Zum neuen Buch von Wilhelm Neurohr
von Michael Mentzel
Wie die EU den Europagedanken verfälscht
"Die Vision eines geeinten Europa hat ihren Glanz verloren und der Egoismus der politischen Klasse hat die europäische Idee verraten." Das sind herbe Worte für eine Sache, an die außer den Politikern, die immer noch vollmundig von der Idee des vereinten Europa sprechen, so recht niemand mehr glauben mag. Wilhelm Neurohr kommt schon im Vorwort seines neuen Buches "Ist Europa noch zu retten?" zur Sache, wenn er sagt: "Wirtschaft, Politik und Kultur sind zu einem bloßen marktwirtschaftlichen Instrument zusammengeschmolzen und das intransparente Staatengebilde der EU gebärdet sich als zentraler Interessenverband der Wirtschaft, dem die Politiker dienen."
Die "Idee Europa" sei zu einer unsozialen Freihandelszone verkommen, innerhalb derer "Arbeitslosigkeit, Armut und Zukunftsängste sowie sozialer Unfrieden dramatisch zunehmen." Eine alles beherrschende neoliberale Ideologie sei längst gescheitert und die sie vertretenden politischen Parteien mit ihren Ideologien aus dem vergangenen Jahrhundert am Ende.
Vor diesem Hintergrund fordert der Autor Erneuerung und Weiterentwicklung von Demokratie und Kultur durch die Zivilgesellschaft in Europa. Statt Konkurrenzwirtschaft bräuchte es kooperative Formen des Wirtschaftens. "Europa eine Seele geben", lautet dann auch folgerichtig die Aufforderung, denn ein anderes Europa sei dringend nötig. Es sei möglich, so Neurohr, wenn es gelänge, Transparenz in die von Lobbyisten geprägten Entscheidungsstrukturen zu bringen.
Anschaulich wird im Verlauf des Buches die Entwicklung der Europäischen Union beschrieben mit dem Blick auf den Lobbyismus, der die Brüsseler Politik bis in die Inhalte des Entwurfs einer EU-Verfassung prägt. Neurohr beleuchtet die Krise, die sich - unerwartet - durch die Weigerung der französischen und niederländischen Bürger, für die EU-Verfassung zu stimmen, ergeben hatte. Der Entwurf für die Verfassung war ohne Bürgerbeteiligung hinter mehr oder weniger verschlossenen Türen zustande gekommen.
Das Buch ist glänzend recherchiert und mit einem exzellenten Faktenwissen geschrieben. Der Autor erweist sich einmal mehr als ein Kenner der Idee Europas, die er an keiner Stelle in Frage stellt. In Frage gestellt werden allerdings die Machenschaften einer politischen Kaste, die den Bezug zum Bürger längst aufgegeben hat. Er weist nach, dass der europäische Verfassungsentwurf "mit seiner wohlklingenden Präambel das vereinte Europa zwar scheinbar auf löbliche Grundwerte und soziale Rechte verpflichten möchte, dass diese aber an anderer Stelle der Verfassungstexte wieder aufgehoben werden." Damit, so die Erkenntnis, werden all die "schönen Absichtserklärungen ins Gegenteil verkehrt und entlarven das Lügengebäude der Marktfundamentalisten und Rüstungslobbyisten, die Europa nach ihren Interessen formen möchten, über die Köpfe der betroffenen Menschen hinweg."
Auf der Suche nach Identität
Im zweiten Teil widmet sich der Autor der Rolle Europas in der Welt, den Veränderungen nach dem Fall der Mauer 1989 und den damit verbundenen Veränderungen der Beziehungen zu Russland und den USA. Er beschreibt die Spannungen zwischen den USA und Europa, die sich beispielsweise an der Frage der Aufstellung von Raketenabwehrsystemen in Osteuropa zeigt und die offensichtlich mit dem Ansinnen verbunden ist, "die EU provokativ an ihre Rolle als bloßer Brückenkopf in der Hegemonialstrategie der USA gegenüber Russland zu erinnern, dieweil die EU und Russland gerade dabei sind, sich wirtschaftlich enger zu verbinden."
Alle Themen werden angesprochen, die Osterweiterung der EU genauso wie die Fragen des Beitritts der Türkei und den damit verbundenen Problemstellungen. Neurohr stellt die Frage nach den spirituellen Quellen Europas und kommt zu der Antwort, dass die "neuen spirituellen Quellen" in den "einzelnen Menschen [sind], in den zwischenmenschlichen Begegnungen und Menschengemeinschaften, (..) zunehmend außerhalb der konfessionellen Religionsgemeinschaften, im mitmenschlichen Umgang und menschenwürdigen sozialen Miteinander statt Gegeneinander".
Die Suche nach einer gemeinsamen Identität werde durch die "Unfassbarkeit" der "Idee Europa" verstärkt. Nicht nur in der Übereinstimmung von wirtschaftlichen Interessen oder in politischen Strukturen kann dies gründen, ist die Auffassung des Autors: Das Charakteristische für Europa und das Zusammenleben seiner Völker ist auch vor dem Hintergrund seiner Geschichte, seiner Traditionen und den Erfahrungen der zwei verflossenen Jahrtausende zu suchen. Es wäre bitter nötig, "vor dem Hintergrund des europäischen Imperialismus, Kolonialismus und Chauvinismus, des Nationalismus und Stalinismus, größter Kriegsggräuel und Menschenrechtsverletzungen, alle aus dem 19. und 20. Jahrhundert übernommenen politischen und wirtschaftlichen Instrumente und Ideologien Europas auf ihre Zukunftstauglichkeit für das 21. Jahrhundert kritisch zu prüfen."
Eine Aufforderung an den Leser, die Leserin, mit eigenen Gedanken an diesen Fragen zu arbeiten und nicht einer europäischen Bürokratie zu überlassen, wie die Weichen für eine Zukunftsfähigkeit Europas gestellt werden.
Neurohr zitiert den früheren tschechischen Präsidenten und Schriftsteller Wáclav Havel: "Europa muss über die Zweideutigkeit seines Beitrages für die Welt nachdenken. Denn dazu gehören nicht nur die Menschenrechte, sondern auch der Holocaust. Europa muss bescheidener werden und die höhere Ordnung des Weltalls als etwas achten, das über uns hinausgeht. Demut, Freundlichkeit, Respekt vor dem Unverständlichen, Solidarität mit anderen, Achtung des Anderseins und die Bereitschaft zu Opfern und guten Taten sind Werte, die zum Program des sich vereinigenden Europa werden könnten und sollten."
Auch das kann wohl als Beleg gelten für die Forderung nach einer neuen Spiritualität in den politischen Zusammenhängen in Europa.
Regionalisierung statt Zentralisierung
Im dritten Teil schließlich werden Perspektiven aufgezeigt, wie dem ausufernden Brüsseler Bürokratismus etwas entgegengesetzt werden kann. Ein Plädoyer für eine sinnvolle Regionalisierung und Ansätze zur Erreichen einer solchen Regionalisierung. Immer wieder betont der Autor dabei die Notwendigkeit überschaubarer Zusammenhänge, die im Zusammenspiel mit anderen eine Machtbegrenzung der Brüsseler Zentralinstitutionen bewirken könnte: "Zwischen der Zentralisierung politischer Entscheidungsprozesse der EU und den Gestaltungsansprüchen der Mitgliedsstaaten und ihrer Regionen kann und muss als dritter Weg ein neues, von allen akzeptiertes Gleichgewicht auf regionaler Ebene geschaffen werden."
Am Ende weist Wilhelm Neurohr noch umfassend auf nichtstaatliche Organisationen und Institutionen hin, auf zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse und Vereine, die sich engagiert dem drohenden Demokratieverlust und der immer mehr um sich greifenden Politikverdrossenheit widmen. Darunter so selbstbewusste Organisationen wie "Mehr Demokratie e.V." und "LobbyControl".
Dieses Buch aus dem Pforte Verlag, 240 Seiten dick und trotzdem in einem handlichen Format, das im Übrigen auch noch schön gestaltet ist, ist ein spannend geschriebenes und inhaltsreiches Kompendium, in dem die Probleme, aber auch die Lösungsansätze, die sich aus der Beschäftigung mit dem systematischen Abbau von Bürgerrechten ergeben, umfassend und verständlich dargestellt werden.
Deutlich wird herausgearbeitet und als klare Fragestellung formuliert, ob wir tatsächlich "auf dem Weg in einen europäischen Einheitsstaat mit totalitären Zügen" sind.
Es ist eine Aufforderung an den Bürger und an die nichtstaatlichen und nicht kommerziellen Organisationen, dem undurchschaubaren Treiben der nationalen Regierungen und der EU-Bürokratie mit Phantasie und neuen Ideen etwas entgegenzusetzen. Es gehe darum, vor der Europa-Wahl 2009 eine "überfällige europäische Leitbild-Debatte von unten anzustoßen".
Der Autor bleibt mit seinem Buch nicht stehen bei Zustandsbeschreibungen, sondern stellt uns als Leserinnen und Lesern die Frage, was wir als Europäerinnen und Europäer "wirklich wollen" und worin wir als Bürgerinnen und Bürger unseren Entwicklungs- und Kulturauftrag sehen."