bleiben. Sechsstellige Summen erhielten sie vor allem von Großkonzernen der Chemie- und Energiebranche, von Großbanken oder von Hotelketten sowie von Milliardären.
Nach einer aktuellen Studie von Nichtregierungsorganisationen beziehen mehr als 40% der Mitglieder des Europäischen Parlamentes Nebeneinkünfte – ein Potenzial für Interessenskonflikte. Die Menschen in ganz Europa - nicht nur in Spanien, Griechenland, Italien, England, Frankreich und Deutschland - wollen eine andere Politik, da fast alle Parteien von links bis rechts die annähernd gleiche Ausrichtung und Abhängigkeit vorweisen. Im Hintergrund stehen immer dieselben Großunternehmer und Spekulanten, so lautet der nicht unberechtigte Vorwurf.
In ganz Europa zeigen die dramatisch zurückgehende Wahlbeteiligung, die zunehmende Parteiverdrossenheit, die negativen Umfragewerte für das Ansehen des Politiker-„Berufes“ sowie die tiefe Krise der parlamentarischen Demokratie, dass sich die Menschen durch die offiziellen politischen Entscheidungsträger nicht mehr vertreten fühlen. Insbesondere die schamlose Umverteilungspolitik von unten nach oben seit dem Erstarken der ökonomischen Lobby, die den demokratischen Prozess gezielt unterläuft, führt zu einem Legitimationsverfall der politischen Systeme. Die Demokratie muss deshalb von unten kommen, als ein Aufbruch der Vielen.
Das Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden der Bürger sollte Maßstab werden
Die neuen politischen Bewegungen in einer nur scheinbar „entpolitisierten“ Gesellschaft wollen lange überfällige neue Formen der politischen Beteiligung, insbesondere in Fragen der sozialen Verteilungspolitik, wo das Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden zu kurz kommt. Hier wird seit Jahrzehnten anhaltende Politik gegen die Interessen der betroffenen, aber unbeteiligten Menschen gemacht, die sich auch durch Abwahl von Parteien nicht verändert. Die politischen Postulate von Freiheit und Gleichheit sind mit der real existierenden Ungleichheit im ausufernden neoliberalen Kapitalismus nicht vereinbar. Die soziale Schieflage ist unübersehbar. Die Parteien und parlamentarischen Apparate ignorieren die Anliegen der Mehrheit weitgehend und setzen die Politik fort, die von den Wählern eigentlich abgewählt wurde. Sie erleben selber oder in ihrem sozialen Umfeld den ungebremsten sozialen Abstieg (oder die reale Gefahr eines solchen) als Folge dieser Politik und werden zu Wutbürgern.
Das Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden aller Bürgerinnen und Bürger ist gefragt bei den gesellschaftlichen und politischen Umgestaltungsprozessen. Dazu müssen und wollen sie gefragt und unmittelbar beteiligt werden – oder ihre Belange selber vertreten. Immer erfolgreicher setzen sich Initiativen wie Mehr Demokratie e.V. mit Verbesserungen der direktdemokratischen, plebiszitären Regelungen in den Kommunal- und Landesverfassungen durch. Europaweit sind bereits Millionen Unterschriften gesammelt worden für europäische Bürgerbegehren. Und immer stärker wird die Eigeninitiative der Menschen und der demokratische Druck „von der Straße“, der in vielen Ländern kreative Formen der politischen Aktion und Debatte hervorbringt, wie sich am Beispiel Spanien aktuell zeigt.
Die Vielfalt und Kreativität der neuen Demokratiebewegung in Europa und weltweit ist beeindruckend
In Deutschland sind es aktuell nicht nur die Bürgerbewegung gegen „Stuttgart 21“ und die Anti-Atom-Bewegung, die in 2010 und 2011 demokratische Willensbildung vor das Diktat wirtschaftlicher Interessen gestellt haben und etablierte Lobby-Parteien zum Umdenken zwangen. Auch die neue Schüler- und Studentenbewegung, die zuvor für Bildungsreformen und -verbesserungen und Mitspracherechte wiederholt in großer Zahl auf die Straße gegangen ist, gehört zu den zivilgesellschaftlichen Zeiterscheinungen der Jugendrevolte. Sie will mitbestimmen und verhindern, dass sich Bildung, Forschung und Lehre organisatorisch, inhaltlich und finanziell den Wirtschaftsinteressen unterwerfen und die Ackermänner der Deutschen Bank über „Geheimverträge“ die Ausrichtung von Universitäten wie der „Humboldt- Universität“ Berlin beeinflussen. Die Verquickung von Politik und Wirtschaft ist als schädlich für das freie Bildungswesen und die Freiheit von Forschung und Lehre erkannt worden. Deshalb sind zivilgesellschaftliche Initiativen wie „LobbyControl“ oder „Transparency International“ so wichtig, um versteckten Lobbyismus, der private Einzelinteressen vor Gemeinwohlinteressen stellt, schonungslos aufzudecken.
Und die geschwächte Sozialbewegung mit den Montagsprotesten und Sozialforen wirkt momentan zwar verstummt, bleibt aber ein zu aktivierendes Potenzial von Wutbürgern - also einstweilen herrscht nur die „Ruhe vor dem Sturm“. Doch mehr noch als im zaghaften Deutschland bewegt sich in anderen Ländern die Zivilgesellschaft nach vorne in die Zukunft, die sie selber demokratisch und nachhaltig gestalten möchte statt verunstalten zu lassen. Vorausgegangen waren schon die eingangs erwähnten politische Umbrüche in 8 Ländern Lateinamerikas nach einem politischen Bewusstseinswandel an der Basis in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten, ebenso die „Wende“ in der DDR als „friedliche Revolution“ und die Demokratisierung in den ehemaligen Ostblockstaaten nach „Perestroika“ und „Glasnost“. Sogar in China keimt zaghaft die oppositionelle „Jasmin“-Bewegung und in Russland rühren sich oppositionelle Menschenrechtsaktivisten unter schwierigen Bedingungen einer noch unterdrückten Zivilgesellschaft.
In Italien hat die Zivilgesellschaft ihrem exzentrischen Staatspräsidenten Berlusconi bei dem Referendum im Juni 2011 endlich die Grenzen aufgezeigt mit ihrem Nein zur Atompolitik und mit ihrem Votum gegen die geplante Privatisierung der Wasserversorgung sowie gegen die Sonderbehandlung straffälliger Politiker vor Gericht – für italienische Verhältnisse eine „kleine Revolution“ gegen ihren selbstherrlichen Staatschef. (Nebenher hat die Justiz zeitgleich eine dreistellige Zahl von einflussreichen Mafiabossen verhaftet und vor Gericht gestellt). In Italien formiert sich seither eine „Fünf-Sterne-Bewegung“, die den Umbau von der repräsentativen hin zur partizipativen Demokratie anstrebt, mit Referenden ohne Quoten und jährlichen Bürgerversammlungen mit Entscheidungskompetenz. Die Argumentation der Begründer: Der Bürger könne sich selber vertreten, deshalb habe die Figur des Delegierten ausgedient.
Selbst in Brasilien hat sich längst die Einsicht politisch durchgesetzt, das zur Bekämpfung von Ungerechtigkeit mehr Bürgerbeteiligung notwendig ist oder Bürgerhaushalte nach dem Vorbild von Porto Alegre. Auf Versammlungen können die Bürger und sozialen Bewegungen über Prioritäten bei staatlichen Investitionen und Dienstleistungen beraten. Mit einer Wahlrechtsreform soll der Einfluss der Wähler statt der Wirtschaft dort gestärkt werden und die Wahlkampffinanzierung stärker öffentlich statt privatwirtschaftlich erfolgen. In Brasilien sind auch wirksame Maßnahmen gegen den Einfluss und die Interessen der Finanzmärkte getroffen worden, wie etwa Abgaben auf kurzfristige Kapitalzuflüsse aus dem Ausland. Eine Mediendemokratisierung wird betrieben und das Präsidialsystem mehr in Richtung direkter Demokratie umgebaut. Die Grenzen der klassischen repräsentativen Demokratie will man überwinden, die man für zu bürokratisiert, teuer und korrupt hält. Die Ablehnung der Parteien etwa durch die protestierende Jugend in Spanien oder Griechenland sollte allen Demokraten eine Warnung sein, mit demokratischen Reformen zu beginnen.
Der globale demokratische Aufbruch von unten – Protestbewegungen von Lateinamerika über die arabische Welt bis China und Europa
Die 11 Jahre vor und nach der Jahrhundertwende, von 1989 bis 2011, werden in die Geschichtsbücher eingehen als die Zeit des globalen demokratischen Aufbruchs von unten, vor allem getragen von einer globalen Jugendrevolte. Nicht nur die „Wende“ nach der „friedlichen Revolution“ in der ehemaligen DDR 1989 - nach vorausgegangener „Perestroika“ und „Glasnost“ in der ehemaligen Sowjetunion ab 1986 - leitete einen Demokratisierungsprozess im gesamten Ostblock ein, der nach Rückschlägen noch lange nicht abgeschlossen ist. Auch in vielen anderen Teilen der Welt war und ist die Zeit vor und nach der Jahrhundertwende reif für umwälzende Veränderungen, spätestens seit dem „arabischen Frühling“ von 2010 und 2011, der vor allem von der jungen Generation getragen wurde.
Ein tiefer politischer und gesellschaftlicher Wandel löste zunächst in Lateinamerika die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte ab und führte zum Aufkommen einer starken Zivilgesellschaft. Es begann in Lateinamerika von 1989 bis 2001 mit dem Umbrich der Demokratien nach einem tiefgreifenden politischen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung: In Argentinien, Venezuela oder Kolumbien, in Chile, Bolivien und Peru, Honduras oder Brasilien. Es setzte sich mit dem „arabischen Frühling“ in 2010 und 2011 fort: In Tunesien, Ägypten, Algerien, Bahrain, Dschibuti, Irak, Iran, Jemen, Jordanien, Katar, Kuweit und Libyen, aber auch in Marokko, Mauretanien, Oman, Saudi-Arabien und in den palästinensischen Gebieten. Aber auch in China hatten sich im Februar 2011 Hunderte von Demonstranten in 5 Städten auf die Straße begeben, um mit ihren „Jasmin-Protesten“ gegen das undemokratische Regime zu protestieren. In Russland waren die Menschenrechtsaktivisten zu vielen Anlässen auf der Straße und eine außerparlamentarische Opposition formiert sich.
Vor allem der Wind aus dem arabischen Frühling weht nun auch in Europa, denn die landesweiten Mai-Proteste 2011 in Spanien beriefen sich auf die Revolutionsbewegungen in der arabischen Welt. Und viele Menschen auch bei uns in Deutschland hoffen, dass die Protestwelle aus Spanien, Portugal Griechenland und Italien von Südeuropa auch zu uns überschwappt. In Spanien begannen die Proteste am 15. Mai 2011 mit einem Aufruf in 58 spanischen Städten, unterstützt von über 200 Verbänden, die bis Ende Mai auf 500 Initiativen anwuchsen. Auf besetzten öffentlichen Plätzen wurden trotz staatlichen Verbotes Bürgerforen abgehalten. Begonnen hatten die Proteste zunächst gegen die Zensur in den Internet-Netzen.
Die gewaltlose „Bewegung 15. Mai“ mit eigenen Organisationsstrukturen, aber bewusst ohne Wortführer, manifestierte sich als ernstzunehmende politische Kraft, die sich zudem dezentral organisierte und sich auch durch prügelnde Polizisten auf friedlich sitzende Demonstranten (mit 120 Verletzten) nicht einschüchtern ließ. In einer weltweiten Mobilisierung bis Mitte Oktober 2011 soll auf Demokratiedefizite aufmerksam gemacht werden. Das Zweiparteiensystem in Spanien mit zahlreichen Politikern, die für Korruption rechtskräftig verurteilt sind, veranlasste zur Forderung der Demonstranten nach Wahlenthaltung und nach einem grundlegenden Wandel in der spanischen Politik und Gesellschaft, nicht zuletzt wegen des falschen politischen Umgangs mit der Finanzkrise und ihren Folgen. Heftige Auseinandersetzungen gab es auch vor dem Parlament des autonomen Katalonien in Barcelona gegen den dortigen Sparhaushalt mit seinen schweren Einschnitten im Gesundheits- und Bildungswesen mitsamt Entlassungen von Krankenhauspersonal und 3000 Lehrern. Und 15.000 Zwangsräumungen von Familien aus ihren Wohnungen durch die Banken, ein Anstieg um 36%, veranlasste die Demonstranten bei der Belagerung des Parlamentes zu der Forderung: „Echte Demokratie jetzt!“
In Spanien, aber auch in Griechenland und Italien erfolgt die zivilgesellschaftliche Rückkehr zum eigentlichen Wesen der Demokratie
Was in Spanien zunächst recht unpolitisch oder antipolitisch begann, ähnlich wie bei der „Piratenpartei“, hat sich zunehmend politisiert, indem nicht nur allgemein „die Politik“ oder „der Staat“ kritisiert wurde, sondern konkret die Parteien in dem faktischen Zweiparteiensystem Spaniens ins Visier der politischen Kritik gerieten, die zur steigenden Wahlenthaltung führte. Die spanischen Parteien pflegten ohnehin nie eine Beteiligungskultur. Die Menschen fühlen sich durch die Parteien nicht mehr repräsentiert, so dass sich eine „Repräsentationskrise“ herausstellt, ähnlich wie in Italien, wo die 5-Sterne-Protestbewegung das Delegiertensystem ablehnt und sich künftig selber vertreten will. Auch in Griechenland zeichnet sich mit der Protestbewegung eine Rückkehr zu den Ursprüngen der Demokratie ab. Die Bewegungen in den südeuropäischen Ländern transformieren sich gegenseitig.
In Spanien sind neben den Parteien auch die damit verflochtenen Gewerkschaften in die Kritik der sehr jungen Protestbewegung geraten. Und die soziale Bewegung ist dort keine bloß technische der „Facebook-Generation“, wie es den Anschein hat und wie es auch auch im arabischen Raum (mit teilweise nur 5% Internet-Nutzern) in den Medien so dargestellt wurde. Zwar haben die Spanier anfangs auf Facebook mit nur 20 Menschen die Plattform „Echte Demokratie! Jetzt!“ ins Leben gerufen. Seither hört die Bewegung nicht auf zu wachsen und am 15. Mai gingen in ganz Spanien 130.000 Menschen auf die Straße. Seitdem kehren die Spanier und auch die Griechen zurück quasi zu den Versammlungen der Räte auf den öffentlichen Plätzen, zur persönlichen Begegnung und gemeinschaftlichen Aktion, losgelöst von den Internet-Netzwerken.
Es treffen sich dort Menschen, die sich schon vorher aus den Wohnvierteln kannten, aber bislang noch nie miteinander über Politik diskutiert hatten und sich jetzt plötzlich darüber austauschen. So verabredete man sich solidarisch und spontan zu Tausenden, um vor dem spanischen Kongress gegen die Verabschiedung der neuen Arbeitsgesetze zu demonstrieren, ohne Furcht vor Polizeipräsenz in der Bannmeile und gänzlich ohne Unterstützung durch Parteien oder Gewerkschaften, deren Beteiligung man ablehnte. In Griechenland waren anfangs die Gewerkschaften und linken Organisationen die Organisatoren der Protestaktionen, aber bei der Belagerung des Athener Parlamentes durch 100.000 Menschen spielten sie nur noch eine untergeordnete Rolle, so dass auch dort die Proteste ihren Charakter verändern.
Anfangs waren bei den wütenden Massen, die am Tag des Generalstreiks beinahe das griechische Parlament gestürmt hatten, keine Konzepte erkennbar. Inzwischen wird auf den allabendlichen Versammlungen der besonders Engagierten auf dem Syntagma-Platz „direkte Demokratie“ gefordert. Längst kursieren Vorschläge für eine neue Verfassung Griechenlands, die auf dem Platz zur Abstimmung stehen: mit Direktwahl der Abgeordneten, der Abschaffung des Parlaments, einem Verbot für Parlamentarier, Beziehungen zu Unternehmungen zu unterhalten bis hin zur Abstimmung von Gesetzen durch das Volk via Internet und sms, sowie Lockerung der Amnestie für Politiker.
Sehr leidenschaftlich, aber diszipliniert reden die Menschen und hören einander zu, um grundsätzliche Fragen zu erörtern und zu debattieren, weniger um Entscheidungen zu treffen. Die Menschen sind auf den Plätzen, weil sie es leid sind, nur im Netz miteinander zu kommunizieren oder ihren Frust in anonymen Internet-Foren abzuladen. Die Energie der Bewegung speist sich daraus, dass die Menschen sich begegnen, sich gerne zuhören und ganz unterschiedliche Erfahrungen zusammenkommen, von Hausfrauen über Rentnern und junge Studenten bis hin zum „schwarzen Block“. Die spanische Protestbewegung des 15. Mai hat eine Form des Ungehorsams mit Ablehnung von Gewalt und von Parteien gefunden, der von vielen Menschen praktiziert werden kann.
Die Jugendrevolte der „verlorenen Generation“ erfährt viele Sympathien
Als übergreifender Gedanke der Proteste in Südeuropa gilt die Bezeichnung der überwiegend jüngeren Aktivisten als „verlorene Generation“ mit verdüsterten Zukunftsperspektiven infolge der Finanzkrise. Die „Jugendbewegung der Empörten“ erhält viel Sympathie und Unterstützung aus breiten Teilen der Gesellschaft . In Spanien haben die Proteste immerhin zur Diskussion über vorgezogenen Neuwahlen geführt. Doch die spanische Protestbewegung protestiert nicht nur, sondern sie hat auch konkrete Vorschläge zur Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse in Spanien, derweil den Reichen dort in der Krisensituation noch Steuergeschenke gemacht werden.
Die Abschaffung der Privilegien der politischen Klasse gehört in ihren Einzelheiten ebenso dazu wie konkrete Vorschläge zur Überwindung der Arbeitslosigkeit und zur Verbesserung der Arbeitslosenunterstützung. Eingefordert wird ein Recht auf Wohnung sowie Mietzuschüsse für junge Menschen, ferner die Kontrolle der Bankinstitute und die Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften. Und schließlich werden bürgerliche Freiheiten und partizipative Demokratie mitsamt Volksentscheiden gefordert über Fragen, welche die Lebensbedingungen der Bürger tiefgreifend verändern. Gefordert wird außerdem eine Reduktion der Militärausgaben.
Einzelne Kritiker werfen der jungen spanischen Protestbewegung vor, dass sie sich überwiegend aus den gebildeten oberen Mittelschichten rekrutiert, mit guten Uni-Abschlüssen, schlechten Jobs und hohem Frustrationsgrad, ohne Verbindung zu den Jugendlichen der „Arbeiterklasse“. Sie seien keine „Anti-Kapitalisten“ und keine Hippies und sie seinen nicht repräsentativ für die spanische Bevölkerung. Sie wüssten nicht, ob sie gegen den Staat oder für mehr Staat seinen, aber ihre Forderungen würden sich an den Staat richten. Eine Neuorganisation der Politik könne nicht von den bisherigen politischen Eliten gefordert werden, so dass manche Forderungen „rhetorische heiße Luft“ seien.
Doch eine Mehrzahl der Spanier unterstützt laut Umfragen die Jugendbewegung, so dass vor den Regionalwahlen über 50.000 Menschen protestierend auf die Straße gingen. Denn Spanien braucht einen Neuanfang, nicht nur Erfolgsgeschichten großer Konzerne wie die des Baukonzerns ACS, der jüngst die deutsche Hochtief Baugesellschaft schluckte. Dennoch bemühen sich die großen Parteien und spanischen Politiker, die Bewegung zu ignorieren, weil politische Bürgerbeteiligung in Spanien schwach ausgeprägt ist. So kann kein Vertrauen in das herrschende Politik- und Wirtschaftssystem gewonnen werden. Inzwischen diskutieren die Protestierenden auf Stadtteilversammlungen ihr weiteres Vorgehen und ihre Ausweitung. Der Protest wird dezentral und deshalb umso wirksamer.
Bei den bevorstehenden Wahlen in Spanien rechnet man zwar mit einem Erfolg einer der beiden großen Parteien, so dass allen Protesten zum Trotz kein Einfluss auf das Wahlergebnis und die politischen Machtverhältnisse eintreten würde. Doch diese Kritik greift zu kurz, wenn sie nur auf die derzeitigen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse abstellt. Mit einer Reform des Wahlrechtes, das große Parteien bevorzugt, will die Protestbewegung zuvorderst daran etwas demokratisch verändern, nebst dem Kampf gegen Korruption in der Politikerkaste. Die spanische Jugend vertraut den politischen Parteien und Organisationen nicht mehr und hat viele Gründe, auf die Straße zu gehen.
Was da von unten als Demokratiebewegung keimt, hat vielfältige Langzeitwirkung mit Ansporn für die Zivilgesellschaft und Jugend in ganz Europa. Denn überall stellt sich die gleiche Frage: Wie muss dass System insgesamt umgebaut werden, damit sich eine solche Krise nicht wiederholen kann, wie sie in Form der Finanz- und Staatskrise ganz Europa erschüttert hat? Und wie lässt sich das Verursacherprinzip in ein System einbauen, dass alle Lasten der Krise nur denen da unten und der jungen Generation aufbürdet?
Mit kreativen Aktionsformen und gewaltfreien Massenprotesten können die nervösen Regierungen und Parlamente noch nicht umgehen
Die spanische Protestbewegung versteht sich als pazifistische Bewegung. Gewalt ist, anders als in Griechenland, bislang lediglich durch eingeschleuste Polizisten und eine kleine Minderheit eingetreten. Unterschiedliche Milieus mit unterschiedlichen Lebensrealitäten kommen zusammen ins Gespräch und verständigen sich über die allem zugrunde liegenden Gemeinsamkeiten, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen - das hat es in Spanien zuvor noch nie gegeben. Für viele spanische Aktivisten aus der Zivilgesellschaft ist ein Traum wahr geworden: Die Bevölkerung ist aufgewacht – das ist zwar noch keine Revolution, aber so etwas wie eine Revolution des sozialen Bewusstseins.
Bei der spanischen Regierung ist hingegen kein Bewusstseinswandel erkennbar: Sie wirft den protestierenden Menschen vor, gegen die Spielregeln der Demokratie zu verstoßen und das Parlament erpressen zu wollen. (Das ist die Reaktion einer Politikerkaste, von denen über 260 Politiker der Korruption angeklagt oder in erster Instanz rechtskräftig verurteilt sind). Für sie war es ungewohnt, dass in Madrid und weiteren 80 Städten Protestmärsche durch das Land zogen, die gegen soziale Härten und Maßgaben der Europäischen Union auftraten. Die Menschen strömten in aller Frühe aus Vororten, Bergdörfern und Schlafstädten 10 bis 15 km zu Fuß vor das abgeriegelte Parlamentsgebäude der Hauptstadt. Mit Applaus, Umarmungen und Sprechchöre: „Wir bezahlen nicht für Eure Krise“ wandten sich die protestierenden Menschen gegen den Euro-Stabilitätspakt, der allein zugunsten der Banken und Finanzmärkte angewandt werde. Die sozialen Einschnitte für Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner wirke sich negativ auf die Wirtschaftsentwicklung aus. Mit der Bürgerbewegung der „Empörten“ und deren Vorwurf: „Ihr vertretet uns nicht!“ können die etablierten Politiker und Parteien nicht umgehen.
Eine „verlorene Generation“ lässt sich nicht zum Schweigen bringen
Laut Manifest der spanischen Protestbewegung wird vor allem eine verbesserte Lage junger Menschen gefordert mit Beachtung ihrer Grundrechte und Grundbedürfnisse. Die Jugendarbeitslosigkeit trifft jeden zweiten Jugendlichen. Mit 21% hat Spanien insgesamt die höchste Arbeitslosenquote aller Industrieländer, zugleich eine Schuldenquote von 55% und eine Schuldenlast der öffentlichen Haushalte von fast 64% des Bruttoinlandsprodukts.
Umfragen zufolge identifizieren sich 60% bis 80% der spanischen Bevölkerung mit den Protesten der Empörten. 21% der erwerbsfähigen Bevölkerung, fast 5 Millionen Menschen, sind in Spanien ohne Arbeit. (Die Prognosen sagen 30% Arbeitslosigkeit voraus). Bei den Jugendlichen liegt die Quote bereits mit 40 bis 50% doppelt so hoch: Jugend ohne Zukunft. Die Protestbewegung schwillt deshalb von Zehntausenden und Hunderttausenden auf eine Million an, so hoffen und beobachten die Gründer „Echte Demokratie jetzt!“ Die Jugendproteste der „verlorenen Generation“ wollen Schluss machen mit der politischen Farce und sich nicht zum Schweigen bringen lassen. Auf den öffentlichen Protestversammlungen agierten sie teilweise stumm mit der Gebärdensprache und einer vereinbarten Zeichensprache für zustimmende oder ablehnende Meinungsbekundungen. Es gibt keine Führungsfiguren der Bewegung, alle sind gleichberechtigt. Mit spontan improvisierten Camps in vielen Städten harrten sie bis zu den Kommunal- und Regionalwahlen aus, bei der die regierenden spanischen Sozialisten mit einem historisch schlechten Ergebnis abgestraft wurden.
Danach nahmen sie Mobilisierungen für ein gerechteres Wahlsystem in Angriff und wollen für eine partizipative Demokratie streiten. Dazu bereiten sie Versammlungen vor und nutzen ihre Selbstorganisation: Gruppen, die sich um Platzreinigung kümmern, andere um Infrastruktur wie Sonnendächer, Matratzen, Sitzgelegenheiten, eine Küchengruppe und eine Gruppe von Anwälten für Rechtsberatung sowie eine freiwillige Sanitätergruppe. Mit den Camps als Stützpunkten einer „intellektuellen Revolution“ wollen die Aktivisten nach Aussagen eines Sprechers in Madrid der Bevölkerung die gemeinsamen Anliegen in ganz Europa verständlich machen, ausgehend von der tiefen und breiten Unzufriedenheit mit herrschenden Zuständen, um Solidarität zu erzeugen. Dies habe man mit den Menschen in Ägypten und im übrigen Nordafrika gemeinsam. Auch Spanien brauche eine neue Demokratie, die von den beiden großen Parteien nicht ausgehen kann.
Die Anfänge einer Revolution in Spanien erlauben keine Rückkehr zum alten System
Für Spanien sei dies erst der Anfang einer Revolution. Denn die sich zuspitzende Wirtschaftskrise treibt die Arbeitslosigkeit und drastischen Kürzungen der ohnehin bescheidenen Sozialleistungen weiter in die Höhe. Die unteren und mittleren Einkommensschichten zahlen den Preis für die enorme Staatsverschuldung. Die Bildungsinvestitionen sind völlig unzureichend. Während 300.000 Familien die Wohnungen enteignet wurden, verzeichnen die 35 führenden Firmen Rekordgewinne für die Aktionäre. Der Wohlstand im überschuldeten Spanien war eine Illusion. Spaniens politisches System und seine Institutionen leiden zudem von jeher an einem Demokratiedefizit und an Korruption. Die außerparlamentarische Opposition in Spanien fordert mit ihrer friedlichen Revolution den Wandel zu einer echten Demokratie ein, das ist ihr Ziel.
Mit dem 15. Mai hat sich für Spanien etwas für immer verändert: Spanien wird nie mehr so sein wir zuvor – und vielleicht gilt das bald auch für ganz Europa. Die spanischen Aktivisten hoffen jedenfalls, dass jetzt die Deutschen am Zuge sind, denn der Euro-Pakt und die Reaktionen der europäischen Regierungen auf die Finanzkrise einiger Länder wird uns alle in Europa betreffen. Die europäische Schuldenpolitik verfestigt das Prinzip, dass nur der besteht, der „wettbewerbsfähig“ ist. Deshalb werden mit dem Euro-Pakt Maßnahmen getroffen und verordnet, mit der die Verschuldung der Länder auf Kosten des Sozialstaates bekämpft werden soll.
Was heute Griechenland betrifft, kann deshalb morgen jedes andere Land in Europa betreffen. Und die Maßnahmen des Euro-Paktes setzen Demokratie außer Kraft. Deshalb bedarf es politischer Transparenz und öffentlicher Kontrolle sowie demokratischer Willensbildung der Bevölkerung, ob etwa eine Kanzlerin über Nacht im Alleingang Milliardenbeträge verschieben kann, die hinterher dem Sozialstaat fehlen. Auf der EU-Ebene hat das Parlament weniger zu sagen als eine Kommission, die wir nicht wählen. Deshalb beschränken sich die Proteste und Aktionen künftig nicht mehr nur auf die nationale Ebene, sondern werden in vielen europäischen Metropolen wie Brüssel, Rom, Bukarest, Kopenhagen oder Dublin veranstaltet.
Von Südeuropa bis England reichen die neuen sozialen Bewegungen, die ganz Europa erfassen werden
Die Folgen der Finanzmarkt-Krise treffen besonders die Menschen in Spanien mit ganzer Wucht, obwohl sie für die Krise nicht verantwortlich sind. Deshalb werden die Ratschläge der deutschen Kanzlerin Merkel als Hohn empfunden, wonach sich die Spanier und Portugiesen nur mehr und länger anstrengen müssten – obwohl eine aktuelle Studie auf Grundlage der OECD-Statistik erbracht hat, dass die Südeuropäer im Durchschnitt mehr Stunden arbeiten als die Deutschen: Die jährliche Arbeitszeit der Deutschen beträgt durchschnittlich 1390 Stunden, bei den Griechen 2119 Stunden im Jahr, bei den Italienern 1773 Stunden, in Portugal 1719 und in Spanien 1654. Also kein geeignetes Thema für politische Debatten auf Stammtischniveau.
Schon am 12. März, 3 Monate vor Spanien, formierte sich bereits in Portugal eine Protestbewegung, die am 25. Mai eine größere Demonstration in Lissabon abhielt. Und am 29. Mai 2011 fand in der französischen Hauptstadt Paris eine Solidaritätskundgebung mit 5000 Menschen statt. Nicht aus dem Blick geraten sollten auch die heftigen Proteste von Studenten, Eltern, Rentnern und Arbeitern in Großbritannien gegen die Spar- und Privatisierungspläne der konservativ-liberalen Regierung Cameron, deren Ausmaß und Intensität viele überrascht hat - mit kleinen Teilerfolgen für die Protestbewegung. Die Briten schlafen längst nicht mehr, denn die Demonstrationen gegen die Kürzung der Bildungsausgaben und die deutliche Erhöhung der Studiengebühren waren nur der Auftakt zu zahlreichen weiteren Demonstrationen. Die Bürger wehren sich gegen die 12%-ige Kürzung in allen öffentlichen Bereichen, insgesamt 80 Mrd. Pfund, davon allein 18 Mrd. Pfund bei den Sozialleistungen und 36 Mrd. beim öffentlichen Dienst.
Bereits im Herbst 2010 begann der Aufruhr in England mit der Besetzung ihrer Universitäten durch die Studenten. Auf lokaler Ebene gab es Aktionen gegen geplante Privatisierungen öffentlicher Infrastruktur wie z. B. der Verkauf des Hafens in Dover. Bürgerinitiativen besetzten landesweit mehrere Stadtparlamente. Der Widerstand gipfelte schließlich im sogenannten „Marsch für die Alternative“ am 26. März in London, an dem 500.000 Menschen teilnahmen - eine landesweite Großkundgebung gegen die Steuerflucht nach Aufruf durch die Gewerkschaften. Die seit dem Bergarbeiterstreik in den 80-er Jahren in dem „Winter der Unzufriedenheit“ in den 70-er Jahren verschüttete Tradition des Widerstandes ist in England wieder aufgelebt. 1990 hatten sie gegen die Einführung der „Kopfsteuer“ protestiert und 2003 hatte es Großdemonstrationen gegen den Einmarsch in den Irak gegeben. Nun sieht es nach einer Renaissance einer außerparlamentarischen Opposition aus in einer Zeit, in der die Einkommensunterschiede so hoch sind wie nie zuvor und der Sozialabbau so heftig wie noch nie. Jetzt ist es eine Herausforderung, die vielen lokalen Initiativen in England zu einer nationalen Bewegung zu vernetzen und letztlich zu einer sozialen Bewegung in ganz Europa zusammenzuführen, bei dezentralen Aktionsformen und lokaler Präsenz.
Das Drama um die Griechenland-Rettung – Politiker üben den Staatsbankrott und bitten die Bürger zur Kasse
Das Sorgenkind Griechenland, aber auch die Sorgenkinder Spanien, Portugal, Belgien und Irland stehen wegen ihrer dramatischen Finanz- und Schuldensituation nicht nur im Visier der „Partnerstaaten“ der EU und der des IWF, sondern auch im Visier privater Rating-Agenturen, die über die Kreditwürdigkeit oder mögliche Insolvenz von Staaten entscheiden. Davon wiederum hängt die Stabilität des Euro ab und der aktuelle Streit, ob private Gläubiger und Banken an den finanziellen Rettungspaketen zu beteiligen sind oder nicht – und ob ganze Staaten in betriebswirtschaftlicher Sichtweise für insolvent erklärt werden sollen oder nicht. Die Politiker üben bereits den Staatsbankrott. Eine absurde Diskussion in einer Welt, in der die anonymen Finanzmärkte das Primat der Politik abgelöst haben und die Demokratie und den sozialen Frieden zerstören, derweil sich das Geldwesen von der realen Wirtschaft abgelöst hat und das Geld selber zur Ware geworden ist.
Vor den Griechen liegen noch viele Jahre der Entbehrung, wenn die Regierung in Athen wirklich ernst mit der Sanierung der maroden Staatsfinanzen macht – so ist zumindest die Erwartung und Bedingung der übrigen europäischen Länder und Geldgeber. Sie tun so, als sei Griechenland ausschließlich selbst schuld an seiner Situation, obwohl Deutschland die Kreditblasen in Griechenland, Portugal, Irland oder Spanien finanziert, indem es die Überschüsse aus seinen Exporten dorthin verliehen hat. Auf jeden Fall sollen nun die Bürger einen wesentlichen Teil des von der EU und dem IWF diktierten Spar- und Reformpaketes stemmen und noch mehr sparen, obwohl die bisherigen Kürzungen bereits eine tiefe Rezession ausgelöst haben. Die europäischen Finanzhilfen gehen fast ausschließlich in den Schuldendienst für Tilgung und Zinszahlung.
Die griechischen Schulden betragen mindestens 330 Mrd. € mit steigender Tendenz. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst verloren ein Fünftel ihres Einkommens, 80.000 befristet Beschäftigte wurden entlassen, weitere Kürzungen sind geplant. In der Privatwirtschaft stieg die Arbeitslosigkeit binnen 18 Monaten von 11,5% auf 16,5%. Über 40% der Jüngeren bis 34 Jahre haben keine bezahlte Arbeit. Nach spanischem Vorbild protesteierten deshalb die empörten griechischen Bürger 20 Tage lang unermüdlich vor dem griechischen Parlament. Das neue daran war, dass sich die Polis als aktiver Träger aufgerufen fühlte, politische Gestaltung und Debatte selbst in die Hand zu nehmen mit kollektiven Debatten, statt nur Forderungen an die politischen Machthaber zu adressieren: „Wir wollen selbst über uns entscheiden und für uns sprechen“. Immerhin wurde daraufhin die historische Privatisierungswelle um 20 Tage nach hinten verschoben.
Verordnet wurden den Griechen dennoch nach neoliberalen Rezepten die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und der Ausverkauf öffentlichen Eigentums sowie drastische Kürzungen von Sozialleistungen einschließlich Rentenkürzungen und Sonderabgaben. Ein ganzes Land unter Kuratel. Wo und wie der griechische Staat also die erforderlichen Summen einspart, bleibt ihm also nicht selber überlassen. Selber hat sich der griechische Ministerpräsident den Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft vorgenommen. Alles zusammen eine Sisyphusarbeit. Ein ganzes Land verliert den Glauben an die Zukunft. Deshalb machen nahezu 3 Wochen lang Tag für Tag Tausende Menschen im Herzen von Athen angesichts der drastischen Sparmaßnahmen ihrer Verzweiflung und ihrem ärger Luft. Zunächst friedlich, aber dann explodierte die Stimmung. Junge Leute ohne Aussicht auf Erwerbsarbeit, um ihre Besitzstände gebrachte Staatsdiener sowie Hausfrauen und Rentner wurden vereint zu Wutbürgern.
Wie das Pleiten-Risiko Griechenlands von den privaten Gläubigern zum kleinen Steuerzahler umgelenkt wird
Die Griechen, Spanier und Portugiesen haben trotz einiger Auswüchse insgesamt nicht „über ihre Verhältnisse gelebt“, sondern ihre Probleme hängen mit den wirtschaftlichen Ungleichgewichten der Eurozone zusammen, (zusätzlich mit der aggressiven Exportpolitik des „Exportweltmeisters“ Deutschland). Und ihre Staatsschuldenkrise ist eine Folge der Finanzmarktkrise. Diese haben nicht die Staaten oder ihre Bevölkerung, sondern die Finanzinstitutionen verursacht. Dennoch gibt es zur Bankenrettung wohl keine vernünftigen Alternativen, (es sei denn mit der von vielen geforderten geordneten Staatsinsolvenz, zumindest aber einer freiwilligen oder verpflichtenden Gläubiger-Beteiligung). Letztlich sind die Rettungsschirme und Hilfsprogramme für Griechenland in Wirklichkeit Bankenrettungsprogramme, also Programme zur Rettung deutscher, französischer und sonstiger Anleger, die griechische Staatsanleihen halten. Die Folgen der von Anfang an falsch aufgesetzten Währungsunion müssen durch Europa grundlegend gelöst werden, nicht durch Kurieren an Symptomen. Dies sei vorweg festgestellt zur Situation des von Europa nun zum drastischen Sozialabbau gezwungenen Griechenland durch das angeblich „alternativlose“ Diktat der Geldgeber (Europäische Zentralbank, IWF und EU). Ähnlich erging es zuvor Portugal nach dem Hilfspaket mit erzwungenem Sparkurs, so dass dort unter anderem ein System nach dem Vorbild von Hartz IV eingeführt wurde. Die Griechen trifft es noch härter und sie sind nicht zu beneiden.
Die Einkommen in Griechenland sinken und die Steuern steigen, trotz aller Sparmaßnahmen. Kein Industrieland hat in den letzten 25 Jahren so brutal gespart wie Griechenland in den letzten 12 Monaten. Trotzdem wächst der Schuldenberg, das Wachstum schrumpft und die Arbeitslosigkeit steigt. In Griechenland kostet ein Pfund Butter inzwischen 5,-€, obwohl viele Arbeitnehmer seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen. Nicht einmal das Heranziehen und Schröpfen der Reichen in Griechenland mit ihren Swimmingpools und Yachten würde das Verschuldungsproblem lösen, weil deren laufenden Einkünfte bei korrekter und erhöhter Besteuerung allenfalls 6 Mrd. € einbringen würde gegenüber 340 Mrd. € Staatsschuldenweitem nicht ausreichen würden – aber ein notwendiger Beitrag zum sozialen Gerechtigkeitsempfinden und zur fairen Lastenverteilung wäre es allemal.
Dennoch: Griechenland steht vor der Pleite. Eine neue Notfallhilfe in Höhe von 120 Mrd. € mit freiwilliger Beteiligung von Banken und Versicherungen war im Juni in der kontroversen Diskussion angesichts der erneuten Liquiditätskrise. Zwischen deutscher Bundesregierung und Europäischer Notgenbank gab es unversöhnlichen Streit. Aus Fehlern wird offensichtlich nicht gelernt. Und die Debatte um die Beteiligung der privaten Gläubiger, der Versicherungen und Banken, ist pure Heuchelei, denn diese haben gar nicht mehr so viele griechische Schulden in den Büchern stehen, weil sie einen großen Teil ihrer griechischen Staatsanleihen längst abgestoßen haben.
Deutsche Privatbanken und Versicherungen haben ihre Scherflein also längst ins Trockene gebracht. Und auch ein Zahlungsaufschub würde sie nicht groß treffen, weil sie ihre griechischen Staatsanleihen absprachewidrig nicht mehr verlängert haben. Insgesamt hatten sie 300 Mrd. € gegen überhöhte Zinsen an Griechenland geliehen, dass nicht rückzahlungsfähig war. Deshalb das geschnürte Hilfspaket von 110 Mrd. € auf Steuerzahlerkosten, damit Griechenland seine Schulden und Zinsen an Banken und Versicherungen weiterzahlen kann . Der deutsche Staat ist also längst der Hauptgläubiger gegenüber Griechenland.
Hinter den Kulissen geht es deshalb um die Frage: Wie verlagert man das Pleite-Risiko Griechenlands von den Banken weg hin zum Steuerzahler? Dafür jetzt ein zweites Hilfspaket zugunsten der privaten Gläubiger, deren Beteiligung lediglich auf „Freiwilligkeit“ beruhen soll. Die Europäische Zentralbank als öffentlicher Gläubiger könnte zweistellige Milliardenverluste locker wegstecken. Betroffen wären allein die deutschen Landesbanken und staatseigene Bankrottinstitute, die wir seit der Finanzkrise am Hals haben. Damit wiederumwären die deutschen Steuerzahler oder Bankkunden betroffen. Das Risiko auf die Steuerzahler abzuwälzen, ist eigentlich Pervertierung der Marktwirtschaft, bemerkte sogar ein FDP-Politiker. Für die Privatbanken ein billiges Vergnügen, denn bei einem Schuldenschnitt am Anfang der Krise hätten die privaten Geldgeber immense Milliardenbeträge verloren. (Das Vorgehen des Bundesfinanzministers verlief offensichtlich nach einem inhaltsgleichen Drehbuch des Chefs der deutschen Bank, Joseph Ackermann, wie das Nachrichtenmagazin Monitor am 17. Juni offenlegte.)
Und schon gar nicht interessiert die Meinung etwa der deutschen Bürger und Wähler, die Umfragen zufolge zu 47% gegen die erneuten Finanzhilfen für Griechenland in dreistelliger Milliardenhöhe sind, ohne sich jedoch über die wirtschaftlichen Folgen für das eigene Land bei deren Verweigerung im Klaren zu sein. Denn wenn Griechenland und die anderen südeuropäische Länder aus der Eurozone hinausflögen und somit der Euro im verbleibenden Nord-Euroraum dramatisch aufgewertet würde, dann würden in Deutschlands Exporte einbrechen, die Löhne müssten sinken und die meisten Banken wären pleite, weil sie ihre Forderungen gegenüber den Südländern abschreiben müssten. Das wäre die totale Finanzkrise und Katstrophe, die wir uns nicht leisten können. Deshalb sind Finanzhilfen für Südeuropa unvermeidbar, aber nicht länger zu den bisherigen neoliberalen Bedingungen für die von dort abverlangten Sparpakete.
Erforderliche Wende in der europäischen Wirtschaftspolitik – Der Sparkurs gefährdet den sozialen Frieden und die nachhaltige Entwicklung
In einem leidenschaftlichen Appell forderten Sozialdemokraten, Grüne und Linke aus mehreren EU-Ländern eine Wende in der europäischen Wirtschaftspolitik: Denn der einseitige Sparkurs gefährdet den sozialen Frieden und bringt den Euro in Gefahr. Die massive Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa birgt sozialen Sprengstoff. Die falsche Krisenpolitik erdrosselt Griechenland und gefährdet den gemeinsamen Währungsraum. Der Versuch, die griechische Volkswirtschaft mit Lohnkürzungen, Personal- und Sozialabbau wieder flott zu kriegen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Mit verschärften Regelungen für die Eurozone, wie in Gesetzesentwürfen der EU-Kommission und des Ministerrates vorgesehen, werden die Prinzipen der europäischen Wertegemeinschaft in Frage gestellt: Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und nachhaltige Entwicklung. Die ideologischen neoliberalen Vorschläge gefährden den Zusammenhalt Europas und seine ökologische Modernisierung des Wirtschaftsmodells. Trotz der Sorge um tragfähige Staatshaushalte bedarf die Wirtschafts- und Finanzpolitik einer Umorientierung auf soziale und ökologische Ziele. Dabei sind Investitionen in erneuerbare Energien und Bildung unerlässlich.
Die Krisenländer Südeuropas brauchen eine neue Perspektive. Mit der Einführung einer Finanztransaktionssteuer würden sich neue Finanzquellen für die Finanzierung erschließen. Zudem darf nicht vergessen werden, dass die Verweigerung einer schärferen Regulierung der Finanzmärkte durch prominente EU-Politiker bewirkt hat, dass Europa kurz danach in den Strudel der Finanzkrise gezogen wurde, die jetzt von den Bürgern auszubaden ist. Nothilfe aus Europa nur zu geben, wenn noch radikaler gekürzt und öffentliches Eigentum privatisiert wird, verschärft die Deflationspolitik und gefährdet den gemeinsamen Währungsraum. Bei den von Griechenland geforderten Einschnitten handelt es sich nicht um ein Sparprogramm, sondern in Wirklichkeit um ein Erdrosselungsprogramm. Das haben die protestierenden Menschen erkannt und bekommen sie täglich zu spüren.
Müsste Deutschland, gemessen an seiner Wirtschaftsleitung, ähnliche Privatisierungen vornehmen wie von Griechenland gefordert, so entspräche das einem Volumen von 550 Mrd. € - soviel wie der komplette Bundeshaushalt für ein Jahr und 10 Monate, so hat der deutsche ver.di-Bundesvorsitzende vorgerechnet. Die deutschen Gewerkschaften unterstütze n deshalb die griechischen Gewerkschaften in ihrem Kampf gegen ökonomisch und sozial schädliche Sparpolitik. Statt einer Magerkur braucht Griechenland jetzt eigentlich private und öffentliche Investitionen, quasi ein Marshallplan für Südeuropa. Gleichzeitig müssen die hohen Zinsen für die Rettungsfond-Kredite sinken, sonst kann Griechenland sich nicht aus der Schuldenfalle befreien.
Für ein solidarisches Europa der Menschen - nicht ein Europa der Märkte, der Staatsmänner und Lobbyisten
Angesichts täglich neuer Defizite in den so genannten „Pleite-Staaten“ Europas erleben wir so etwas wie Weltgeschichte, denn es stellt sich die Frage , ob das von 17 unabhängigen Staaten gewagte historische Experiment des Euro überlebt, obwohl niemand so recht weiß, wie er eigentlich funktioniert. Umfragen zufolge machen sich knapp 50% der Bürger Sorgen um die Stabilität des Euro, während die Investoren im Vertrauen auf die Politiker und Europäische Zentralbank optimistisch sind, dass er überlebt . Ob wir den Euro retten müssen oder nicht zunächst die Demokratie und das europäische Sozialmodell, um Europa und die Europa-Idee zu retten , ist hingegen eine ganz andere Frage, nämlich die nach Ziel und Zweck Europas und seinem Leitbild.
Diese kulturelle Sinn-Frage Europas ist bis heute nicht wirklich zusammen mit den Bürgern Europas gestellt worden, da uns die EU von oben das einseitige Bild des führenden Binnenmarktes der Welt , der seine Rohstoffe und Handelswege auch am Hindukusch militärisch verteidigt, als Hauptidee verkauft, dem sich alles andere unterzuordnen hat. So entsteht niemals eine europäische Identität, sondern die Europa-Skeptiker werden auf den Plan gerufen. Identitätsstiftend kann eher die grenzüberschreitende zivilgesellschaftliche Bewegung gegen diese verfehlte Europa-Politik sein, damit endlich demokratische Alternativen von unten die bloß ökonomische Orientierung ablösen. Dazu bedarf es einer zivilgesellschaftlichen europäischen Bürgerbewegung, die ihren Ausgangspunkt in den momentanen Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Zukunft der Jugend Europas nehmen könnte, die bereits auf den Straßen demonstriert.
Aber auch weltweit herrscht Verunsicherung, so auch an den Börsen. Denn neben der Eurokrise treiben die Wirtschaftsprobleme der USA die Anleger um. Die Konjunktur in Amerika will nicht anspringen und die Staatsschulden sind gigantisch bis besorgniserregnd. Der Schuldenstand der USA entspricht inzwischen laut Schätzungen des IWF rund 100% des Bruttosozialprodukts, Tendenz steigend Und darin sind die Schulden der staatlichen Sozialversicherungsprogramme noch nicht enthalten. Inzwischen stellen die großen Ratingagenturen auch die Kreditwürdigkeit der USA in Zweifel und drohen mit Herabstufung. Viele Firmen stoßen bereits die US-Staatsanleihen ab, da sie wegen des gigantischen Schuldenbergs nur noch einen geringen Wert haben. Von US-Staatsanleihen wird längst abgeraten – Griechenland lässt grüßen. Droht die große Weltfinanzkrise in 2012?
Das unbekannte kleine Einmaleins der Volkswirtschaft bedarf der Nachhilfe für Politiker und Ökonomen durch die Zivilgesellschaft
Belassen es die verschuldeten Staaten bei ihrem steuerlichen Einnahmeverzicht, oder entschließen sie sich endlich, die chronische Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte zu beheben und die Verteilungsfrage zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtums als zwei Seiten derselben Medaille aufzugreifen? Warum wird der private Reichtum nicht zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben herangezogen, da doch Geld genug da ist? Das private Nettovermögen, dessen Vermögensverluste nach der Finanzmarktkrise wieder wettgemacht wurden, ist in Deutschland fast viermal so groß wie die gesamte Staatsverschuldung, die nach der Krise explodierte. Die Finanznot von Bund, Ländern und Kommunen ist politisch herbeigeführt worden und somit auch politisch wieder änderbar.
Allein die zurückliegenden Steuerreformen mit und Steuergeschenken führt heute noch zu Einnahmeverlusten von 50 Mrd. € Jahr für Jahr. Damit werden die politisch selbst verschuldeten Staatsschulden zum scheinbar unüberwindbaren Hindernis progressiver Reformpolitik. Neoliberale Ideologie und Lobbybezogene Gefälligkeits- und Umverteilungspolitik ersetzt das kleine Einmaleins der Volkswirtschaft? Die Abhängigkeit und das Unvermögen der gegenwärtigen Politikerkaste gefährden global und europaweit den sozialen Frieden und die Zukunftsperspektiven der rebellierenden jungen Generation. Warum wird nicht endlich begriffen, dass staatliche Schulden, wenn sie richtig eingesetzt sind, nicht per se problematisch sind? Ein Staatshaushalt ist kein Privathaushalt. Die Staatsausgaben sind gleichzeitig die Einnahmen der Unternehmen und Privatpersonen. Wenn in Krisenzeiten Ausgaben gekürzt werden und Sparpolitik betrieben wird, verschärft sich nur die Talfahrt, wie in Dublin, Athen und Lissabon zu beobachten. Im Abschwung vergrößert sich das Haushaltsloch durch sinkende Steuereinnahmen. Und was die öffentliche Kreditfinanzierung angeht, so gilt auch hier der buchhalterische Grundsatz: Wo ein Schuldner, da ein Gläubiger und umgekehrt.
Öffentliche Investitionen in Bildung, Gesundheit, Klimaschutz und Infrastruktur werfen in der Regel einen hohen volkswirtschaftlichen Ertrag ab. Die Wachstumsimpulse sind dann höher als die Finanzierungskosten. Und darüber hinaus profitieren von diesen Investitionen auch zukünftige Generationen. Deshalb geht die Debatte in Deutschland und Europa über zu hohe Schulden und Generationengerechtigkeit teilweise in die falsche Richtung und bereitet nur die nächste Welle der Umverteilung und des Sozialabbaus. Deshalb muss die Haushaltspolitik flexibel belieben und von ihren Fesseln befreit werden. Und schließlich die Grundsatzfrage: Belassen wir es bei dem von den realen Wirtschaftskreisläufen abgelösten Geldwesen in einem spekulativen Finanzmarkt, auf dem das Geld selber zur käufliche und handelbaren Ware wird? Dann bleibt nur noch das Warten auf die nächste Finanzkrise.
Was will uns die aktuelle Krise sagen?
Der Blick nach Griechenland und Spanien müsste die politischen und wirtschaftlichen Eliten längst auch in Deutschland und Frankreich sowie in Brüssel aufschrecken lassen, so wie nach dem erschreckenden Supergau von Fukushima eine mutige Kehrtwende eingeleitet wurde. Einer solchen grundlegenden Kehrtwende bedarf auch die Finanz- und Haushaltspolitik der Staaten und der Währungs- und Staatengemeinschaften – sonst müssen sie durch die zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen ebenso dazu gezwungen werden wie die Anti-Atombewegung die Energiewende erzwungen hat. Doch ohne ein erkämpftes Zurück oder Vorwärts zu echter Demokratie werden uns die anonymen Märkte weiter die Katastrophen diktieren und hilfloses Krisenmanagement der Politiker hervorrufen, die den Willen der betroffenen Menschen nicht mehr repräsentieren. Das zu ändern, ist die große Herausforderung am Beginn dieses 21. Jahrhunderts, das mit vielen Paukenschlägen begann. Die Komposition sollten wir selber vorgeben, sonst entgleiten uns nach den sozialen Errungenschaften und ökologischen Grundlagen auch noch die demokratischen Errungenschaften auf halber Strecke des mühsam Erreichten - und schließlich die wirtschaftlichen Lebensgrundlagen für die voneinander abhängige Menschengemeinschaft.
Die akute Krise will uns nichts Geringeres mitteilen als diese Dramatik – damit wir begreifen, warum jetzt eine Revolution des Bewusstseins erforderlich ist und in Südeuropa und anderswo schon zaghaft begonnen hat - damit wir in die Lage versetzt werden, nachhaltig statt zerstörerisch zu handeln. Ein „Weiter-so“ mit Kurieren an Symptomen hilft ebenso wenig wie bloße Proteste oder Forderungskataloge an „die Politik“. Nicht Forderungen an irgendwelche Verantwortungs- und Entscheidungsträger helfen jetzt weiter, sondern die Wahrnehmung der eigenen, individuellen Verantwortung und das Aufzeigen von Alternativen und echten Problemlösungen. Denn wir sind mittendrin im Geschehen und können ihm nicht entfliehen. Jeder Einzelne ist gefordert – hier und jetzt und jederzeit an jedem Ort. Ideen und Mitstreiter wird es immer und überall geben. Gemeinsam sind wir stark.