Wochenschrift Goetheanum
Zum Live-8-Konzert am 3. Juli in aller Welt
Wieder waren es die „kulturell Kreativen“ der Zivilgesellschaft, die - nach den großen weltweiten Friedensdemonstrationen vom 15. Februar 2003 mit 18 Millionen spontanen Teilnehmern in 660 Städten der Erde - nunmehr erneut die Weltöffentlichkeit rund um den Globus aufrüttelten: Die Armut und Hungersnot Afrikas endlich weltweit und unüberhörbar auf die Tagsordnung zu setzen, war das lobenswerte Anliegen der weltumspannenden „Live-8-Konzerte“ am 3. Juli 2005 unter dem Motto: „Die Welt singt für Afrika“. Zwei Millionen Besucher und 3 Milliarden Fernsehzuschauer rund um den Globus erlebten und unterstützten das „größtes Musikereignis der Geschichte“ - ein beispielloses „Musikspektakel“ oder „Musik-Happening“ mit einer humanitären Botschaft: Eine Woche vor dem G-8-Gipfel im schottischen Gleneagles sollten damit die reichsten Industrienationen zum politischen Handeln bei ihrer Entwicklungspolitik und zum Schuldenerlass für die armen Länder bewegt werden, deren Schulden innerhalb weniger Jahre auf über 2,5 Billionen Dollar angestiegen sind.
„Größtes Mandat zum Handeln in der Geschichte“
An den Veranstaltungsorten - vom Hyde-Park in London über Versailles in Paris und das Brandenburger Tor in Berlin bis zum Roten Platz in Moskau und den Plätzen im südafrikanischen Johannesburg - war die Not der Menschen in Afrika das zentrale Thema. „Ich glaube, dass Ereignisse wie diese dazu beitragen können, die Welt zu verändern“, lobte UN-Generalsekretär Kofi Annan. „Es ist wunderbar, dass sich so viele junge Leute an dieser Kampagne gegen die Armut beteiligen.“ Internationale Popstars appellierten in einer Anzeige in der britischen Zeitung „The Times“ an die Teilnehmer des G-8-Gipfels in Schottland: „Wir sammeln für Sie das größte Mandat zum Handeln, das es in der Geschichte je gegeben hat. Genauso wie das Volk einst die Abschaffung der Sklaverei gefordert hat, das Wahlrecht der Frauen, das Ende der Apartheid, fordern wir jetzt ein Ende der ungerechten Absurdität extremer Armut, die jeden Tag 50.000 Menschen tötet - und das im 21. Jahrhundert.“ Alle 3 Sekunden stirbt bekanntlich in Afrika ein Kind an Armut. Der südafrikanische Präsident Nelson Mandela sagte. „Sie haben die historische Gelegenheit, das Tor zur Hoffnung aufzustoßen. (...) Laßt uns daran arbeiten, dass wir die Armut zur Vergangenheit machen.“
„Millionen können die Welt verändern“
Bei den Rockmusikern in Berlin lautete die Botschaft vor einer unübersehbaren Menschenmenge von über 200.000 Teilnehmern: „Alle zusammen können die Gewinner sein, wenn sie sich für eine gute Sache einsetzen - gegen die menschliche Not in der Dritten Welt“. Brandenden Publikumsbeifall mit Armbewegungen wie in einem wogenden Kornfeld bekam die Botschaft: „Wir sind weltweit Millionen - wir können die Welt verändern“. Tatsächlich hat das größte Musik-Happening der Welt mehr Menschen erreicht als je ein anderes Ereignis und es hat damit die erbärmlichen Verhältnisse in Afrika in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. Doch bringen neue Hilfszusagen und der totale Schuldenerlass, für den die Pop- und Rockelite wohlklingend und wohlmeinend wirbt, Afrika wirklich voran? - so fragten allenthalben kritische Zeitungskommentatoren tags darauf. Profitieren auch korrupte Diktaturen, in denen Mord, Folter und Korruption an der Tagesordnung in der Mehrzahl der Länder sind? War „die größte Show auf Erden“ wirklich so etwas wie ein „achtes Weltwunder“, das Reich und Arm für zehn Stunden „zu den wahren Vereinten Nationen“ zusammenschweißte, wie es UN-Generalsekretär Kofi Annan ausdrückte? Immerhin war es eine außergewöhnliche Aktion in außergewöhnlichen Zeiten zur Verbesserung einer außergewöhnlichen Situation.
„Besser die Welt zu verändern, als sie bloß zu verstehen“
An den Forderungen nach Schuldenstreichung, verdoppelter Entwicklungshilfe und Handelsverbesserungen für Afrika kann viel herumgemäkelt werden - die Veranstalter bewerteten es dennoch als beispiellosen Erfolg, wenn zwei Millionen Menschen auf die Konzerte gehen und die halbe Weltbevölkerung zugeschaltet ist. Die Probleme Afrikas ins Bewußtsein zu heben, ist sicherlich ein Anfang für Afrika - dank „Live 8“. Das Elend auf der Welt wird nicht mehr achselzuckend als gottgegeben und immerwährend hingenommen, sondern die internationale Gemeinschaft ist entschlossen, ihm ein Ende zu setzen, so kommentierte Dominic Johnson in der „tageszeitung“. „Man könnte es auch so sehen: es ist besser zu versuchen, die Welt zu verändern, als sie bloß zu verstehen.“ Die Musiker stellten ihren zahlreich erschienenen Anhängern die Frage: „Politiker handeln nicht. Seid Ihr bereit, Geschichte zu verändern?“
Der jüngst beschlossene Schuldenerlass bringt nach Berechnungen des Hilfswerkes Oxfan den betroffenen Ländern nur etwa ein Viertel der Summen, die sie brauchen, um gemäß den Milleniumszielen der UNO bis 2015 ihre Armut zu halbieren. Anspruch und Wirklichkeit klaffen seit Jahrzehnten auseinander. Es wird auch nach den Demonstrationen der Konzertveranstalter nicht damit gerechnet, dass der G-8-Gipfel eine weitergehende Ausdehnung des Schuldenerlasses auf ganz Afrika beschließen wird oder die spürbare Erhöhung von Geldern für Entwicklungsprojekte. Stattdessen investieren allein die Mitgliedsstaaten der EU als „Friedensmacht“ jährlich 160 Mrd. Euro auf Druck der Rüstungslobby in ihre laut EU-Verfassung (Artikel 40, Absatz 3) stetig zu verbessernden Waffensysteme, die über Umwege der Waffenhändler auch afrikanischen Regimen „zugute“ kommen. Wenn sich die Welt wirklich verändern soll, ist es allein mit bloßen Forderungen an Politiker und Staatsmänner künftig nicht mehr getan, die da provokativ auf den Live-8-Konzerten lauteten: „Enttäuscht uns nicht! Schafft keine Generation von Zynikern. Verratet die Wünsche von Milliarden und die Hoffnungen der Ärmsten nicht. Sollen diese 50.000 Menschen pro Tag leben oder nicht?“
Die Mitverantwortung und Herausforderung für jeden Einzelnen
Die Mitverantwortung und Verhaltensänderung eines jeden einzelnen ist für die positive Beantwortung dieser Frage gefordert, in dem Bewußtsein, dass der ganz persönliche Lebensstil in den reichen Ländern mit der Armut Afrikas im Zusammenhang steht und zur Veränderung des Zustandes selber beigetragen werden kann in vielfältiger Weise. Alternative Lebensstile und veränderte Politik- und Sozialgestaltung durch eigene Beteiligung und finanzielle Beiträge müssen praktiziert werden. Nicht mit staatlichen Geldern an afrikanische Regierungen für fragwürdige Regierungsprojekte und fehlgeleitete Hilfsmaßnahmen von außen ist den Menschen in Afrika geholfen, sondern beispielsweise mit konkreten Projekten der Hilfe zur Selbsthilfe in direkter Zusammenarbeit mit den Betroffenen sowie durch die Bereitschaft, brüderlich zu teilen.
In diesem Sinne kann die weltweite Großkonzertveranstaltung für Afrika durchaus Bewußtseinsveränderungen bei vielen Menschen anstoßen, die sich auf den Weg machen. Die Sehnsucht der Menschen nach einem sozialen und spirituellen 21. Jahrhundert ist unübersehbar und unüberhörbar. Und die zivilgesellschaftliche Suche nach Alternativen und „Weltverbesserungen“ ist weiterhin imgange, etwa auf mehreren zurückliegenden und weiteren geplanten Weltsozialforen sowie aktuell z. B. in Deutschland auf dem zweiten Perspektivenkongress Ende Juni in Dortmund; auf dem ersten deutschen Sozialforum vom 21. bis 24. Juli in Erfurt oder auf der Sommerakademie von attac vom 9.-14. August in Göttingen, oder auch auf zwei zurückliegenden Treffen der Träger des alternativen Nobelpreises. In Frankreich und in den Niederlanden war es der zivilgesellschaftliche Anstoß, über die Verfassung und den Weg Europas neu nachzudenken. So dürfen wir noch auf viele kreative Aktionen der weltweit vernetzten Zivilgesellschaft hoffen, mit der mehr Menschlichkeit und Nachhaltigkeit unsere gemeinsame Lebenswelt durchdringt und erhellt in scheinbar dunklen Zeiten. Das Konzert für Afrika war hierbei ein weiterer Lichtblick und Zusammenklang in der weltweiten Anteilnahme am Schicksal und Leiden anderer Menschen mit dem Impuls, zu helfen - ein wahres Menschheitsanliegen.