Leserbrief zum Bericht vom 09. Februar 2015 über die SPD-Klausur: „Gabriels Einkehr im Havelland“
„SPD-Klausur offenbart abhanden gekommene politische Visionen“
Dass die zur Selbstkritik offenbar unfähige SPD bei ihrer Klausur völlig ratlos auf ihr Verharren im 25%-Tief schaute, hat auch damit zu tun, dass sie die eigentlichen Ursachen ihrer anhaltenden Wählerverluste bis heute nicht ehrlich analysiert hat. Was nützt es, bildlich gesprochen, nun einen Reifen zu wechseln, wenn der Motor und die ganze Karosserie hinüber sind? Das ewige Schielen nach den Wählern der imaginären „Mitte“, aus der sich ja lediglich die verbliebenen 25% rekrutieren, hilft nicht weiter, wenn man die verlorengegangenen früheren Stammwähler links der Mitte (mindestens 15%) nicht zugleich wieder zurückgewinnt? Oder hofft Herr Gabriel etwa auf seine unzufriedenen Pegida-Gesprächspartner als künftiges Wählerpotential? Nun also im Ergebnis ein dürftiges Einpunkte-Programm als Problemlösung aus der Klausur?
Der SPD sind doch seit der unsäglichen Agenda 2010, die sie nicht zu korrigieren gewillt ist, jegliche politischen Visionen abhanden gekommen, die in dieser krisenhaften Zeit so nötig wären. Als wenn die Wählerinnen und Wähler sich mit der völlig durchlöcherten Mindestlohnregelung abspeisen ließen und mit einem kurzen Zeitfenster zum Rentenausstieg mit 63, nachdem die SPD die Rente mit 67 und die Teilprivatisierung der Altersversorgung zugunsten der Versicherungskonzerne eingeführt hatte. Und nun noch ein bloßes Teilzeitmodell für die Altersgruppe der 30-50-jährigen als alleinige kümmerliche Antwort auf die dramatischen sozialen und außenpolitischen Problemlagen?
Eine wirkliche Rentenreform zur Vermeidung künftiger Altersarmut steht nicht auf dem Arbeitsprogramm der SPD. Ebenso wenig eine Gemeindefinanzreform, die ihren Namen verdient, um den maroden Kommunen aus dem Finanzierungsloch herauszuhelfen, dass ihnen vor allem der damalige SPD-Finanzminister Hans Eichel mit seiner „Jahrhundert-Steuerreform“ eingebrockt hatte - mit einem jährlichen kommunalen Einnahme -Verlust von 50 Mrd. und Umschichtung zugunsten unternehmerischer Steuerentlastungen.
Angesichts von über 3 Millionen Erwerbstätigen unterhalb der Armutsschwelle (vor allem dank Hartz IV) hat die SPD auch keinerlei Konzept und überhaupt keinen energischen politischen Willen, die immer weiter auseinanderklaffende Armuts-Reichtums-Schere zu schließen. Eine Versteuerung der Reichen etwa durch Wiedereinführung der Vermögenssteuer lehnt die SPD ab, so dass von den 600 Mrd. € Staatseinnahmen weiterhin 480 Mrd. Steuern allein von den Arbeitnehmern und Verbrauchern aufgebracht werden und nur 34 Mrd. € oder 8 Prozent von den Unternehmen, den Vermögenden und den großen Erben. Und dann wundern wir uns über den Trend, dass 1% der Weltbevölkerung über bald 50% des Reichtums und Wohlstandes verfügen, zu dem das Wohlstandsland Deutschland tüchtig beiträgt?
In einer Studie der EZB (Europäischen Zentralbank) wurde ermittelt, dass das Nettovermögen der deutschen Privathaushalte von allen 15 Euroländern am untersten Ende liegt, so dass die Deutschen statistisch quasi die Ärmsten im Euroland sind, noch hinter Griechenland, Zypern, Spanien und Italien. Kein Thema für die SPD? Und seit der erfolgreichen Bildungsreform von Willy Brandt sind inzwischen wieder die Kinder aus den unteren Schichten von Hochschulbildung nahezu ausgeschlossen, mit anhaltender Tendenz?
Erst gar nicht zu reden von einer fehlenden neuen Ostpolitik und Abrüstungspolitik, die jetzt Not täte statt aufzurüsten. Oder ein konsequentes Ablehnen der Freihandelsabkommen TTIP & Co, bei denen die Arbeitnehmer, die Verbraucher, der Mittelstand und die Entwicklungsländer als Verlierer hervorgehen werden. Wenn die SPD das alles nicht begreift, dann landet sie beim nächsten Mal bei knapp 20%.
Wilhelm Neurohr