ver.di-Regionalkongress Emscher-Lippe 11. Oktober 2003
(Prof. Dr. Maria Mies / Wilhelm Neurohr, Vertreter von attac)
Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,
als wir vor 2-3 Jahren hier in diesem Kreishaus als Personalrat und auch im regionalen verdi-Bezirk erstmalig das Welthandelsabkommen mit dem Kürzel GATS zum Thema machten, ernteten wir zunächst völliges Unverständnis. Was haben wir hier auf der kommunalen Dienstleistungsebene mit der Welthandelsorganisation zu tun, so wurde gefragt?
Und wenn wir von attac in Recklinghausen Aktionen in der Fußgängerzone zum Thema GATS veranstalteten, so konnten wir getrost davon ausgehen, dass die Menschen zu 98% noch nie in ihrem Leben davon gehört hatten.
Als nicht sehr viel informierter erwiesen sich unsere Politiker und Abgeordneten, die wir von Attac vor der Bundstagswahl zum Thema GATS hier auf das Podium gebeten hatten.
Und der Bürgermeister dieser Stadt lehnte es jüngst sogar ab, eine Bürgeranfrage von attac zu den kommunalen Auswirkungen von GATS für Recklinghausen im Rat der Stadt zu behandeln oder eine Einwohnerversammlung einzuberufen, mit der Begründung: Das Thema berühre nicht die Belange dieser Stadt und gehöre nicht in ein Kommunalparlament.
Er berief sich dabei juristisch auf ein Bundesverwaltungsgerichtsurteil von 1958, als es um das Thema der atomwaffenfreien Zone in den Städten ging. Darum erfahren nun weder die Ratsmitglieder noch die Bürgerinnen und Bürger von offizieller Seite etwas darüber, was mit dem GATS-Abkommen ab 2005 auf sie in der Kommune zukommt.
Und auch vom Landrat dieses Kreises ernteten wir hier im Hause nur Spott, als wir in der Mitarbeiterzeitung dieser Kreisverwaltung das Thema GATS schon vor Jahren abhandelten. Die Ahnungslosigkeit und Arglosigkeit der durch das GATS-Abkommen demnächst entmachteten Kommunalpolitiker ist erschreckend – anders als etwa in Süddeutschland, wo die kommunalen Spitzenverbände und die Kommunen längst aufgeschreckt und rührig sind.
Diese Verhaltensweisen sind allerdings nicht verwunderlich, denn die Verhandlungen zu dem weltweiten Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen verliefen bislang unter strengster Geheimhaltung unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Kein Nationalparlament, kein Bundestag, kein Landtag und kein Kommunalparlament wurden dazu formell beteiligt, denn Verhandlungsführer für die europäischen Länder ist der Handelskommissar der EU, Pascal Lamy – und das in einer Angelegenheit, die demnächst unseren Sozialstaat, unsere Demokratie und das öffentliche Gemeinwesen sowie die kommunale Selbstverwaltung in ihrer Substanz unwiderruflich zerstören wird – ein Prozess, der ja durch die finanzielle Aushöhlung der Gemeinden und die längst begonnenen Privatisierungswelle schon eingeleitet worden ist.
Eingriffe in die Kommunalverfassung sind aber nur durch Gesetze möglich, nicht durch eine internationale Handelsorganisation, die dazu demokratisch nicht legitimiert ist.
Deshalb frage ich Sie und Euch im Saal: Kennen Sie inzwischen GATS?
GATS ist das beste Beispiel dafür, wie sich die neoliberale Art der Globalisierung unmittelbar auf die regionale und kommunale Ebene negativ auswirkt.
GATS ist die Abkürzung für das international Abkommen über den ungehinderten Handel mit nahezu sämtlichen Dienstleistungen - ich übersetze es in meinem schlechten Englisch: General Agreement on Trade in Services.
Erstmalig in der Menschheitsgeschichte – zumindest aber seit dem Sklavenhandel – werden zwischenmenschliche Dienstleistungen zur Handelsware nach dem internationalen Handels- und Wettbewerbsrecht erklärt, mit schwerwiegenden Folgen gerade auch für die kommunale Ebene der Selbstverwaltung und für die öffentliche Daseinsvorsorge. Die ganze Erde und der Mensch selber wird damit auch zur Ware, was er auf dem Arbeitsmarkt ohnehin schon ist.
Betroffen von der Liberalisierung des Dienstleistungshandels sind nahezu alle Bereiche, die künftig dem Zwang zur Kommerzialisierung unterworfen werden sollen:
- Das Gesundheitswesen und die Krankenhäuser ,
- die Kinder- und Altenbetreuung,
- das komplette Schulwesen und die Erwachsenenbildung,
- die Kultur mit Museen und Büchereien,
- die Rechtspflege,
- die Energie- und Wasserversorgung,
- die Umweltschutzdienste,
- das öffentliche Sparkassenwesen,
- Tourismus und Verkehrswesen, Postdienste
- Öffentlich-rechtlicher Rundfunk und Fernsehen usw.
Mit der Übernahme der öffentlichen Versorgungseinrichtungen findet in verfassungswidriger Weise eine Enteignung von Staat und Kommune durch die private Wirtschaft statt.
Ausgenommen sind scheinbar die hoheitlichen Aufgaben, aber nur dann, wenn nicht in einem der 149 beteiligten Staaten bereits eine Privatisierung vollzogen wurde.
Eine sogenannte Meistbegünstigungsklausel legt nämlich fest, dass ein Vorteil, der einem Mitgliedsstaat gewährt wird, auch von jedem anderen Mitgliedsstaat gefordert werden kann, und zwar für alle Dienstleistungssektoren.
Das bedeutet zugleich ein Subventionsverbot oder ein Anspruch für kommerzielle Dienstleister, die gleichen öffentlichen Zuschüsse zu erhalten.
Damit ist gleichzeitig eine Einschränkung der regionalen Wirtschaftsförderung und der kommunalen Planungshoheit verbunden, z.B. dürfen Einkaufszentren auf grüner Wiese nicht mehr behindert und heimische Betriebe nicht mehr bevorzugt werden.
Auch örtliche oder nationale Umweltstandards, Sozialstandards oder Tarifstandards dürfen den freien Handel mit Dienstleistungen nicht mehr behindern – also ein Eingriff in das demokratische Selbstverwaltungsrecht und in die Tarifautonomie sowie ein faktisches Sozialstaatsverbot.
Die Kommunalparlamente haben zukünftig im Zuge der Zwangsprivatisierung also nicht mehr selber zu entscheiden, ob sie eine öffentliche Einrichtung aufrechterhalten
oder privatisieren wollen oder nicht, sondern sie haben demnächst gar keine politischen Gestaltungsspielräume mehr und werden entbehrlich.
Da die verarmten Kommunen ohnehin 1,2 Bio. € Schulden haben, und sich deshalb in windige Cross-Border-Leasing-Geschäfte flüchten, während das private Geldvermögen vor allem bei den 775.000 Vermögensmillionären in Deutschland auf 5,8 Bio. € angewachsen ist, befindet sich also das fehlende Geld für die öffentlichen Gemeinschaftsaufgaben in den privaten Taschen einiger weniger infolge der politisch gewollten Umverteilung in der Steueroase Deutschland, in der fast nur noch die Arbeitnehmer zur Kasse gebeten werden.
Mit dem Voranschreiten des virtuellen Rathauses durch kommerzielle Netzbetreiber und beteiligte Privatunternehmen wird obendrein die örtliche Zuständigkeit und Ortsgebundenheit der einzelnen Gemeinde sich im kommerziellen Netzwerk allmählich auflösen und auch hoheitliche Dienstleistungen an auswärtige private Anbieter übergehen.
Mit dem Scheitern der Welthandelskonferenz im mexikanischen Cancun im vorigen Monat sind gottlob weitere Bestrebungen vereitelt worden, mit einem Investitionsabkommens den großen Handelskonzernen das Recht einzuräumen, die souveränen Staaten zu verklagen, wenn sie es wagen, handelshemmende Umwelt- oder Sozialgesetze zu erlassen.
Bei der WTO selber gibt es ein Schiedsgericht als Schlichtungsstelle mit weitreichenden Befugnissen bei Rechtsstreitigkeiten in der Auslegung des GATS-Abkommens, das hinter verschlossenen Türen ohne Anhörung einer Gegenpartei abschließend entscheidet.
Die Wirtschaft will also auch die Rolle des Gesetzgebers und der Parlamente gleich mit übernehmen im Zuge einer Art Wirtschaftsdiktatur oder Diktatur der Märkte.
Dazu ist in der EU-Verfassung schnell noch ein Artikel 212 eingefügt worden, wonach die EU sämtliche Zuständigkeiten für die Handelsliberalisierung erhält und die Nationalparlamente außen vor bleiben. Das GATS-Abkommen erhält damit in Europa quasi Verfassungsrang.
Die Lobby bei der Welthandelsorganisation hat also ganze Arbeit geleistet, denn sie wittert ein Milliardengeschäft:
Allein im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie mit der Trinkwasserversorgung hofft man, 6.5 Billionen Dollar jährlich an den Finanzmärkten weltweit erzielen zu können. Der Handel mit Dienstleistungen ist also der wachstumsträchtigste Markt der Weltwirtschaft und umfasst 1/5 des gesamten Welthandels.
Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, es ist deutlich geworden:
Das GATS-Abkommen ist ein frontaler Angriff auf die Demokratie, auf die Menschenwürde und Solidarität sowie Gemeinnützigkeit. Es bedeutet eine Entmündigung der Bevölkerung und ihrer gewählten politischen Gremien.
Es wäre der Anfang vom Ende der kommunalen Selbstverwaltung mit ihrer sozialen, politischen und kulturellen Funktion.
Da Prinzip der Solidarität auf Gegenseitigkeit würde abgelöst durch das Prinzip der privaten Zahlungsfähigkeit. Der Sozialstaat wird abgeschafft.
Öffentliche Dienste sind ja nach ihrem Selbstverständnis gerade solche Dienstleistungen, die nicht den Marktgesetzen und dem bloßen Profitstreben unterstellt werden dürfen, weil der Zugang zu den lebenswichtigen Gütern allen Menschen offen stehen muss, zur Wahrnehmung ihrer Menschenrechte und Ausübung ihrer Grundrechte.
Die öffentlichen Dienste und das kommunale Gemeinwesen sind soziale Errungenschaften, ohne, die Demokratie nicht möglich ist.
Die öffentlichen Dienste sind Teil der gemeinsamen Werte in der Europäischen Gemeinschaft und Kern unseres Gesellschaftsmodells.
Die von GATS erstrebte Privatisierung in Form der Kommerzialisierung wird die Lebensverhältnisse und die Lebensqualität verschlechtern und die Versorgung der Menschen verteuern. Weitere Sozial- und Kultureinrichtungen werden schließen und ungezählte Arbeitsplätze, insbesondere auch für Frauen, fortfallen.
Deshalb hat attac es sich zum Ziel gesetzt, zusammen mit der übrigen zivilgesellschaftlichen Bewegung, GATS zu verhindern. GATS überschreitet die letzten Grenzen der Globalisierung, nämlich die Gemeindegrenzen, die stattdessen Tore zur Menschlichkeit werden müssen.
Je mehr die Globalisierung voranschreitet mit Gestaltungs- und Funktionsverlust der Nationalstaaten, desto wichtiger wird die kommunale Selbstverwaltungsebene zur Gestaltung der Lebensverhältnisse.
Von Anfang an war diejenige bekannte Persönlichkeit, die nun zu uns sprechen wird, eine profunde Kennerin und deshalb engagierte Gegnerin von GATS und den Machenschaften der WTO, der Welthandelsorganisation, nämlich Maria Mies.
Sie ist Kritikerin und Beobachterin der GATS-Entwicklungen und der globalen Zusammenhänge, seit Jahrzehnten in der zivilgesellschaftlichen Bewegung an vorderster Stelle engagiert sowie viel gelesene Buchautorin und Vortragsrednerin zu diesen Themen. Sie hat das Netzwerk gegen Konzernherrschaft mit gegründet und die bundesweite Arbeitsgemeinschaft gegen den Ausverkauf der Kommunen.
Prof. Dr. Maria Mies wird ihren Blick vor allem auch auf das Thema Frauen und GATS richten. Vielen Dank.