Wilhelm Neurohr

Handels- und Bildungspolitik als Konfliktfelder in der Auseinandersetzung um die Zukunft Europas

Vorbemerkung:

Die Zukunft Europas hängt wesentlich von der sozialen und kulturellen Gestaltungsfähigkeit und damit von der Bildung und Persönlichkeitsentwicklung seiner Menschen ab. Hierbei fördert die kulturelle Vielfalt die Entwicklung des Einzelnen und der Gemeinschaft zugunsten eines zivilisierten Miteinanders. Ein freies, nicht marktwirtschaftlich organisiertes Bildungswesen ist dabei die Voraussetzung für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung und die Fähigkeit zur Selbstgestaltung und sozialen Gemeinschaftsbildung.

Die gegenwärtigen Krisen der EU sind nicht zuletzt auch Folge der Bildungsdefizite etwa im Bereich des Grundwissens über wirtschaftliche Zusammenhänge und das Funktionieren des Geldwesens – bis hinein in die handelnden Eliten oder beratenden Wirtschaftswissenschaftler, deren Wirtschaftskenntnisse durch neoliberale Ideologien geprägt sind..

Und die Spannungen und neuerlichen Spaltungen zwischen West- und Osteuropa (im Zusammenhang mit der Ukraine und Krim) zeugen von mangelnden Kenntnissen und unzureichendem Bewusstsein über die kulturellen Zusammenhänge und Erfordernisse im Zusammenleben der Menschen und Völker. Aber auch von unzureichenden Fähigkeiten für ein friedfertiges Krisen- und Konfliktmanagement. Wirtschaftliche und politische sowie kulturelle Interessenlagen werden vermengt und territorial ausgerichtet.

Deshalb ist es schädlich, wenn der kulturelle Sektor mitsamt dem Bildungswesen fälschlich unter die Vorherrschaft und Abhängigkeit von Politik und Wirtschaft gerät und nach deren Nutzen ideologisch und marktwirtschaftlich gesteuert und beeinflusst wird - anstatt zu begreifen, dass die (von Politik und Wirtschaft unbehelligte) Kultur es ist, die zu sozialen Handlungsweisen und Zukunftsgestaltungen anleitet und befähigt.

Die politische Staatskunst und Demokratie, die Menschenrechte, die Sozialmodelle und die wirtschaftlichen Fähigkeiten und Orientierungen sind aus der Kultur hervorgegangen. Deshalb ist nicht die Kultur für die Wirtschaft da - als gewinnbringendes Vermarktungsprodukt - sondern die Wirtschaft hat die materiellen Grundlagen dienend beizusteuern, damit sich die unabhängigen Menschen kulturell frei entfalten und betätigen können.

Nur dadurch können sie wiederum Politik und Wirtschaftsleben mitsamt Begegnungs- und Arbeitskultur so innovativ befruchten, dass es zu geeigneten wirtschaftlichen und politischen sowie sozialen Problemlösungen in der Krisensituation kommt. Umso problematischer, wenn nunmehr über diverse Freihandelsabkommen die Kultur von der Politik und Wirtschaft „in die Zange genommen“ und dem Marktgeschehen oder neoliberalen politischen Ideologien ausgeliefert wird, in Fortsetzung des „New- Public Managements“.

Dadurch wird die EU nicht im positiven Sinne (einer „Bildungsoffensive“) zu einer „Bildungsunion“, sondern trägt im negativen Sinne zu einem „Ausverkauf“ von Kultur und Bildung auf dem (transatlantischen) Handelsmarkt bei. Es sind Handelskommissare und Handelsbeauftragte, die über solche elementaren Fragen von Kultur, Bildung, Wissenschaft und Hochschulwesen Weichenstellungen in Geheimverhandlungen derzeit vornehmen, von denen die Gesellschaft als Ganzes betroffen ist – ohne Einbezug der Betroffenen. Und sie denken gar nicht daran, den lukrativen kulturellen Sektor aus dem Freihandelsabkommen auszuklammern, wie von den Kulturschaffenden mit Nachdruck gefordert.

Somit wird die Handels- und Bildungspolitik zu einem zentralen Konfliktfeld in der Auseinandersetzung um die Zukunft Europas. Das Freihandelsabkommen ist eine Gefahr für die europäische Kultur, und der Streit darüber ein finaler Kampf um kulturelle Freiheit.

Die gegenwärtige soziale, wirtschaftliche und demokratische Krise in Europa (als Krisenbündel) ist letztlich Ausdruck einer tiefgreifenden kulturellen Krise Europas und seiner Menschen, denn die äußeren Krisen sind stets Ausdruck der inneren Krisen. Ihre Überwindung bedarf eines freien Bildungs- und Kulturwesens, denn nur von dort kann eine „Heilung Europas“ für seine Zukunftsgestaltung ausgehen. (Der Verfasser)

Kultur und Bildung als Handelsware auf den Märkten?

Die Tatsache, dass Kultur und Bildung (als nichtökonomische Gesellschaftsaufgabe und zwischenmenschliche Beziehungsdienstleistung1) überhaupt als „Handelsware“ (auf Scheinmärkten) zum Gegenstand von internationalen Handelsabkommen der EU erklärt werden, ist alarmierend. Denn damit werden sie vollends dem Kommerz geöffnet, zusammen mit anderen öffentlichen und gemeinnützigen Dienstleistungen der Daseinsvorsorge aus dem „Non-Profit-Sektor“.

Konzentrierte sich bisher der Markt auf Dienstleistungen in privater Hand, geht es nun um die Einbeziehung auch staatlicher und öffentlicher Dienstleistungen einschließlich Bildung und Kultur nach ihrem ökonomischen Nutzen. (Schon 2005 gab es im Auftrag der UNESCO-Kommission ein Rechtsgutachten über die problematischen Auswirkungen des GATS-Abkommens auf Instrumente der Kulturpolitik und Kulturförderung in Deutschland)2.

Wenn Bildung und Kultur über diverse Freihandelsabkommen dem Kommerz geöffnet werden, führt dies nicht zu mehr Freiheit, sondern ersetzt staatliche Fremdbestimmung durch wirtschaftliche Profitinteressen3. Inhaltliche und qualitative Anliegen werden durch monetäre Erwartungen ersetzt. Damit werden Abhängigkeiten erzeugt statt die individuellen Freiheiten zu erweitern.

Die Freihandelsabkommen dienen als Druckmittel, die Kommerzialisierung von Bildung und Kultur voranzutreiben, ohne dass ein gesellschaftspolitischer Diskurs über solche klammheimlichen Weichenstellungen öffentlich erwünscht ist. Viele kulturelle Errungenschaften wären unter den Bedingungen eines freien wirtschaftlichen Wettbewerbs nicht entstanden, wenn nur noch Kulturgüter mit ausreichendem wirtschaftlichem Kapital bestehen könnten und alles andere dem Markt geopfert wird.

Finanzierungsfrage der Bildung als Vorwand für die Kommerzialisierung

Auch das öffentliche Schulsystem gerät in die kommerzielle „Privatisierungszange“ mit der „Verbetriebswirtschaftlichung“4 und der Tendenz zur Liberalisierung und Deregulierung auch im Bildungswesen. Bildung ist jedoch ein öffentliches Angebot und kein nachfrageorientiertes Marktprodukt, sondern ein Menschenrecht und hat Anspruch auf solidarische Finanzierung.

Der verstorbene Bertelsmann-Stiftungspatriarch Reinhard Mohn hatte es offen als „Segen“ bezeichnet, dass den öffentlichen Kassen das Geld ausgehe und ein Umdenken in Richtung privatisierter Bildung durch kommerzielle Anbieter stattfinde. Somit wird die Finanzierungsfrage zum Hauptargument (oder Vorwand) für die Kommerzialisierung des kulturellen Bildungssektors.

Ende Februar 2014 verkündete Bertelsmann (als Europas größter Medienkonzern) den massiven Ausbau seines Geschäftes mit der Erwachsenenbildung, um die angepeilte Umsatzmarke von 20 Mrd. € zu erreichen. Bertelsmann wolle sich auf Online-Studiengänge, Dienstleistungen für Hochschulen und auf medizinische Studiengänge konzentrieren, da von USA bis China die Menschen bereit seine, in ihre Bildung und Ausbildung zu investieren. (Dazu ist die Öffnung des TTIP-Freihandelsabkommens für Bildung und Kultur eine wichtige Voraussetzung, nachdem in bisherigen Freihandelsabkommen Bildung weitgehend ausgeklammert war).

Bildung und Kultur gehören nicht in ein Freihandelsabkommen

Doch ohne freien Zugang zu Bildung und Kultur und anderen bezahlbaren Basisdienstleitungen ist die Einhaltung der Menschenrechte gefährdet. Das steht im Widerspruch zur UNESCO-Kulturkonvention und zum Grundverständnis von Kultur und Bildung. Fragen der weltweiten Vernetzung des Schul- und Bildungswesens gehören nicht in ein Handelsabkommen. Ebenso nicht kulturelle Dienstleistungen und Güter, die nicht nur Warencharakter haben. Tangiert sind auch Fragen der Buchpreisbindung, der öffentlichen Filmförderung oder des erniedrigten Mehrwertsteuersatzes für Kulturgüter.

Kulturgüter besitzen einen eigenen (nichtökonomischen) Wert, der sie klar von anderen Handels- und Wirtschaftsgütern unterscheidet. Als Ausdruck kultureller Identität formen sie in herausragendem Maße Wertmaßstäbe und nehmen Einfluss auf andere Bereiche unserer Gesellschaft, insbesondere auf die Bildung. Eine Bewertung von Kultur im Sinne des freien Marktes, also nach Angebot und Nachfrage oder Input und Output sowie Gewinnmaximierung5, ist nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Viele kulturelle Errungenschaften wären unter den Bedingungen eines freien wirtschaftlichen Wettbewerbs am Markt nicht entstanden. Gerade das rohstoffarme Deutschland (und Europa) lebt in erster Linie von kulturellen Erneuerungen, von Kreativität und Entwicklung.

Wenn jedoch kulturell nur noch aufgebaut oder aufrecht erhalten werden kann, was Geld bringt, dann sind alle kulturellen Angebote, von Museen über Theater, Bibliotheken, Rundfunkprogrammen und Musikproduktionen gefährdet, ebenso wie beim Aus für teure Studiengänge oder kleine Fächer. Wenn Bildung als öffentliche Dienstleistung in nichtkommerzieller Trägerschaft entfällt oder verdrängt wird, dann wird die soziale Spaltung in Deutschland und Europa sowie weltweit noch vergrößert.

Kultureller Schutz durch UNESCO-Konvention für kulturelle Vielfalt

Die von der EU, aber nicht von den USA ratifizierte „UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ sieht ein hohes Schutzniveau für den Kultur- und Medienbereich vor, der nicht zugunsten der USA

verringert werden darf. Öffentliche Förderung des Kultursektors darf nicht durch Freihandelsabkommen zur Disposition gestellt werden. Das Freihandelsabkommen greift jedoch nach Kultur und Datenschutz, die sich aber nicht wie Zollgebühren verhandeln lassen.

Es besteht Gefahr für die kulturelle Vielfalt und Qualität, nicht zuletzt auch bei Fernsehen und Filmindustrie oder beim subventionierten öffentlichen Rundfunk. (Der europäische Film könnte z. B. von den millionenschweren Hoollywood-Filmkonzernen einfach überrollt werden). Statt Qualität, Niveau und Vielfalt würde der Fokus zukünftig auf Quoten und Verkaufszahlen liegen.

Hingegen bedarf es vielmehr regionaler Kunst- und Kulturförderung etwa über Regionalstiftungen, desweiteren der Einrichtung von Kulturräten (als nichtstaatliche und nichtkommerzielle Organe), in denen die Kulturschaffenden selber anstelle von Politik und Wirtschaft über die kulturellen Selbstverwaltungs- und Selbstbestimmungsangelegenheiten beraten. Stattdessen sollen auch Kulturgüter auf einem „Scheinmarkt“ einen Kulturhandel von transatlantischen Ausmaßen simulieren, indem man sie zu ökonomisch relevanten Handelsprodukten erklärt und erzwungenermaßen der Marktkonkurrenz unterwirft.

Kulturelle Vielfalt sichern durch Herausnahme aus Freihandelsabkommen

Dieser Streitpunkt hat den deutschen Kulturrat, die Kulturstaatsministerin, die UNESCO-Kommission, den Künstlerbund, den Buchhändlerverband, die Rundfunkräte der öffentlich-rechtlichen Medien und die Gewerkschaften der Kulturschaffenden und der Lehrer u. v. m. auf den Plan gerufen. Sie fordern die vollständige Herausnahme des kulturellen Sektors aus dem Freihandelsabkommen. Dazu ist die EU-Kommission aber nicht bereit, (mit Ausnahme des audiovisuellen Teilsektors der Filmförderung auf Drängen Frankreichs). Schon beim zurückliegenden GATS-Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen votierte die Zivilgesellschaft dagegen, ihre Bildungssysteme dem Markt zu öffnen.

Der kulturelle „Freihandel“ hat mit dem Freiheitsbegriff des freien Geisteslebens und der kulturellen Freiheit nichts gemeinsam. Wünschenswerter geistiger Ideenwettbewerb um die beste Bildungsqualität auf dem kreativen Marktplatz der Ideen wird offenbar verwechselt - mit kommerziellem Wettbewerb beim Bildungshandel auf dem so genannten Bildungsmarkt. So sehr der internationale Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern, von Ideen und Menschen zu befürworten ist, umso ungeeigneter ist dafür als Plattform ein Handelsabkommen oder eine Handelsorganisation.

Während in bereits existierenden Freihandelsabkommen Bildung überwiegend ausgeklammert ist, macht sich bei TTIP eine Lobby zugunsten kommerzieller Bildungsanbieter massiv stark für das Hereinnehmen des Bildungssektors und die Gleichbehandlung von US-Unternehmen mit inländischen (öffentlich geförderten) Bildungseinrichtungen. Ausländische Anbieter dürften hier kommerzielle Privat-Universitäten betreiben, für die sie dann Anspruch auf die gleiche Förderung und Subventionierung wie die Öffentlichen Hochschulen hätten.

Bildung als Menschenrecht nach einem humanistischen Menschenbild

Bildung gilt seit zwei Jahrhunderten als elementares Menschen- und Bürgerrecht - und als Voraussetzung zur persönlichen Entfaltung des Einzelnen im Sinne eines

humanistischen Menschenbildes. Zunehmend wird jedoch im Sinne der neoliberalen Ideologie ein anderer Bildungsbegriff propagiert, nämlich Bildung als Investition, die sich rentieren muss wie bei anderen käuflichen Waren. Dem liegt ein problematisches und sehr beschränktes Menschenbild zugrunde. Der Mensch wird hauptsächlich in seiner Funktion als egoistisches Wirtschaftsubjekt gesehen, das zu funktionieren hat. Damit findet eine Umdeutung der menschlichen Seinsweise und des menschlichen Selbstverständnisses statt, indem die Menschen als Schüler, Studenten oder Kulturteilnehmer zu „Kunden“ oder als Kulturschaffende zu „Produzenten“ umgedeutet werden6.

In den USA ist dieser Bildungsbegriff bereits weit fortgeschritten, so dass schon bei der Geburt der Kinder Sparprogramme angelegt werden mit Einzahlungen für Ausbildungskosten. Später folgen Kredite für das Studium. Für Familien mit geringem Einkommen sind die College-Abschlüsse praktisch unbezahlbar geworden.

Aber auch in Deutschland ist der Anteil der Studierenden aus einkommensschwachen und bildungsfernen Schichten beschämend niedrig. Das Menschenrecht auf freien und gleichberechtigten Zugang zur Bildung wird damit verbaut. Bildung ist jedoch ein Menschenrecht für alle - und keine teuer zu erwerbende Ware nur für Zahlungskräftige. Trotzdem wird die Umgestaltung des Bildungswesens nach marktwirtschaftlichen Kriterien weiter vorangetrieben. Dabei droht das humanistische Bildungsideal unter die Räder zu kommen. Die Privatisierung (der Begriff kommt von privare = rauben) mit Gewinnabsichten ist ein kulturschädlicher Raubzug7. Kultur braucht aber eine solidarische finanzielle Infrastruktur.

Bildung ist keine Ware – aber der kommerzielle Bildungsmarkt boomt

Bildung ist keine Ware wie andere käufliche Produkte, mit deren Vertrieb viel Geld verdient wird. Und die Lernenden oder Studierenden sind keine Kunden oder Konsumenten am so genannten „Bildungsmarkt“. Aber genau das wird mit der Einbeziehung von Bildung und Kultur in die Freihandelsabkommen erstrebt. Denn wenn Bildung und Kultur zur Ware gemacht werden, lässt sich damit Geld verdienen.

Deshalb werden die öffentliche Hand oder anerkannte private Schulträger als Bildungsanbieter (in selbstbestimmter freier Trägerschaft) mit kommerziellen Anbietern auf eine Stufe gestellt, die (auch bei Subventionierungen) gleich zu behandeln sind. Dieser Trend wird von der EU gefördert, die das Bildungswesen auch schon in die EU-Dienstleistungsrichtlinie und in das GATS-Abkommen aufgenommen hatte: Bildung als Handelsware.

Noch ist die Kommerzialisierung des Bildungswesens in Deutschland nicht sehr weit fortgeschritten, obwohl sich private Schul- und Bildungsanbieter wie die angloamerikanisch geprägte Phorms AG in mehreren Städten oder die GISMA Business School in Hannover (vergeblich) versucht haben, mit Schulgründungen am Markt Gewinne zu machen, ebenso wie „educcare“ als kommerzieller Kindergarten-Träger mit gewissem Erfolg. Insgesamt boomt jedoch der kommerzielle Bildungsmarkt, teilweise mit fragwürdigen Anbietern, die eigentlich erst von vertrauenswürdigen Qualitätssicherungs- und Akkreditierungsagenturen bewertet und erfasst werden müssten.

Solange die kommerziellen Bildungsunternehmen dabei autonom sind, bleiben deren kulturellen Einrichtungen am Gängelband wirtschaftlicher Interessen.

Lobbyismus an Schulen mit inhaltlicher und finanzieller Einflussnahme

Längst hat auch der Lobbyismus von Unternehmen und Interessenverbänden in den öffentlichen Schulen und deren Klassenzimmern Einzug gehalten - mit (einseitiger) Einflussnahme auf Unterrichtsinhalte und mit Bereitstellung (kostenloser) Unterrichtsmaterialien einschließlich Schulbüchern, wie eine Dokumentation der zivilgesellschaftlichen Organisation Lobbycontrol nachweist8.

Auch werden Verbands- und Unternehmensvertreter als „Experten“ (etwa von Automobil- und Energie-Unternehmen) in den Unterricht eingeladen, die wohl kaum für umweltfreundliche Mobilität oder Klimaschutz werben, sondern Marketing betreiben. Zugleich gibt es intransparente Finanzierungen von (zweifelhaften) Kooperationen zwischen Schulen und Unternehmen, die finanzielle Abhängigkeiten schaffen.

Noch ist das öffentliche Bildungswesen (einschl. der nichtkommerziellen Privatschulen) in Deutschland qualitativ und quantitativ zu gut ausgebaut. Es bietet daher kaum Lücken und Engpässe, in die ein kommerzieller Anbieter eindringen kann. Aber über Lobbyarbeit wird Meinung und Stimmung in der Bevölkerung und in der Politik beeinflusst, um so Themen in die Schulen zu tragen.

Nicht zuletzt wird das öffentliche Bildungswesen mit seinen vermeintlichen Mängeln schlecht geredet, um mehr Engagement von Unternehmen an Schulen zu propagieren oder sogar angeblich qualitätsverbessernde Ersatzangebote kommerzieller Bildungsanbieter an die Stelle zu setzen. Zwar soll der Staat sich aus der Bestimmung der Bildungsinhalte heraushalten, aber den freien Zugang zur Bildung staatlich gewährleisten. Mit der Tendenz zur Kommerzialisierung wird aber der Zugang behindert.

Bildung wird zum profitablen Exportschlager

Längst entwickelt sich aber allgemein das grundlegend umgestaltete Bildungswesen zu einem profitablen Exportschlager mit der Schaffung eines (künstlichen)„Bildungs- Weltmarktes“. Schon jetzt werden laut OECD ca. 2 Bio. US-Dollar jährlich im Bildungssektor umgesetzt, davon ein Fünftel an private Anbieter von Schulen, Weiterbildungseinrichtungen und privaten Fernlehrgangsinstituten und -hochschulen9. Auch der Markt für Zulassungstests und -verfahren durch kommerzielle Serviceleister expandiert und boomt.

An den internationalen Finanzmärkten erhofft man sich gesteigerte Bildungsausgaben der Bildungsanbieter bis insgesamt 3,5 Billionen Dollar jährlich – und damit hohe Profite für Kapitalanleger. Das setzt voraus, den bisher öffentlich organisierten Bildungsbereich in den privaten Sektor zu holen. International ist der Bildungshandel also schon weit entwickelt. In Australien macht der Verkauf von Hochschulstudiengängen an Studierende aus Südostasien schon den drittgrößten Posten in der Handelsbilanz mit Dienstleistungen aus10.

Deutsche und europäische Hochschulen wollen auf diesem Markt mitspielen und gründen Filialen in Südostasien oder Kairo. Unsere Universitäten richten so genannte Colleges ein, wo ausländische Studierende gegen Gebühren von bis zu 20.000 € betreut werden. Sie gründen privatwirtschaftlich organisierte Weiterbildungsinstitute, zum Beispiel die Business School der Universität Mannheim, die von gestandenen Managern 44.000 € Gebühren im Jahr verlangt. Wegen des lukrativen Geschäftes mit der Ausbildung sind die Hochschulen also durchaus daran interessiert, den Markt für Bildungsdienstleistungen zu öffnen. (Demgegenüber bleiben den Entwicklungsländern kaum Mittel für Hochschulen übrig und sie sind auf Sponsoring angewiesen).

Die deutsche Bundesregierung hat 2008 unter dem Begriff „Außenwissenschaftspolitik“ eine „Strategie zur Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung“ vorgelegt, um „Deutschlands Rolle in der globalen Wissensgesellschaft zu stärken“. Vor allem ging es dabei um eine Bestandsaufnahme der umgesetzten Hochschulreformen von Bund und Ländern mit Blick auf Qualität und „Wettbewerbsfähigkeit des Wissensstandortes Deutschland“, ferner „bilaterale wie multilaterale Kulturbeziehungen durch auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ zu evaluieren. Auch hierbei rückte nicht zuletzt der Wettbewerbsaspekt der konkurrierenden „Wissensstandorte“ in den Fokus.

Sprunghafter Anstieg privater (kommerzieller) Hochschulen in Deutschland

Sprunghaft gestiegen ist seither in Deutschland die Zahl der Privathochschulen und Fachhochschulen von Unternehmen und Firmen oder deren Stiftungen. Insbesondere Großkonzerne wie Siemens, DaimlerChrysler, Volkswagen, Lufthansa etc. haben ihre „corporate universities“ eingerichtet – Weiterbildungseinrichtungen, die ihre Bildungsangebote auf dem internationalen Markt einkaufen11. Insgesamt gibt es in Deutschland - neben den 256 staatlichen und 42 konfessionellen Hochschulen12 und Fachhochschulen - mittlerweile 94 bzw. 110 private Hochschulen und Fachhochschulen sowie 3 Business-Schools13. Jede dritte deutsche Hochschule wird also bereits kommerziell betrieben.

Zwar ist es nicht grundsätzlich verwerflich, wenn berufsorientierte unternehmerische Schulen, Berufsschulen und Hochschulen für den eigenen Nachwuchs und die unternehmerischen Spezialanforderungen unterhalten werden, solange auch diese selbstverwaltet werden durch die an der Unterrichtsgestaltung Beteiligten, also ohne inhaltliche Einflussnahme durch die betreibenden Unternehmen aufgrund ihrer Wirtschafts- und Vermarktungsinteressen. Doch eher ist der umgekehrte Trend feststellbar:

Auch die öffentlichen Hochschulen und Schulen sollen sich nach dem Willen der „Freihändler“ stärker „dem Wettbewerb stellen“, d. h. sich als Anbieter auf einem Markt verhalten. Dazu diente bereits als wichtiger erster Schritt die Einführung von Studiengebühren (die inzwischen teilweise wieder abgesenkt oder vereinzelt abgeschafft wurden und ohnehin nicht kostendeckend waren). Hochschulbildung wurde so zu einer bezahlbaren Ware.

Hochschulbildung wurde nicht mehr als Bürgerrecht gesehen, für dessen Verwirklichung der Staat oder die Gesellschaft (auch finanziell) sorgen. Vielmehr werden die Bildungseinrichtungen dem Generalverdacht ökonomisch inneffizienter Verhaltensweisen ausgesetzt, so dass ihre Aufgaben und Ziele durch fremde Zielsetzungen von außen ersetzt werden und sie einem künstlichen Wettbewerb ausgesetzt werden14.

Zusammenhänge von Bildungschancen und (Bildungs-) Armut

Armut und Bildungsarmut sowie Reichtum und Bildungschancen wurden dadurch noch enger miteinander verkoppelt. Das Prinzip der „gleichen Bildungschancen für alle“ wurde damit verlassen. Ohnehin benachteiligte „bildungsfernen Schichten“ aus „sozial schwachen Bevölkerungsgruppen“ wurde mit kostspieligen Bildungs- und Studiengängen der Zugang zu höherer Bildung noch mehr erschwert.

Bildung wurde zur bloßen Investition in die eigene Arbeitskraft und bekommt dadurch einen anderen Charakter. Rein berufsbezogene Abschlüsse und sinkendes Bildungsniveau sind vielfach die Folge. Die Wissenschaften an den Hochschulen sind vielfach zu bloßen „Brotwissenschaften“ für eine praktische Berufsausübung mit akademischem Hintergrund verkommen. Vergleichbarkeit und „Messbarkeit“ von Bildungsgängen und -abschlüssen sowie von Bildungsinhalten über künstlich inszenierte Wettbewerbe15 sind dafür kennzeichnend.

Mit der zunehmenden Vermarktung von Hochschulbildung droht eine Instrumentalisierung von Lehre und Forschung durch Wirtschaftsinteressen. Damit wird Antisoziales geschaffen, das nicht dem Sozialempfinden der Studierenden und Lehrenden entspricht. Der Mensch als soziales Wesen und das Bildungsniveau mit einer fundamentalen Bildung kommen in so einem Bildungssystem unter die Räder.

Die Kommerzialisierung des Hochschulbereiches bedroht Autonomie

Die Kommerzialisierung des Hochschulbereiches bedroht akademische Werte, nämlich die Freiheit und Unabhängigkeit von Forschung und Lehre. Dazu gehört der freie Austausch von Forschungsergebnissen, das Vertrauen in die Objektivität der Wissenschaft und einen offenen Zugang für alle16. Dem dient auch die Internationalisierung der Universitäten mit offenem und freiem Austausch von Ideen. Lehre und Forschung stehen im Dienst an der Gesellschaft. Sie stellen immer ein Mittel dar, um die Erfahrungen von Studenten zu bereichern und sie zu Weltbürgern werden zu lassen.

Ein kommerzieller Bildungssektor, der sich zuvorderst an wirtschaftlichen Vorgaben und eigenen Zulassungskriterien orientiert, erzwingt, Standardisierung, Normierung und Vergleichbarkeit für den Wettbewerb. Und er behindert auch den gleichberechtigten Zugang zum Hochschulsektor. Die grundlegende Selbstverantwortung der Bildungsinstitutionen für ihren eigene fachlich-sozialen Impuls und Qualitätsanspruch wird ausgehöhlt17. Die Autonomie der Hochschulen ist bedroht.

So sehr die wettbewerbsorientierten Reformen der Hochschule im positiven Sinne nach Selbstreflexion durchaus auch zu mehr Effizienz und Qualität geführt haben, zur Selbstkontrolle ihrer Aktivitäten und zur Rechenschaftslegung gegenüber der Öffentlichkeit, so sehr überwiegen aber die negativen Auswirkungen der Marktorientierung und die eingetretenen Abhängigkeiten durch die Kommerzialisierung. Auch die Autonomie für die interne Qualitätssicherung geht verloren, wenn andere Qualitätsmaßstäbe – die sich als quantitative Maßstäbe entpuppen - von außen aufgedrängt werden.

Aufbegehren der Schüler und Studenten gegen Fremdbestimmung

Es ist schon in Vergessenheit geraten, dass im Jahr 2002 z. B. in NRW über 30.000 Studierende (als neue Schüler- und Studentenbewegung) und in vielen anderen Städten Deutschlands protestierend auf die Straße gingen, um nicht nur gegen die Einführung von Studiengebühren zu demonstrieren. Sondern sie wehrten sich gegen das gesamte Bestreben, „Bildung als Ware“ zu behandeln und Schüler und Studenten als deren Konsumenten ohne Mitbestimmungsrechte zu betrachten. Auch in Großbritannien, Irland, Italien und anderen Ländern gingen Schüler und Studenten europaweit zu Zehntausenden auf die Straße, um zu Massenprotesten gegen die massiven Kürzungen im Hochschulsektor aufzurufen, weil die EU-Länder inzwischen beim Bildungssparen wetteiferten.

Die dadurch eingetretenen Veränderungen erhöhen den Druck auf den Hochschulbereich und verwischen die Grenzen zum wirtschaftlichen und politischen Sektor. Die universitären Einrichtungen sind gezwungen, ihre Einkommensbasis zu verbreitern, etwa durch die Einführung von Studiengebühren, eine stärkere Ausrichtung auf die berufsbezogene Ausbildung sowie die Vermarktung von „Wissensprodukten“18. Indem die Studenten auf die Rolle als Bildungskonsumenten reduziert werden, geht das Lernen mittels Interaktion zwischen Lehrenden und Schülern verloren. Statt kompetenzorientiertes Lernen wird wissensorientiertes Lernen für die wirtschaftliche Verwertung bevorzugt.

Akteure der Wirtschaft greifen in die Universitätsstrukturen ein

Der Anstieg der Studenten ging einher mit einem Anstieg der Interessenvertreter bis hinein in die Mitbestimmungsgremien der Hochschulen. Akteure aus der Wirtschaft greifen tief in die Strukturen der Universitäten ein, indem sie Studienabgänger mit spezialisierten Fähigkeiten fordern, den klassischen Bildungsbegriff teilweise verwerfen und den Nutzen der Universitäten für den Arbeitsmarkt und den wirtschaftlichen Wohlstand definieren. Der historische Kerngehalt der Hochschulbildung droht verloren zu gehen. Individuelle Initiativen der Lehrenden werden eingeschränkt.

Damit ist auch das Überleben akademischer Disziplinen gefährdet, da fast nur noch „marktkonforme Studiengänge“ Anziehungskraft auf Studierende ausüben. Insbesondere in den Naturwissenschaften dominiert die unternehmensfinanzierte und von Firmeninteressen geleitete Forschung. Mit alledem wurden die Hochschulen zwar aus ihrem „Elfenbeinturm“ geholt und mit dem Umfeld vernetzt. Aber müssen diese

Herausforderungen zwingend dazu führen, dass Universitäten stärker wie Unternehmen geführt werden?

Mit der Umstrukturierung (oder unternehmerischen „Unterwanderung“) der Hochschulen wurde nur scheinbar institutionelle Autonomie gewonnen; die staatliche Abhängigkeit wurde durch die wirtschaftliche Abhängigkeit von Markt und Geldgebern ersetzt. Austausch von Studenten und Forschungsergebnissen sind heute bei privater und unternehmensbezogener Forschungsförderung über Forschungsstipendien mit Veröffentlichungssperren für Forschungsergebnisse verbunden.

Hochschulbildung im Dienste des Marktes oder der Allgemeinheit?

Früher stand hingegen die Hochschulbildung und Forschung ausschließlich im Dienst der Öffentlichkeit und Allgemeinheit. Heute erkennt der Markt nur solches Wissen an, das ver- und gekauft werden kann. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Objektivität wissenschaftlicher Forschung ist damit verlorengegangen und wird durch die kritische Frage nach dem jeweiligen Auftraggeber und Geldgeber überlagert.

Die frühere interdisziplinäre Zusammenarbeit der Hochschulen, ihre gepflegte Kooperation und der innovative Austausch sind teilweise einer Konkurrenz untereinander gewichen, auch um (rückläufige) öffentliche Mittel, Studenten und Ressourcen, d. h. Hochschulen konzentrieren sich zunehmend auf Wettbewerb um Studenten, Finanzmittel und Prestige.

Damit entfernen sie sich von ihrem eigentlichen Forschungs- und Bildungsauftrag. Stattdessen wurde der Begriff von der „Wissens-Ökonomie“ als wirtschaftliches Modell geprägt, mit dem die Kommerzialisierung der Hochschulen vorangetrieben wird. (Die EU will sich nach der Lissabon-Strategie als „wichtigsten Wissens-Ökonomie der Welt positionieren).

Solche Aktivitäten untergraben akademische Werte und degradieren akademische Bildung zur handelbaren Dienstleistung im Zuge einer Kommerzialisierungswelle. Auch politisch wird der regionale Standort einer Hochschule oder Fachhochschule zunehmend als wirtschaftlicher Standortfaktor für eine Region betrachtet und die enge Vernetzung zwischen Hochschule und ortsansässiger Wirtschaftsunternehmen bis hinein in die Lehr- und Forschungsinhalte forciert. Welche Auswüchse das annehmen kann, zeigt beispielsweise die zugespitzte Situation in Nordrhein-Westfalen.

Streit um das Hochschulzukunftsgesetz in NRW

Seit Monaten tobt im bevölkerungsstärksten Bundesland Nordrhein-Westfalen mit seiner dichten Hochschullandschaft ein erbitterter Streit um das so genannte „Hochschulzukunftsgesetz“ der rot-grünen Regierung, das aktuell im April 2014 zur Beschlussfassung ansteht. Eigentliches Anliegen des Gesetzentwurfes ist es, bisherige Fehlentwicklungen der marktorientierten Hochschulorientierung - nach dem liberalen Leitbild der „unternehmerischen Hochschule“ (der schwarz-gelben Vorgängerregierung) – zumindest teilweise zu korrigieren.

Insbesondere wird eine Stärkung der demokratischen Selbstverwaltung und mehr Transparenz über Drittmittelförderung (seit umstrittenen Geldgebern für Rüstungsforschung an öffentlichen Hochschulen) angestrebt, nachdem zuvor nebst dem staatli-

chen Einfluss auch die Mitbestimmungsmöglichkeiten innerhalb der Hochschule eingeschränkt wurden19. Der Rektor wurde von einem Primus inter Pares zu einer Art Vorstandsvorsitzenden. Als Aufsichtsräte wurden Hochschulräte installiert, in denen Unternehmensvertreter das Sagen haben und die niemandem verantwortlich sind. Die Mitbestimmung von Studierenden und Lehrkräften wurde beschnitten. An welchen Projekten die Hochschulen forschen, erfährt die Öffentlichkeit erst, wenn diese abgeschlossen sind. Zwischen Land und Hochschulen getroffene Zielvereinbarungen sind weder messbar noch überprüfbar

Diese Transformation der Hochschule zu einem steuerfinanzierten Wirtschaftsunter-nehmen will die jetzige Wissenschaftsministerin aufhalten. Kritiker werfen ihr jedoch vor, dass ihr zu einem konsequenten Richtungswechsel der Mut fehle, denn mit dem abgeschwächten Regierungsentwurf des Gesetzes sei sie „vor den Rektoren und der Wirtschaft eingeknickt“20. Forderungen von Studierenden und Wissenschaftspersonal nach mehr Mitbestimmung und Auflösung der Hochschulräte (überwiegend besetzt mit Wirtschaftsvertretern von außen) blieben folgenlos. Von demokratischer Selbstverwaltung sei nichts übrig geblieben. Geblieben sind Rahmenvorgaben bei Personal und Gebühren.

Von Anfang an bekam die Landesregierung heftigen Gegenwind von den Rektoren mit Unterstützung aus der Wirtschaft. Diese behaupten, es gehe nur noch darum, staatlichen Einfluss mit Planungs- und Durchgriffsrechten zurückzugewinnen, anstatt die Hochschulen „in eine bessere Zukunft zu führen“, (obwohl das Wissenschaftsministerium nicht mehr über sämtliche Angelegenheiten der Hochschule informiert werden möchte). Die Unternehmen haben (unter Berufung auf „Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse“) durchgesetzt, dass die Öffentlichkeit nicht mehr über die Finanzierung von Forschungsprojekten durch Unternehmen informiert werden muss. Änderungen des Gesetzesentwurfes könnten nunmehr noch durch die parlamentarischen Beratungen erfolgen.

Wirtschaft übt maßgeblichen Einfluss auf wissenschaftliche Inhalte aus

Unter der Vorgängerregierung hatten die 37 Hochschulen in NRW weitreichende Freiheiten bekommen, mehr als in der übrigen Republik, und agieren wie selbständige Unternehmen mit Hoheit über Personal und Budget. Das Land übt nur noch die Rechtsaufsicht aus. Nunmehr mobilisieren die Rektoren gegen die geplanten Rahmenvorgaben des Landes und die weitreichenden Veröffentlichungspflichten.

Dagegen stellten sich 300 Professoren auf die Seite der Landesregierung gegen die „allmächtigen“ Rektoren und gegen eine Zementierung ihrer Machtstellung und unternehmerischen Abhängigkeit. Bislang haben jedoch die Rektoren und Wirtschaftsvertreter im Hochschulstreit die bessere Lobby. Sie sind an mehr öffentlichen Ausgaben für Bildung und Forschung etwa über Steuererhöhungen gar nicht interessiert.

Rückendeckung bekommt die Landesministerin lediglich von GEW, Grünen, Attac sowie dem „Arbeitskreis Zivilklausel“ an der Uni Köln. Diese beklagten in einem offenen Brief, dass die Wirtschaft mit ihrer Dominanz in den Hochschulräten und über üppige Drittmittelfinanzierung maßgeblichen Einfluss auf Fragestellungen und wis-

senschaftliche Erkenntnisprozesse nehmen kann. Dieser Streit um die Freiheit und Unabhängigkeit von Forschung und Lehre wird nun überlagert von dem Freihandelsabkommen, dass die weitere Marktöffnung für universitäre Dienstleistungen und Forschungsaktivitäten anstrebt sowie die Vermarktung des Bildungswesens generell.

Die radikale Neuausrichtung des Hochschulsektors

Schon die laufende und weit vorangeschrittene Kommerzialisierung des Hochschulbereiches ist bedenklich. Die Transformation des öffentlichen Bildungswesens in einen auf Profit orientierten Dienstleistungssektor begann schon in den 80-er Jahren in Großbritannien unter Margret Thatcher und breitete sich dann nach Deutschland und ganz Europa aus, (zum Teil nach US-amerikanischem Vorbild)21.

Seitdem erfuhr der Bildungssektor zusammen mit anderen Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge eine radikale Neuausrichtung nach neoliberalem Muster. Die öffentliche Finanzierung der Universitäten wurde drastisch heruntergefahren. Gleichzeitig wurden Studiengebühren eingeführt. Die Studiengebühren für ausländische Studenten wurden drastisch erhöht als kostendeckende Einnahmequelle für die durch massive Kürzungen belasteten Bildungseinrichtungen.

Es begann - nach Vereinheitlichung des Hochschulwesens - die Orientierung an der Marktlage und der Kampf der einzelnen Bildungseinrichtungen um „Marktanteile“ mit dem Ringen um „Kunden“ – teilweise mit ausgefeilten Werbekampagnen und Rekrutierungsbüros in den hauptsächlichen Herkunftsländern der Studierenden.

Die Hochschulen als so genannte „Bildungsanbieter“ wurden gezwungen, sich stärker an Managementkriterien zu orientieren und auch das Vokabular änderte sich. Das Profil der Bildungseinrichtungen sollte stärker vom Markt und den möglichen Gewinnchancen bestimmt werden, die Hochschulen wurden marktförmige Unternehmen mit Studierenden als Kunden und Unternehmen als Geschäftspartnern.

Die Ausbildung sollte vor allem im betriebswirtschaftlichen Sinne effizient sein, die verursachten Kosten für das Studium eines Studenten wurden zu unternehmerischen Stückkosten, die es zu reduzieren gelte. Die Zahl der zahlungskräftigen ausländischen Studenten wurde deshalb vervielfacht zugunsten der Universitätshaushalte; besonders gewinnbringend sind inzwischen Internet-Angebote des Fernstudiums. Das profitorientierte Angebot für ausländische Studierende gilt als großer Exportsektor und ist deshalb jetzt im Fokus der Freihandelsabkommen.

Von Lissabon bis Bologna - Die EU auf dem Wege zur „Bildungsunion“?

Sind wir in der EU nach der Wirtschafts- und Währungsunion und der angestrebten politischen Union auf dem besten Wege zur (marktorientierten) Bildungsunion? (Aber nicht im positiven Sinne einer kulturellen Bildungsoffensive, die für Europa überfällig wäre, sondern im Sinne einer Kommerzialisierung und Vereinheitlichung auf dem sogenannten Bildungsmarkt). Bereits im April 2009 hat eine Forschungsgruppe ein Diskussionspapier vorgelegt: „Die Europäische Union und die Bildungspolitik“22.

Darin wird die Entwicklung einer eigenständigen europäischen Bildungspolitik geschildert (mit vertraglicher Fundierung seit Maastricht) sowie die neuen bildungspolitischen Akzente und Instrumente im Rahmen der neoliberalen Lissabon-Strategie. Eine Umsetzungsbilanz der bildungspolitischen Ziele der EU wird gezogen sowie die neue Generation europäischer Bildungsprogramme und ihre Finanzierung dargestellt. Auch die europäische Kooperation in der Bildungspolitik außerhalb des EU-Rahmens, nämlich durch den 1999 (mit einer programmatischen Erklärung von 29 europäischen Bildungsministern) begonnen Bologna-Prozess wird näher betrachtet.

Als Bologna-Prozess wird eine auf europaweite Harmonisierung von Studiengängen und -abschlüssen sowie auf internationale Mobilität der Studierenden zielende transnationale Hochschulreform bezeichnet, die auf die Schaffung eines einheitlichen Europäischen Hochschulraums gerichtet ist. Die Folge war eine zunehmende Trennung von Forschung und Lehre, die Verschulung der höheren Bildung auf Kosten individueller akademischer Freiheit und Ausreifung, ferner marktorientierte, drittmittelabhängige Hochschulstrukturen unter Vernachlässigung der Grundlagenforschung.

Zum Schluss des Diskussionspapieres werden die Initiatoren einer europäischen Bildungspolitik (aus EU-Kommission, EU-Parlament und EU-Gerichtshof) benannt sowie die einwirkenden Interessenverbände mit ihren Möglichkeiten, die inhaltliche Agenda zu beeinflussen. Auf die indirekte Europäisierung der Bildungspolitik mit der Begrenzung der nationalen Souveränität sowie auf zentrale Rechtsakte im Bereich der EU-Bildungspolitik wird näher eingegangen. Im Anhang finden sich die zahlreichen Bildungsprogramme der Europäischen Union – die somit längst auf dem Weg zu einer Bildungsunion ist.

Wachsender Einfluss der EU-Kommission auf das europäische Bildungswesen

Seit den Anfängen der europäischen Integration haben die EU-Mitgliedsstaaten darauf geachtet, dass Bildungsbefugnisse nur in geringem Umfang auf die EU übertragen werden, die formell lediglich über begrenzte Bildungskompetenzen verfügt23. „Tatsächlich ist die EU allerdings in mannigfaltiger Weise im Bildungssektor tätig geworden. EU-Bildungsprogramme sowie zahlreiche bildungsrelevante Verordnungen, Richtlinien und Urteile wurden erlassen. Hinzu kommen Prozesse wie die Bologna- und die Kopenhagen-Initiative, in denen die EU eine bedeutende Rolle spielt. Die nationalen Bildungssysteme haben zum Teil radikale Umwälzungen erfahren.“24

Der 1999 gestartete Bologna-.Prozess25 als Hochschulreformprozess zur Schaffung eines europäischen Hochschulraumes mit 47 Mitgliedsländern hatte ein stärkeres Zusammenwachsen Europas im Hochschulbereich zum Ziel. Der so genannte „Brüggen-Kopenhagen-Prozess“ war Beginn der Umsetzung der Ziele von Lissabon in der beruflichen Bildung – mit der Entschließung von 2002 zur verstärkten Zusammenarbeit bei der beruflichen Bildung26. Die „Kopenhagener Erklärung“ gilt als wichtige Wegmarke für die Schaffung eines europäischen Bildungsraumes, auch zur Umsetzung der politischen Ziele des EU-Rates von Lissabon, die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, wissensgestützten Wirtschaftsraum zu machen“ – Bildung und Wissenschaft als wirtschaftlicher Wettbewerbsfaktor.

Die fortschreitende Europäisierung des Bildungssystems

Hinzu kamen 2000 die PISA-Studien als international vergleichenden Schulleistungsuntersuchungen der OECD, mit dem Trend zur Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit der Schulsysteme und Lehrinhalte (z. B. Verkürzung der Schulzeit mit G-8-Abitur nach der 12. Jahrgangsstufe etc.). An Zielsetzung, Methodik und Interpretation der PISA-Studien als „Länderwettkampf“ entzündet sich bis heute heftige Kritik, mit Zweifeln an der interkulturellen Vergleichbarkeit27. Auch kehren immer mehr Schulen und Bundesländer zum G-9-Abitur mit 13 Schuljahren zurück.

Die Europäisierung des Bildungssystems ist nicht allein auf rechtlichem, sondern auch auf politischem Wege schrittweise erfolgt. „Die EU-Mitgliedsstaaten haben freiwillig, unter Führung der EU, eine Europäisierung der nationalen Bildungssysteme in Gang gesetzt, die zu den EU-Bildungskompetenzen hinzutritt28.“ Die Bildungskompetenzen der EU ergeben sich gem. Art. 165 und 166 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), wonach die EU die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten unterstützt und ergänzt, unter strikter Beachtung ihrer Verantwortung für die Gestaltung der Bildungssysteme.

Vereinheitlichung der Bildungssysteme über EU-Recht und Förderprogramme

Zwecks Einflussnahme auf die Gestaltung des Bildungssystems erlässt die EU insbesondere Fördermaßnahmen in Form von EU-Programmen. Die bekanntesten sind das EU-Bildungsprogramm für lebenslanges Lernen (von 2007 bis 2013), abgelöst 2014 durch Erasmus für Hochschulbildung mit drei „Leitaktionen“29: Mobilität von Individuen (Austausch von Studierenden und Hochschulpersonal), Kooperations- und Partnerschaftsprojekte sowie Unterstützung politischer Reformprozesse zur Erreichung der „Europa-2020-Strategie“ zur Flexibilisierung, Transparenz und Verzahnung unterschiedlicher Bildungssektoren, aber auch für „Effektivitäts- und Effizienzsteigerung“ durch bildungspolitische Reformprozesse.

Weitere EU-Programme sind Leonardi da Vinci30 (berufliche Bildung unter Einbezug von Unternehmen, Berufsverbänden und Kammern), Comenius31(schulische Bildung) und Grundtvig32(Erwachsenenbildung), die unter dem Dach des erwähnten Programms für lebenslanges Lernen vereint sind. Mit einem Budget von fast 7 Mrd. € fördert es insbesondere Austausch- und Netzaktivitäten. Die Programme sind so angelegt, dass sie zwar zunächst nicht zu einer Harmonisierung nationaler Normen führen.

Zu den direkten treten allerdings indirekte EU-Bildungskompetenzen hinzu. Denn auch Rechtsakte in anderen Bereichen wirken sich auf das Bildungswesen aus. Insbesondere die Grundfreiheiten, wie etwa die Arbeitnehmerfreizügigkeit, haben sich als wahre Fundgrube für indirekte EU-Bildungsmaßnahmen erwiesen33. Beispielhaft seien die Richtlinien zur Anerkennung von Berufsqualifikationen oder die EuGH- Urteile zum Universitätszugang und zur Ausbildungsförderung genannt. Da diese Rechtsakte auf Kompetenznormen beruhen, die Harmonisierungen erlauben, ist es auf diesem indirekten Wege bereits zu gewissen Vereinheitlichungen der Bildungssysteme gekommen.

Kompetenzkonflikte und Koordinierungspraxis Europäischer Bildungspolitik

Formell gehört die Bildungspolitik zu denjenigen Politikbereichen, bei denen die Entscheidungskompetenz eindeutig bei den Mitgliedsstaaten liegt und die EU lediglich in ergänzender Zuständigkeit eine Koordinierungs- und Unterstützungsfunktion übernimmt34. Die EU leistet demnach „einen Beitrag zu einer qualitativ hochstehenden allgemeinen und beruflichen Bildung“35. Zugleich verpflichtet sie sich, „die Verantwortung der Mitgliedsstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems“ strikt zu beachten36.

Trotz dieser begrenzten bildungspolitischen Zuständigkeiten der EU hat sich bereits seit den 1960er und zunehmend seit den 1990er Jahren die Bildungspolitik zu einem besonderen Feld europäischer Politik entwickelt. Lange Zeit konzentrierte sie sich auf bildungspolitische Aktionsprogramme. Erst in den letzten 15 Jahren entwickelte sie eigene bildungspolitische Ziele mit rechtlichen Festsetzungen, mit der Tendenz zu einer an rein ökonomischen Kriterien orientierten Bildungspolitik sowie zur Harmonisierung und Zentralisierung nationaler Bildungssysteme. Die stieß auf Skepsis, Kritik und Abschirmung der nationalen Bildungspolitik gegenüber europäischer Einflussnahme.

Wegen der engen Wechselwirkung der querschnittsorientierten Bildungspolitik und ihrer Berührungspunkte zu anderen Politikbereichen – wie Forschungs- und Technologiepolitik, Ausbildungsförderung und Jugendpolitik sowie Sozial- und Beschäftigungspolitik – entstehen Koordinierungsbedarf und Kompetenzkonflikte (auch bei der Finanzierung z. B. mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds). Obwohl Bildung und Wissenschaft also in nationalstaatlicher Verantwortung liegen, wächst somit der Einfluss der Europäischen Kommission auf das europäische Bildungswesen.

Schleichende Vereinheitlichung des Bildungswesens über EU-Koordinierung

Eine Europäisierung sowie Vereinheitlichung und Ökonomisierung des europäischen Bildungswesens geht vor allem auf intransparentem Weg vonstatten, nämlich durch die „offene Methode der Koordinierung“ (OMK), die der Europäische Rat von Lissabon im Jahr 2000 einführte (zur Umsetzung der neoliberalen „Lissabon-Strategie“). Dabei handelt es sich um ein vertraglich nicht vorgesehenes Koordinierungsinstrument (u. a. mit mehreren Hundert Seiten umfassenden „Kommissionsberichten“ mit Vergleichen und Rankings zwischen den Mitgliedsstaaten), das mit einer starken Leitungsfunktion der EU-Organe gekoppelt ist. Konzipiert ist sie für eine „intergouvernementale Zusammenarbeit“ in Bereichen, die zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fallen, für die aber ein „europäischer Handlungsbedarf“ besteht37.

„Die Koordinierung der Bildungssysteme erfolgt dabei in vier Schritten: Als erstes werden Leitlinien festgelegt (z. B. Erhöhung der Qualität und Wirksamkeit der Bildungssysteme in der EU). Es folgt als zweites die Verabschiedung von Indikatoren (z. B. Anteil der Schulabbrecher) und Benchmarks (z.B. Senkung des Anteils der Schulabbrecher bis 2010 auf einen EU-Durchschnitt von höchstens 10%). Der dritte Schritt besteht in der Umsetzung der europäischen Vorgaben auf nationaler Ebene. Die Mitgliedsstaaten sind dabei in der Wahl ihrer Mittel frei. Der vierte und letzte Schritt ist die Überwachung, Bewertung und gegenseitige Prüfung. Zu diesem Zweck legen die Mitgliedsstaaten jedes Jahr Berichte vor.“38 Aus den daraus zusammengestellten Kommissionsberichten mit Rankings müssen die Mitglieder Rechenschaft ablegen, ob sie den EU-Empfehlungen gefolgt sind. Die EU-Kommission strebt eine immer engmaschigere Koordinierung des Bildungswesens an.

In allen Prozessen (OMK, Bologna- und Kopenhagen-Prozess) spielt die EU- Kommission eine bedeutende Rolle und ist auch Vollmitglied im Bologna-Prozess. Sie ist in allen Vor- und Nachbereitungsprozessen eingebunden und übt einen starken Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung der Themen aus. Teilweise wird sie als treibende Kraft bei der Einrichtung eines einheitlichen europäischen Hochschulraumes akzeptiert und ist maßgebend bei der freiwilligen Vereinheitlichung der Bildungssysteme (nicht nur der 28 EU-Mitgliedsstaaten, sondern der insgesamt fast 50 beteiligten Staaten Europas). Auf teils intransparente Weise hat dieser (außervertragliche) Einfluss der EU-Kommission zu einer radikalen Vereinheitlichung der Bildungssysteme, insbesondere des Hochschulwesens nach einem ökonomischen Ansatz geführt. Hierbei wird so getan, als sei etwa der Bologna-Prozess eine verbindliche Maßnahme der EU.

Die EU als „wissensbasierter Wirtschaftsraum“ für Markt und Wettbewerb

„Die EU sieht das Bildungswesen primär als Instrument an, um Europa zu einem „wissensbasierten Wirtschaftsraum“ zu machen. Bildung, verstanden als Sachwissen, soll zum wirtschaftlichen Erfolg und zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der EU beitragen. Ziel ist die Bereitstellung qualifizierter Arbeitsplätze für die Wirtschaft. Darüber hinausgehende Aspekte, wie die Persönlichkeitsformung, der Erkenntnisgewinn, der Wissensdurst, die Toleranz und die Fähigkeit zu kritischem, konstruktiven Denken werden, wenn überhaupt, nur in Ansätzen berücksichtigt. Die Bildung ist ökonomisiert worden.“39

Die ökonomische Grundhaltung der EU vornehmlich als Wirtschafts- und Währungsunion und Fiskalunion mit der geltenden Kompetenzverteilung weist der EU eine umfassende Wirtschaftskompetenz zu, aber keine wirklichen Bildungskompetenzen. Von daher erfasst sie nur die wirtschaftlich relevanten Komponenten der Bildung, übt aber gleichwohl (ohne rechtliche Zuständigkeit) einen erheblichen Einfluss auf die Koordinierung und Vereinheitlichung der Bildungssysteme fast aller europäischen Staaten aus – bis hin zur Vermarktung und zum Ausverkauf von Kultur und Bildung im Rahmen des Freihandelsabkommens TTIP?

„Jede öffentliche Schule soll eng mit einem Unternehmen verbunden werden“

Woher resultiert das Interesse der Märkte am Erziehungs- und Bildungsbereich? Kapitalanlagefirmen sagen voraus, dass das Erziehungssystem innerhalb der nächsten Jahre global privatisiert werden wird, genauso wie bereits das Gesundheitswesen. Denn dort sind die höchsten Wachstumsraten zu erwarten, mit den eingangs bereits erwähnten Investitionen von global über 2 Bio. Dollar jährlich. Damit sind unermessliche Gewinnerwartungen verbunden. Deshalb wollen die EU und die USA den Bildungsbereich keinesfalls aus den Regulierungen des Freihandelsabkommens TTIP herausnehmen.

Die WTO-Dienstleistungsabteilung hat bereits eine Privatgesellschaft namens „Global-Allianz für transnationale Erziehung“ beauftragt, die weltweit Praktiken dokumentieren soll, welche ausländische Erziehungs-Provider benachteiligen. Die Ergebnisse dieser Studie sollen dazu benutzt werden, um die Länder, die demnächst noch einen öffentlichen Bildungs- und Erziehungssektor aufrecht erhalten, unter Druck zu setzen, damit sie ihn dem Weltmarkt überlassen. Und die EU hat bereits angekündigt, dass jede öffentlich betriebene Schule in Europa bis zum Ende des Jahrzehnts eng mit einem Unternehmen verbunden werden soll40. Damit sind nicht bloße Betriebspraktika für Schüler gemeint, sondern eine enge finanzielle und inhaltliche Verbundenheit zwischen Schule und verbundenem Unternehmen mitsamt Marketing. (Ob es dann noch Freiräume für unabhängige Reformschulen und Reformpädagogik gibt, oder sich stattdessen der Trend zur Normierung und Vereinheitlichung fortsetzt, wie an den Staatsschulen begonnen?)

Ausländische Bildungs- und Erziehungsunternehmen sollen das Recht bekommen, sich in jedem Land niederzulassen. Deshalb soll das Bildungs- und Erziehungswesen so dereguliert werden, dass Hindernisse für den Dienstleistungshandel im Bildungssektor beseitigt werden. Auch die Befugnis, akademische Grade zu verleihen, wird an künftige Bildungsunternehmen aus dem Ausland vergeben. Das öffentliche Bildungswesen wird als teuer und ineffizient schlecht geredet, um die Privatisierung, d. h. Kommerzialisierung als Qualitätsverbesserung durch mehr Wettbewerb zu legitimieren.

Medienpolitik: Rundfunk als wirtschaftliche Dienstleistung in EU-Zuständigkeit

Was im Bildungs- und Hochschulwesen schon länger im Gange ist, setzt sich auch in der übrigen Kulturpolitik sowie insbesondere in der Medienpolitik fort. Laut Beschluss des EuGH handelt es sich beim Rundfunk um eine Dienstleistung, so dass er in den Zuständigkeitsbereich der Kommission fällt. Damit wurde das vorwiegend kulturell und integrationsfördernd wirksame Medium als wirtschaftlich geprägt betrachtet und der Wettbewerbs- und Wirtschaftspolitik untergeordnet41. Mit dem Auftreten von privaten Rundfunkanbietern und Privatsendern leitete die EU-Kommission weitere Legitimation ihres Eingreifens ab, da es sich ohne Zweifel um Wirtschaftsunternehmen handelt.

Später kam neben den regelnden auch noch fördernde Tätigkeiten der EU hinzu (vor allem Quotenregelungen für europäische Produktionen und die MEDIA-Programme). Damit wurde darauf abgezielt, einerseits „die europäische Kultur zu stärken“, andererseits die Stellung des europäischen audiovisuellen Sektors im Vergleich zum amerikanischen zu fördern – obwohl die Kultur eigentlich nicht im Kompetenzbereich der EU liegt. Auch beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk konnte die EU-Kommission an Einfluss gegenüber den Nationalstaaten gewinnen. Seitdem herrscht ein Konflikt zwischen Gemeinwohlorientierung versus Kommerzialisierung und Freiheit der Marktkräfte. Das Europaparlament kümmert sich dagegen um die identitätsstiftende Seite der Medienpolitik42.

Laut Grundgesetz liegt aber die Kultur- und Medienhoheit in der Bundesrepublik bei den Bundesländern, die ihre Leitlinien der Medien- und Kulturpolitik festlegen. Auch der Lissabon-Vertrag (und sogar die GATS-Regelungen) garantieren die kulturelle Autonomie der Nationalstaaten. Die EU setzt sich darüber hinweg und greift also in die nationale Mediengesetzgebung ein, weil man mit Satelliten-TV (in den achtziger Jahren) auch über Ländergrenzen hinweg senden könne, der Rundfunk eine Dienstleistung sei und die EU eine Wirtschaftsgemeinschaft mit gemeinsamem Binnenmarkt ist. Außerdem müsse man international wettbewerbsfähig sein und den fragmentierten europäischen Markt vereinheitlichen mit dem Ziel, europäische Identität über Medien zu stärken.

National organisierte Medien würden die europäische Integration behindern, so hieß es in einem 1982 vorgelegten Bericht. Mit der Europäischen Rundfunkunion (EBU) - ein internationale Interessenverband vor allem der öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter in den Bereichen Programm, Recht und Technik – gibt es einen Mitgestalter und Dienstleiter europäischer Medienpolitik (einschl. Programmaustausch über „Eurovision“).

Kulturelle Kompetenzerweiterung der EU im Medienbereich und -recht

Der Versuch zur Einrichtung einer europäischen Fernsehproduktionsanstalt (Europa TV) mit dem Konzept eines integrativen TV-Programms scheiterte. 1984 legte die Kommission ein „Grünbuch über die Errichtung des gemeinsamen Marktes für den Rundfunk“ (insbesondere über Satellit und Kabel) vor. Ende der 1980er Jahre beschloss der Ministerrat eine einheitliche technische Produktionsnorm für das hoch aufgelöste Fernsehen, und 1989 legte der Europarat ein „Europäisches Übereinkommen über das grenzüberschreitende Fernsehen“ vor. Beides mündete 1989 in der „Richtlinie des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten durch Ausübung der Fernsehtätigkeit“ (Fernsehen ohne Grenzen) ein.

„Schon hierbei lag keine rein kulturelle Betrachtung mehr zugrunde, sondern die Idee zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes, vor allem weil die kulturelle Kompetenz allein bei den Nationalstaaten lag und man darauf keinen Einfluss nehmen konnte.“43 Seit 1990 erfolgte dann die Förderung der europäischen audiovisuellen Industrie durch verscheide MEDIA-Programme der EU. 1992 wurden schließlich mit dem Vertrag von Maastricht die Kompetenzen der EU im kulturellen Bereich erweitert und 1993 auf die audiovisuellen Medien ausgedehnt; auch wurde der Urheberrechtsschutz in der EU harmonisiert.

Es folgten bis 2005 weitere Richtlinien etc. zu Fragen der Informationsgesellschaft, des Fernsehens über Computer und Internet, ein Zusatzprotokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Vertrag von Amsterdam sowie eine erneute Überarbeitung der Fernsehrichtlinie durch die Kommission. Seit dem Vertrag von Maastricht wird die EU als Tempelbau mit drei Säulen dargestellt. Zur ersten Säule (europäische Gemeinschaften) gehört neben dem Binnenmarkt und der Handelspolitik auch der Bereich Bildung und Kultur sowie Forschung, begleitet vom Fachausschuss für Bildung, Kultur und Wissenschaft. Für die Medienpolitik ist die Generaldirektion Bildung, Kultur und kulturelles Erbe, Jugend und Sport zuständig. Mit dem Förderprogramm „Eurimages“ für europäische Filmproduktionen liefert der Europarat auch finanzielle Unterstützung für die Filmindustrie.

Streit um TTIP als finaler Entscheidungskampf um kulturelle Freiheit

Was sich über Jahrzehnte in der Europäischen Union im Sektor von Kultur, Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie Medien angebahnt und vorbereitet hat, würde mit dem Freihandelsabkommen TTIP zwischen EU und USA seine unumkehrbare Vollendung erlangen. Nämlich die Unterordnung von Bildung und Kultur unter die Interessen der Wirtschaft und der (neoliberalen) politischen Ideologie zu Lasten der kulturellen Freiheit und Unabhängigkeit. Um nicht mehr und nicht weniger geht es unter anderem bei den heftigen Auseinandersetzungen über das umstrittene Abkommen.

Bewusst oder unbewusst haben das viele Beteiligte erkannt oder erspürt, die aber formell an den Verhandlungen nicht beteiligt werden. Es bahnt sich so etwas wie ein „finaler Entscheidungskampf“ oder Kulturkampf um die kulturelle Freiheit in Europa an. Hierbei ist der große Bereich kultureller öffentlicher Dienstleistungen und Einrichtungen der kommunalen Ebene noch gar nicht erwähnt, von öffentlichen Bibliotheken über Volkshochschulen, Museen, Musikschulen, Theatern, Opernhäusern und Orchestern usw. Auch hier verlangt TTIP Gleichbehandlung z B. bei Subventionierungen für auswärtige und kommerzielle Anbieter, um diese nicht zu „diskriminieren“.

Bislang gab einen europäischen Grundkonsens, Kulturgüter nicht allein dem geschehen des Marktes zu unterwerfen. Der Deutsche Kulturrat macht deshalb (mit Unterstützung der deutschen Kulturstaatsministerin) deutlich, dass sich Kulturgüter prinzipiell von anderen Wirtschaftsgütern unterscheiden, da sie die Bildung und die gesellschaftlichen Wertmaßstäbe bestimmen. Er verlangt die Rücksichtnahme auf die UNESCO-Abkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Bewährte Instrumente der Kulturförderung dürften deshalb nicht auf dem Altar des Freihandels der Liberalisierungslogik geopfert werden. Das war auch gemeinsames Anliegen der Bildungs- und Kulturminister von 14 EU-Staaten auf einer Ratstagung zu Bildung, Kultur, Jugend und Sport am16. und 17. Mai 2013.

Der DGB und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di fordern deshalb ebenfalls die komplette Herausnahme von Bildung und Kultur aus dem Freihandelsabkommen TTIP, ebenso die SPD-Bundestagsfraktion (auch in Bezug auf audiovisuellen Medien einschließlich Online-Dienste), soweit über GATS hinausgehend. Die Eigenständigkeit des Kultur- und Mediensektors sowie der Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen sollen gewahrt bleiben. Und auch audiovisuelle Dienstleistungen spiegeln die kulturelle Identität eines jeden Mitgliedslandes wieder. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen, die kommunalen Interessenverbände wie der Deutsche Städtetag, ferner der Börsenverein des Buchhandels, der deutsche Künstlerbund, der Deutsche Designertag sowie die Oppositionsparteien (Grüne und Linke) u. v. m. fordern unisono die Herausnahme von Kultur und Bildung aus TTIP, auch aus Sorge um die kulturelle Zukunft Europas.

Keine Zukunft Europas ohne Sicherung der kulturellen Vielfalt

Die Wirtschaft ist in Europa (wie in den USA) zur vorherrschenden Sphäre des ganzen menschlichen Lebens geworden. Sie hat eigentlich eine dienende Funktion für das geistig-kulturelle Leben der Menschen und nicht umgekehrt. Denn erst dann profitiert die Wirtschaft von den kulturellen Errungenschaften. (Die Ökonomie der Zukunft lebt von der Kultur, die in der Gegenwart von Schenkungsgeld getragen wird). Auch Schulen und Hochschulen sollen fälschlich immer mehr den Zwecken der Wirtschaft dienen. Die Verengung des gesellschaftlichen oder öffentlichen Lebens auf das Politische, und dieses wiederum allein beherrscht von wirtschaftlichen Fragen und Interessen, verdeckt und beengt das kulturelle Leben in seiner Vielfalt, in dem sich das eigentliche Menschsein abspielt.

Dabei bildet das Wirtschaftsleben, das kein Selbstzweck ist, nur die materielle Grundlage, um das eigentliche Menschsein kulturell entfalten zu können. Dieses Verständnis des Menschseins und des Entwicklungsgedankens zur Menschwerdung, ist auf dem europäischen Kontinent der Menschenrechte weitgehend aus dem Bewusstsein verdrängt worden durch den „Terror der Ökonomie“. Deshalb kann die EU als Wirtschafts- und Währungsunion (mit ihren 28 Mitgliedsstaaten und 18 Euro- Ländern) nicht mit dem viel größeren kulturellen Europa und seinen 50 Staaten einfach gleichgesetzt werden.

Im ideellen Sinne ist Europa nicht nur ein geografischer Ort, sondern eine kulturelle Idee: „Wo das Geistige beginnt, hört das Politische auf.“ (Frei nach Friedrich Schiller). Oder um Theodor Heuss zu zitieren: „Mit Politik kann man keine Kultur machen, wohl aber mit Kultur Politik.“ Die Frage nach Europa und seiner Zukunft ist deshalb primär eine Frage nach der Vielfalt seines geistig-kulturellen Lebens. In einem vereinten Europa kommt es darauf an, die Regionen durch Kultur zusammenzuhalten, nicht die Nationen oder Nationalstaaten. Dem als „Vater der europäischen Integrationsidee“ geltenden Franzosen Jean Monnet (stellv. Generalsekretär des Völkerbundes) wird die Aussage zugeschreiben: „Wenn ich das Ganze der europäischen Einigung noch einmal zu machen hätte, würde ich nicht bei der Wirtschaft anfangen, sondern bei der Kultur“.

Europäische Identität über ein gemeinsames Bild von der Zukunft Europas

Europäische Identität entsteht nicht aus Vergangenem oder historisch Gewachsenem, sondern ist tägliche Aufgabe für alle Beteiligten in modernen Gesellschaften (nach ihrem inneren Wesenskern), indem sie über gemeinsame Zielfindungen und Zielvereinbarungen und in institutioneller Eigenverantwortung ein Bild von der Zukunft Europas entwerfen. Dies kann nur aus der kulturellen und interkulturellen Zusammenarbeit an den gemeinsamen Aufgaben gelingen. Mit Blick auf den Zustand Europas und seines (staatlich und wirtschaftlich vereinnahmten) Bildungs- und Kulturlebens stellt sich die Frage: Was wollen wir stattdessen?

Sosehr grenzüberschreitender Wirtschaftshandel oder Freihandel die Menschen (brüderlich) und friedensstiftend verbinden kann, sosehr kann es die Menschen entzweien bei ausuferndem und übervorteilendem Konkurrenzkampf in Verbindung mit politischen Machtinteressen. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse ist die Vorgehensweise und Zielrichtung des umstrittenen Freihandelsabkommens TTIP kritisch zu hinterfragen. Wem dient TTIP und wo richtet es unübersehbaren (kulturellen, politischen und wirtschaftlichen) Schaden an, etwa auch durch kulturelle Nivellierung und Gängelung?

Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen steht über Wirtschaftsegoismus

Vom Egoismus geprägte Rechts- und Wirtschaftsverhältnisse zugunsten der jeweils Stärkeren können nicht Ziel einer Europäischen Integration sein. Die drei „W“ – Währung, Wohlstand, Wettbewerb – können nicht das eigentlich beherrschende Motiv der Europapolitik für die „Einigung Europas“ bleiben. Politik und Recht in Europa haben den Rahmen zu bilden nicht nur für die freie Entfaltung der Wirtschaft und des Handels auf deregulierten Märkten, sondern vor allem auch für die freie geistig-kulturelle Entwicklung der einzelnen Menschen. Die in Europa entwickelten individuellen Menschenrechte geben hierfür den Rahmen vor zur Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen. (Und dieses Selbstbestimmungsrecht darf nicht nur ins Private abgedrängt werden, sondern muss auch im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben gelten).

Zur Verwirklichung der individuellen Menschenrechte gehört der freie Zugang zur Kultur und Bildung, zu sozialen Dienstleistungen, zu Energie und Wasser usw. Diese dürfen nicht durch Handelsmandate und -abkommen beschnitten werden. Die europäische Gemeinschaft steht nicht über dem einzelnen Menschen, sondern hat dem Individuum den kulturellen Entwicklungsboden zu bieten, damit er seinen gemeinschaftsfördernden Beitrag leisten kann.

Die supranationale staatliche Ordnung der EU ist nicht Selbstzweck, sondern dient der Freiheit des Einzelnen (und nicht der Freiheit der Märkte).Die Nationalstaaten und die EU greifen jedoch inhaltlich in die freie kulturelle oder wirtschaftliche Lebensgestaltung der Bürger ein, statt sie zu ermöglichen oder zu garantieren.

Gegen kulturellen Niedergang: Betroffene zu Beteiligten machen

Die politischen und wirtschaftlichen Eliten haben nicht ihre eigenen Interessen zu vertreten, sondern diejenigen des Recht und Freiheit suchenden Bürgers. Die Adressaten der Gesetze und Abkommen, auch der Handelsabkommen, müssen deshalb zugleich ihre Verfasser sein: Betroffene zu Beteiligten machen (und nicht Beteiligte zu Betroffenen). Kein Mensch darf zum bloßen Objekt der (demokratischen) Staatsmacht oder anonymen Wirtschafts- und Marktmacht werden. Die moderne (neoliberale) Wirtschaft trägt sonst zum Verfall geistiger Werte bei und führt einen allgemeinen kulturellen Niedergang herbei. Der Bedrohung der individuellen Freiheitsrechte durch Unterordnung des Verhaltens des Einzelnen unter das Diktat der Wirtschaft ist deshalb energisch entgegenzutreten.

Es wäre eine unheimliche Anmaßung der Eliten, wenn sie die Lebensgestaltung der übrigen gleichberechtigten Mitbürger einheitlich regeln wollte, wie es in der EU tendenziell das anhaltende Bestreben ist. Eine als Wirtschaftsgemeinschaft gegründete Staaten-Union mit eigenen politischen Strukturen, die für die Bürger undurchschaubar sind, behindert eine europäische Kulturgemeinschaft. Das kann keine Vision für die Zukunft Europas sein.

Bestehende Ansätze für eine europäische Bildungs- und Begegnungskultur

Neben ersten Europa-Universitäten (z. B. Viadrina im deutsch-polnischen Grenzraum oder Flensburg) gibt es bereits viele „Europa-Schulen“ mit einem Bundesnetzwerk. Es gibt überdies zahlreiche Einrichtungen zum europäischen Jugendaustausch, ferner viele Zentren, Institute, Agenturen und Gesellschaften für europäische Bildung, außerdem Stiftungen für europäische Kultur und Bildung, europäische Bündnisse für Bildung und Wissenschaft sowie zivilgesellschaftliche Netzwerke als europäische Bewegung. Auch die europaweite (und weltweite) Waldorfschulbewegung mit ca. 700 Waldorfschulen und über 147.000 Schülern in Europa hält dreimal jährlich Europa-Konferenzen ab und hat einen Europäischen Rat zur Vernetzung der 26 nationalen Waldorfschulverbände in Europa gebildet.

Dieser bunte Szene als Mix aus privaten, staatlichen, kommerziellen oder gemischten Initiativen (mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Interessen) hält ein breites Spektrum an Infrastruktur vor, um den Europagedanken und die interkulturelle Zusammenarbeit (sowie die Sprachkompetenzen und das Kulturverständnis ) zu fördern. Auch geht es um den Austausch von Menschen und Ideen, um den Aufenthalt und Praktika in verschiedenen europäischen Regionen, um berufsorientierte Projekte ebenso wie um gegenseitige Anerkennung von Bildungsabschlüssen usw. , aber auch um kulturgeschichtliches gegenseitiges Verständnis.

Die soziale und kulturelle Bedeutung dieser Einrichtungen sollte nicht unterschätzt werden - auch wenn sie teilweise von kommerziellen und staatlichen Institutionen und Interessen geleitet und nicht alle unabhängig sind, oder mit dem Ziel der finanziellen Partizipation an vorgegebenen EU-Förderprogrammen entstanden sind und inhaltlich beeinflusst werden. (Es wäre aber problematisch, wenn diese keimenden Ansätze durch Freihandelsabkommen kommerziell umgesteuert oder zweckentfremdet würden). Aber ergeben sie zusammengenommen schon so etwas wie eine europäische Kulturbewegung mit Blick auf die gemeinsame Zukunftsgestaltung Europas?

Das Entstehen einer neuen europäischen Kulturbewegung

Wo der Staat (oder die dominante Wirtschaft) inhaltlich gestaltend in die geistig-kulturellen oder wirtschaftlichen Lebensbereiche der Menschen eingreift, wird ein demokratiewidriges Über- oder Unterordnungsverhältnis installiert und es tritt damit ein Vormund für Unmündige auf. Gegen diese Entmündigung durch das staatlich forcierte, von der Wirtschaft gesteuerte TTIP-Abkommen lehnen die betroffenen und nicht vorher gefragten Menschen sich auf. Daraus kann eine europäische Bewegung als Kulturbewegung entstehen, die zu einer kulturellen Erneuerung und Neubesinnung Europas beitragen kann – das ist die Hoffnung aus dem gegenwärtigen Konflikt.

Wenn schon im Zuge der Wirtschafts- und Währungsunion und der angestrebten politischen Union zugleich eine „Europäische Bildungsunion“ im Entstehen ist, dann sollten von unten Bildungswege und -initiativen für ein wahres Europäertum oder Weltbürgertum entwickelt werden, mit „europäischen Inseln der Kultur“ in einer europäischen Bildungsgesellschaft (mit interkulturellen Menschenbegegnungen) , mit der die kulturell erstickende Dominanz des Wirtschaftslebens aufgelöst wird. Das erfordert im Bildungssektor Unterrichtsfreiheit zur kreativen Entfaltung sozialer Fähigkeiten der Jugend sowie Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Forschung usw.

Aus einem solchen freien Kulturleben heraus kann eine zukunftsfähige Rechts- und Sozialordnung sowie eine Wirtschaftsordnung (mit einem sozialen Geldwesen) in Europa entwickelt werden. Die soziale Frage in Europa stellt sich also ganz neu und ihre Beantwortung kann nur aus dem Kulturellen heraus erfolgen. Insofern ist die soziale und kulturelle Krise Europas und das akute Konfliktthema des Freihandelsabkommens eine große Chance für Veränderungen und überfällige soziale Umbrüche. Diese Chance muss nur ergriffen werden, bevor der Ausverkauf von Kultur und Bildung voranschreitet. Insofern ist die gegenwärtige Krise in Europa oder das Krisenbündel letztlich Ausdruck einer tiefgreifenden kulturellen Krise Europas und seiner Menschen, denn die äußeren Krisen sind stets Ausdruck der inneren Krisen.

Denkbare Schritte auf dem Weg zu einer europäischen Kultur der Zukunft

  1. Als erster und wichtigster Schritt ist aktuell sicherlich die Verhinderung der politischen und wirtschaftlichen Vereinnahmung von Kultur und Bildung und ihrer Kommerzialisierung durch Freihandelsabkommen zivilgesellschaftlich in Angriff zu nehmen. Zugleich könnte die öffentliche Kontroverse um TTIP als willkommene Gelegenheit zur Bewusstseinsbildung in der Bildungs- und Kulturfrage genutzt werden. Die Gegenwehr zwecks Befreiung der Kultur (und Sicherung ihrer Vielfalt statt Vereinheitlichung) reicht allein aber noch nicht aus, denn was kommt alternativ danach, über die Aufrechterhaltung des Status quo hinaus?
  2. Einige Anforderungen für die Zukunft könnten konkret in dem bereits entwickelten „Alternativen Handelsmandat“ der Zivilgesellschaft mit Blick auf Bildung und Kultur ergänzend formuliert werden. Die Hervorhebung von Bildung als Menschenrecht und die Bedingungen zu seiner Verwirklichung sollten ebenso Eingang finden wie die unverzichtbare Beteiligung und Konsultation der Kulturschaffenden sowie die Sicherung der kulturellen Vielfalt im Sinne der UNESCO-Konvention.
  3. Im Zusammenwirken mit der europäischen Demokratiebewegung sollten Initiativen z. B. von „Mehr Demokratie e.V.“ u. a. aufgegriffen und unterstützt werden, um die Menschen in Europa (parlamentarisch und außerparlamentarisch) an der Gestaltung und Änderung europäischer Verträge und Entscheidungsprozesse direkt zu beteiligen. Dabei gilt es, überhaupt erst eine europäische (demokratische) Beteiligungskultur zu entwickeln, auch um den Bildungs- und Kulturbereich aus der Umklammerung von Staat und Wirtschaft schrittweise zu befreien.
  4. In dem Zusammenhang ist die praktisch wirksame Durchsetzung und Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips unerlässlich, um dezentrale Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume zu erweitern. Zugleich sollte damit das Projekt eines „Europa der Regionen“ konkretisiert werden, um der regionalen Entfaltung der Kultur mit ihren regionalen Prägungen Raum zu geben. Dabei ist das alte Nationalstaatsprinzip ebenso zu hinterfragen wie der Trend zur Zentralisierung in der EU und deren schleichende Kompetenzerweiterungen im kulturellen Sektor.
  5. Unabhängig von der zwiespältigen Frage, ob sich die EU nach einer Wirtschafts-, Währungs- und Fiskalunion und einer politischen Union auch zur „Bildungsunion“ entwickeln soll, erscheint eine europäische „Bildungsoffensive“ von unten dringend geboten, um kulturelle und interkulturelle sowie soziale Kompetenzen zu stärken, das Wissensdefizit um kulturelle und wirtschaftliche Zusammenhänge (einschl. des Geldwesens) abzubauen usw. Hierbei muss Europa (mit derzeit 50 Staaten) über den EU-Rahmen hinaus gedacht werden (nicht nur als Ort, sondern als humanitäre Idee mit dem Ernstnehmen der individuellen Menschenrechte)
  6. Als Kulturschaffende, und dazu gehören wir alle, sollten wir unseenr Horizont und die Aktivitäten von der nationaler Ebene und Sichtweise auf gesamteuropäische Ebene grenzüberschreitend erweitern, in Vernetzung und im Austausch mit den Menschen und bestehenden Bildungs- und Kultureinrichtungen und –initiativen im übrigen Europa. Dazu ist begleitend eine „europäische Öffentlichkeit“ zu erzeugen als Voraussetzung für eine europäische Bürgeru und Kulturbewegung (auch über europäische Publikationsorgane, grenzüberschreitende Kulturaktionen und Tagungen etc., aber auch über datengeschützte audiovisuelle Medien einschl. Internet, Funk und Fernsehen).
  7. Wenn die Bildungs- und Erziehungsfrage und die Kultur als wesentlicher Teil der sozialen Frage ins europäische Bewusstsein gerückt werden sollen, weil nur daraus Soziales hervorgehen kann, muss sich dies in selbstverwalteten Schulen und Hochschulen, in pädagogischen Unterrichtskonzepten und - methoden sowie in der Selbstverwaltungskultur als Übungsfeld niederschlagen. Dazu bedarf es auch der ausreichenden öffentlichen Förderung und Finanzierung des Bildungswesens und des Zurückdrängens kommerzieller Schulen und Hochschulen im Wettbewerb der humanistischeren Ideen und Konzepte.
  8. Gelingt es durch Qualitätssicherung - etwa auch an unseren selbstverwalteten Waldorfschulen in ganz Europa – dem Anspruch gerecht zu werden, über eine kulturelle Erziehung zur Freiheit und Mündigkeit erfolgreich kompetente Persönlichkeiten hervorzubringen, die sich als Europäer und Weltbürger verstehen und betätigen?Uund wie könnte das Schulprofil von wirklichen Europa-Schulen aussehen („Jede Schule als Europaschule“)? Wie kann überhaupt in Schule, Studium und Öffentlichkeit das Interesse an europäischen Fragen (nicht zu verwechseln mit Fixierung auf EU-Institutionen), an europäischer Literatur und Kultur geweckt werden?
  9. Wie kann eine Zusammenarbeit und Vernetzung der vielen schon bestehenden Einrichtungen und Initiativen, die sich mit europäischen Zielen und Orientierungen etabliert haben, erfolgen, und wie können sie sich einbinden in eine gesamteuropäische Kulturbewegung mit „europäischen Inseln der Kultur“? Auch mit der Bildung von „Kulturräten“ (als nichtstaatliche und nichtkommerzielle Selbstverwaltungsorgane örtlich, regional und europaweit) und mit Regionalstiftungen etc. zur Kunst- und Kulturförderung ließen sich kulturelle Entwicklung und Einflussnahme fördern.
  10. Was kann individuell im persönlichen Umfeld und Betätigungsbereich zur Erhaltung und Verbreiterung der kulturellen Vielfalt und europäischen Identität beigetragen werden? Wie können grenzüberschreitenden Menschenbegegnung zum Kulturaustauch in Europa initiiert und organisiert werden, auch unabhängig und jenseits von staatlichen EU-Förderprogrammen oder kommerziellen Anreizen? Wie kann kulturelle Identität und Identifikation mit Europa statt aus der Vergangenheit vielmehr über gemeinsame Zukunftsprojekte und Zielfindung erzeugt werden – als tägliche Aufgabe für alle Beteiligten in eigener Verantwortung? Malen wir alle gemeinsam an einem (Leit-) Bild für ein zukünftiges und zukunftsfähiges Europa!

1 Dr. Michael Ross (Arbeitspapier „New Public Management: Steuerung durch Normen und Standard“ zum Forschungskolloquium „Ethik und Gesellschaft...“ im Januar 2014
2 Prof. Dr. Markus Krajewski, juristische Fakultät der Universität Potsdam, Februar 2005
3 Christoph Strawe: „Auswirkungen des GATS-Abkommens auf Schulen in freier Trägerschaft“, sowie Wilhelm Neurohr: „Bedroht GATS auch die gemeinnützigen Dienstleistungseinrichtungen?“, beide in Rundbrief Sozial- impulse
4 Wolfgang Lieb im Gespräch mit GEW-Vertreter Reinhard Frankl am 17. März 2014
5 Dr. Michael Ross, a.a.O.
6 Dr. Michael Ross, a.a.O.
7 Prof. Dr. Christoph Strawe, a..a O.
8 Felix Kamela in einem Beitrag vom 30. April 2013
9 Bericht der GEW und WEED „GATS und Bildung“ von der 6. WTO-Ministerkonferenz 2005 in Hongkong
10 Bericht der GEW und WEED „GATS und Bildung“ von der 6. WTO-Ministerkonferenz 2005 in Hongkong
11 Dr. Dietmar Goll, „Aus Forschung und Lehre“, Oktober 2009
12de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Hochschulen_in_Deutschland
13 http://www.privathochschulen.net/privatunis/
14 Dr. Michael Ross, a. a. O.
15 wie vor
16 Andrée Sursock, stellv. Generalsekretär der European University Association (EUA) in einem Aufsatz: „Hoch- schulbildung, Globalisierung und GATS“
17 Dr. Michael Ross, a. a. O.
18 wie vor
19 Pascal Beucker in der taz (März 2014)
20 taz vom 26.03.2014
21 David Hachfeld: „Wie Bildung zur Ware wird“, in einem Beitrag für Attac zum GATS-Abkommen (GATS und Bildung)
22 Peter Becker/Radostina Primova von der Forschungsgruppe EU-Integration/Stiftung Wissenschaft und Poli- tik/Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin
23 Kerstin Odendahl: „Zeit für ein Umdenken – Die Europäisierung der Bildungssysteme“, November 2012 (www.forschung-und-lehre.de/wordpress)
24 Wie vor
25 https://eu.daad.de/der_bologna_prozess/de/
26 Klaus Fahle/Peter Thiele in „Berufsbildung international“ BWP 4/2003
27 https://www.google.de/#q=pisa+kritik
28 Kerstin Odendahl: „Zeit für ein Umdenken – Die Europäisierung der Bildungssysteme“, November 2012 (www.forschung-und-lehre.de/wordpress)
29 https://eu.daad.de/de/
30 http://www.eu-info.de/foerderprogramme/bildung-jugend/lebenslanges-lernen/Leonardo-da-Vinci/
31 http://www.kmk-pad.org/programme/comenius.html
32 http://www.na-bibb.de/
33 Prof. Kerstin Odendahl: „Zeit für ein Umdenken – Die Europäisierung der Bildungssysteme“, November 2012 (www.forschung-und-lehre.de/wordpress); Buchautorin: „Europäische (Bildungs-)Union?, Berliner Wissen- schaftsverlag 2011
34 wie vor
35 Artikel 3 Ziff q) des EG-Vertrages
36 Artikel 149(1) des EG-Vertrages
37 wie vor
38 ebenda
39 wie vor
40 Marita Blauth, http://www.shiatsubonn.de/Seiten/ZertifizierungDoc.html
41 Judith Küpper: „Medienpolitik auf europäischer Ebene – medienpolitische Aktivitäten der europäischen Insti- tutionen“, http://server02.is.uni-sb.de/seminare/mediengesetze/europa.htm
42 wie vor
43 ebenda