Immer stärker wird die Eigeninitiative der Menschen und der demokratische Druck „von der Straße", der in vielen Ländern kreative Formen der politischen Aktion und Debatte hervorbringt. Beispiele dafür sind Spanien und Griechenland. Sind wir Teilnehmer und Akteure bei dieser Revolution des Bewusstseins? Ein Beitrag zur aktuellen Situation in Europa
Die demokratische Aufbruchstimmung im 21. Jahrhundert ist ansteckend: Eine globale Revolution des Bewusstseins beginnt – und wir sind mittendrin. Es geht um die soziale Zukunft der gespaltenen Menschheit und ihre Überlebenschancen auf diesem Planeten. Den herrschenden politischen Parteien, Repräsentanten und Institutionen wird eine solche Wende nicht zugetraut; sie stehen für den Niedergang und das überholte System und alte Denken, die aus abgelaufenen Jahrhunderten hinübergerettet wurden. Ein wirkliches Umdenken findet bei den abhängigen Machteliten kaum statt oder es folgen nicht die sichtbaren Konsequenzen daraus. Die Zivilgesellschaft wird stattdessen zum Selbstgestalter ihres kollektiven Schicksals, das sie nun selber in die Hand nimmt.
Die Zeit ist überreif für eine ökonomische und ökologische Revolution zur Umgestaltung der sozialen Verhältnisse und zur Rettung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, beginnend mit einer radikalen Demokratisierung in Politik und Wirtschaft, mit dem beschleunigten Atomausstieg und einem ernsthaften Ressourcen- und Klimaschutz, mit gesunder Ernährung und menschenwürdigen Lebensbedingungen für die gesamte Weltbevölkerung sowie nachhaltigen Lebensbedingungen auch für nachfolgende Generationen. Das ist der Mehrheitswille der Erdbevölkerung, die erkannt hat, dass die Diktatur der Ökonomie die sozialen Werte und Demokratie aushebelt, die ohnehin erst in den Kinderschuhen steckt. Die heutigen Verhältnisse rufen nach solidarischer Aktion der Betroffenen: Denn die Verletzung der Menschenrechte und der Menschenwürde ist durchaus auch Alltag im neoliberal ausgerichteten Europa, also nicht nur in ihrer gröbsten Ausprägung in den so genannten „Schurkenstaaten".
Demokratie von unten als ein Aufbruch der Vielen - Von der repräsentativen zur partizipativen Demokratie
Autoritäre politische Regime und korrupte Parteienherrschaft haben im 21. Jahrhundert ebenso ausgedient wie die angeblich „repräsentative" parlamentarische Demokratie aus den abgelaufenen Jahrhunderten, in der lauter Nichtbetroffene über Betroffene entscheiden. Die echte partizipative Demokratie steht erst ganz am Anfang, denn soziale und politische Teilhabe sind auch in Europa noch nicht eingelöste Versprechen. Die EU selber mit ihrer Verfilzung von Politik und Wirtschaft bringt den 500 Mio. Europäern nicht ein mehr an Demokratie und Sozialität, sondern weniger. Damit geht der Enthusiasmus für ein Europa verloren, dessen Politiker sich mehr den Finanzmärkten statt den sozial verlierenden Bürgern verpflichtet fühlen.
Wie wenig unsere gewählten Parlamente der Vermögenden und Versorgten „repräsentativ" zusammengesetzt sind, wissen wir auch seit jeher aus Deutschland, wo ganze benachteiligte Bevölkerungsgruppen und Altersgruppen in den Parlamenten gar nicht vorkommen, so dass stets lauter Nichtbetroffen über Betroffene entscheiden. Laut aktuellen Umfragen ist das Vertrauen der Deutschen in den Berufsstand der Politiker dramatisch gesunken: 91% vertrauen Politikern nicht. Vom Lobbyismus, von Parteispenden oder den Nebeneinkünften der meisten abhängigen Parlamentarier erst gar nicht zu reden. Allein die Parteien in Deutschland erhielten 148 Mio. € an Spenden, von denen 80% unveröffentlicht bleiben. Sechsstellige Summen erhielten sie vor allem von Großkonzernen der Chemie- und Energiebranche, von Großbanken oder von Hotelketten sowie von Milliardären.
Nach einer aktuellen Studie von Nichtregierungsorganisationen beziehen mehr als 40% der Mitglieder des Europäischen Parlamentes Nebeneinkünfte – ein Potenzial für Interessenskonflikte. Die Menschen in ganz Europa - nicht nur in Spanien, Griechenland, Italien, England, Frankreich und Deutschland - wollen eine andere Politik, da fast alle Parteien von links bis rechts die annähernd gleiche Ausrichtung und Abhängigkeit vorweisen. Im Hintergrund stehen immer dieselben Großunternehmer und Spekulanten, so lautet der nicht unberechtigte Vorwurf.
In ganz Europa zeigen die dramatisch zurückgehende Wahlbeteiligung, die zunehmende Parteiverdrossenheit, die negativen Umfragewerte für das Ansehen des Politiker-„Berufes" sowie die tiefe Krise der parlamentarischen Demokratie, dass sich die Menschen durch die offiziellen politischen Entscheidungsträger nicht mehr vertreten fühlen. Insbesondere die schamlose Umverteilungspolitik von unten nach oben seit dem Erstarken der ökonomischen Lobby, die den demokratischen Prozess gezielt unterläuft, führt zu einem Legitimationsverfall der politischen Systeme. Die Demokratie muss deshalb von unten kommen, als ein Aufbruch der Vielen.
Das Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden der Bürger sollte Maßstab werden
Das Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden aller Bürgerinnen und Bürger ist gefragt bei den gesellschaftlichen und politischen Umgestaltungsprozessen. Dazu müssen und wollen sie gefragt und unmittelbar beteiligt werden – oder ihre Belange selber vertreten. Immer erfolgreicher setzen sich Initiativen wie Mehr Demokratie e.V. mit Verbesserungen der direktdemokratischen, plebiszitären Regelungen in den Kommunal- und Landesverfassungen durch. Europaweit sind bereits Millionen Unterschriften gesammelt worden für europäische Bürgerbegehren. Und immer stärker wird die Eigeninitiative der Menschen und der demokratische Druck „von der Straße", der in vielen Ländern kreative Formen der politischen Aktion und Debatte hervorbringt, wie sich aktuell auch am Beispiel Spanien zeigt.
In Deutschland sind es aktuell nicht nur die Bürgerbewegung gegen „Stuttgart 21" und die Anti-Atom-Bewegung, die in 2010 und 2011 demokratische Willensbildung vor das Diktat wirtschaftlicher Interessen gestellt haben und etablierte Lobby-Parteien zum Umdenken zwangen. Auch die neue Schüler- und Studentenbewegung, die zuvor für Bildungsreformen und -verbesserungen und Mitspracherechte wiederholt in großer Zahl auf die Straße gegangen ist, gehört zu den zivilgesellschaftlichen Zeiterscheinungen der Jugendrevolte. Sie will mitbestimmen und verhindern, dass sich Bildung, Forschung und Lehre organisatorisch, inhaltlich und finanziell den Wirtschaftsinteressen unterwerfen und die Ackermänner der Deutschen Bank über „Geheimverträge" die Ausrichtung von Universitäten wie der „Humboldt- Universität" Berlin beeinflussen.
Die Verquickung von Politik und Wirtschaft ist als schädlich für das freie Bildungswesen und die Freiheit von Forschung und Lehre erkannt worden. Deshalb sind zivilgesellschaftliche Initiativen wie „LobbyControl" oder „Transparency International" so wichtig, um versteckten Lobbyismus, der private Einzelinteressen vor Gemeinwohlinteressen stellt, schonungslos aufzudecken.
In Spanien, aber auch in Griechenland und Italien erfolgt die zivilgesellschaftliche Rückkehr zum eigentlichen Wesen der Demokratie
Was in Spanien zunächst recht unpolitisch oder antipolitisch begann, ähnlich wie bei der „Piratenpartei", hat sich zunehmend politisiert, indem nicht nur allgemein „die Politik" oder „der Staat" kritisiert wurde, sondern konkret die Parteien in dem faktischen Zweiparteiensystem Spaniens ins Visier der politischen Kritik gerieten, die zur steigenden Wahlenthaltung führte. Die spanischen Parteien pflegten ohnehin nie eine Beteiligungskultur. Die Menschen fühlen sich durch die Parteien nicht mehr repräsentiert, so dass sich eine „Repräsentationskrise" herausstellt, ähnlich wie in Italien, wo die 5-Sterne-Protestbewegung das Delegiertensystem ablehnt und sich künftig selber vertreten will.
In Italien hat die Zivilgesellschaft ihrem exzentrischen Staatspräsidenten Berlusconi bei dem Referendum im Juni 2011 endlich die Grenzen aufgezeigt mit ihrem Nein zur Atompolitik und mit ihrem Votum gegen die geplante Privatisierung der Wasserversorgung sowie gegen die Sonderbehandlung straffälliger Politiker vor Gericht – für italienische Verhältnisse eine „kleine Revolution" gegen ihren selbstherrlichen Staatschef. (Nebenher hat die Justiz zeitgleich eine dreistellige Zahl von einflussreichen Mafiabossen verhaftet und vor Gericht gestellt). In Italien formiert sich seither eine „Fünf-Sterne-Bewegung", die den Umbau von der repräsentativen hin zur partizipativen Demokratie anstrebt, mit Referenden ohne Quoten und jährlichen Bürgerversammlungen mit Entscheidungskompetenz.
Auch in Griechenland zeichnet sich mit der Protestbewegung eine Rückkehr zu den Ursprüngen der Demokratie ab. Die Bewegungen in den südeuropäischen Ländern transformieren sich gegenseitig. Anfangs waren bei den wütenden Massen, die am Tag des Generalstreiks beinahe das griechische Parlament gestürmt hatten, keine Konzepte erkennbar. Inzwischen wird auf den allabendlichen Versammlungen der besonders Engagierten auf dem Syntagma-Platz „direkte Demokratie" gefordert.
Längst kursieren Vorschläge für eine neue Verfassung Griechenlands, die auf dem Platz zur Abstimmung stehen: mit Direktwahl der Abgeordneten, der Abschaffung des Parlaments, einem Verbot für Parlamentarier, Beziehungen zu Unternehmungen zu unterhalten bis hin zur Abstimmung von Gesetzen durch das Volk via Internet und sms, sowie Lockerung der Amnestie für Politiker. Die Energie der Bewegung speist sich daraus, dass die Menschen sich begegnen, sich gerne zuhören und ganz unterschiedliche Erfahrungen zusammenkommen, von Hausfrauen über Rentnern und junge Studenten bis hin zum „schwarzen Block". Die spanische Protestbewegung des 15. Mai hat eine Form des Ungehorsams mit Ablehnung von Gewalt und von Parteien gefunden, der von vielen Menschen praktiziert werden kann.
Mit kreativen Aktionsformen und gewaltfreien Massenprotesten können die nervösen Regierungen und Parlamente noch nicht umgehen
Die spanische Protestbewegung versteht sich als pazifistische Bewegung. Gewalt ist, anders als in Griechenland, bislang lediglich durch eingeschleuste Polizisten und eine kleine Minderheit eingetreten. Unterschiedliche Milieus mit unterschiedlichen Lebensrealitäten kommen zusammen ins Gespräch und verständigen sich über die allem zugrunde liegenden Gemeinsamkeiten, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen - das hat es in Spanien zuvor noch nie gegeben. Für viele spanische Aktivisten aus der Zivilgesellschaft ist ein Traum wahr geworden: Die Bevölkerung ist aufgewacht – das ist zwar noch keine Revolution, aber so etwas wie eine Revolution des sozialen Bewusstseins.
Bei der spanischen Regierung ist hingegen kein Bewusstseinswandel erkennbar: Sie wirft den protestierenden Menschen vor, gegen die Spielregeln der Demokratie zu verstoßen und das Parlament erpressen zu wollen. (Das ist die Reaktion einer Politikerkaste, von denen über 260 Politiker der Korruption angeklagt oder in erster Instanz rechtskräftig verurteilt sind). Für sie war es ungewohnt, dass in Madrid und weiteren 80 Städten Protestmärsche durch das Land zogen, die gegen soziale Härten und Maßgaben der Europäischen Union auftraten. Die Menschen strömten in aller Frühe aus Vororten, Bergdörfern und Schlafstädten 10 bis 15 km zu Fuß vor das abgeriegelte Parlamentsgebäude der Hauptstadt. Mit Applaus, Umarmungen und Sprechchören: „Wir bezahlen nicht für Eure Krise" wandten sich die protestierenden Menschen gegen den Euro-Stabilitätspakt, der allein zugunsten der Banken und Finanzmärkte angewandt werde. Die sozialen Einschnitte für Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner wirke sich negativ auf die Wirtschaftsentwicklung aus. Mit der Bürgerbewegung der „Empörten" und deren Vorwurf: „Ihr vertretet uns nicht!" können die etablierten Politiker und Parteien nicht umgehen.
Die neuen sozialen Bewegungen werden ganz Europa erfassen.
Bereits im Herbst 2010 begann der Aufruhr in England mit der Besetzung ihrer Universitäten durch die Studenten. Auf lokaler Ebene gab es Aktionen gegen geplante Privatisierungen öffentlicher Infrastruktur wie z. B. der Verkauf des Hafens in Dover. Bürgerinitiativen besetzten landesweit mehrere Stadtparlamente. Der Widerstand gipfelte schließlich im sogenannten „Marsch für die Alternative" am 26. März in London, an dem 500.000 Menschen teilnahmen - eine landesweite Großkundgebung gegen die Steuerflucht nach Aufruf durch die Gewerkschaften. Die seit dem Bergarbeiterstreik in den 80-er Jahren in dem „Winter der Unzufriedenheit" in den 70-er Jahren verschüttete Tradition des Widerstandes ist in England wieder aufgelebt. 1990 hatten sie gegen die Einführung der „Kopfsteuer" protestiert und 2003 hatte es Großdemonstrationen gegen den Einmarsch in den Irak gegeben. Nun sieht es nach einer Renaissance einer außerparlamentarischen Opposition aus in einer Zeit, in der die Einkommensunterschiede so hoch sind wie nie zuvor und der Sozialabbau so heftig wie noch nie. Jetzt ist es eine Herausforderung, die vielen lokalen Initiativen in England zu einer nationalen Bewegung zu vernetzen und letztlich zu einer sozialen Bewegung in ganz Europa zusammenzuführen, bei dezentralen Aktionsformen und lokaler Präsenz.
Das Drama um die Griechenland-Rettung – Politiker üben den Staatsbankrott und bitten die Bürger zur Kasse
Das Sorgenkind Griechenland, aber auch die Sorgenkinder Spanien, Portugal, Belgien und Irland stehen wegen ihrer dramatischen Finanz- und Schuldensituation nicht nur im Visier der „Partnerstaaten" der EU und der des IWF, sondern auch im Visier privater Rating-Agenturen, die über die Kreditwürdigkeit oder mögliche Insolvenz von Staaten entscheiden. Davon wiederum hängt die Stabilität des Euro ab und der aktuelle Streit, ob private Gläubiger und Banken an den finanziellen Rettungspaketen zu beteiligen sind oder nicht – und ob ganze Staaten in betriebswirtschaftlicher Sichtweise für insolvent erklärt werden sollen oder nicht. Die Politiker üben bereits den Staatsbankrott. Eine absurde Diskussion in einer Welt, in der die anonymen Finanzmärkte das Primat der Politik abgelöst haben und die Demokratie und den sozialen Frieden zerstören, derweil sich das Geldwesen von der realen Wirtschaft abgelöst hat und das Geld selber zur Ware geworden ist.
Die griechischen Schulden betragen mindestens 330 Mrd. € mit steigender Tendenz. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst verloren ein Fünftel ihres Einkommens, 80.000 befristet Beschäftigte wurden entlassen, weitere Kürzungen sind geplant. In der Privatwirtschaft stieg die Arbeitslosigkeit binnen 18 Monaten von 11,5% auf 16,5%. Über 40% der Jüngeren bis 34 Jahre haben keine bezahlte Arbeit. Nach spanischem Vorbild protestierten deshalb die empörten griechischen Bürger 20 Tage lang unermüdlich vor dem griechischen Parlament. Das neue daran war, dass sich die Polis als aktiver Träger aufgerufen fühlte, politische Gestaltung und Debatte selbst in die Hand zu nehmen mit kollektiven Debatten, statt nur Forderungen an die politischen Machthaber zu adressieren: „Wir wollen selbst über uns entscheiden und für uns sprechen". Immerhin wurde daraufhin die historische Privatisierungswelle um 20 Tage nach hinten verschoben.
Verordnet wurden den Griechen dennoch nach neoliberalen Rezepten die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und der Ausverkauf öffentlichen Eigentums sowie drastische Kürzungen von Sozialleistungen einschließlich Rentenkürzungen und Sonderabgaben. Ein ganzes Land unter Kuratel. Wo und wie der griechische Staat also die erforderlichen Summen einspart, bleibt ihm also nicht selber überlassen. Selber hat sich der griechische Ministerpräsident den Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft vorgenommen. Alles zusammen eine Sisyphusarbeit. Ein ganzes Land verliert den Glauben an die Zukunft. Deshalb machten nahezu 3 Wochen lang Tag für Tag Tausende Menschen im Herzen von Athen angesichts der drastischen Sparmaßnahmen ihrer Verzweiflung und ihrem Ärger Luft. Zunächst friedlich, aber dann explodierte die Stimmung. Junge Leute ohne Aussicht auf Erwerbsarbeit, um ihre Besitzstände gebrachte Staatsdiener sowie Hausfrauen und Rentner wurden vereint zu Wutbürgern.
Wie das Pleiten-Risiko Griechenlands von den privaten Gläubigern zum kleinen Steuerzahler umgelenkt wird
Die Griechen, Spanier und Portugiesen haben trotz einiger Auswüchse insgesamt nicht „über ihre Verhältnisse gelebt", sondern ihre Probleme hängen mit den wirtschaftlichen Ungleichgewichten der Eurozone zusammen, (zusätzlich mit der aggressiven Exportpolitik des „Exportweltmeisters" Deutschland). Und ihre Staatsschuldenkrise ist eine Folge der Finanzmarktkrise. Diese haben nicht die Staaten oder ihre Bevölkerung, sondern die Finanzinstitutionen verursacht. Dennoch gibt es zur Bankenrettung wohl keine vernünftigen Alternativen,(es sei denn mit der von vielen geforderten geordneten Staatsinsolvenz, zumindest aber einer freiwilligen oder verpflichtenden Gläubiger-Beteiligung). Letztlich sind die Rettungsschirme und Hilfsprogramme für Griechenland in Wirklichkeit Bankenrettungsprogramme, also Programme zur Rettung deutscher, französischer und sonstiger Anleger, die griechische Staatsanleihen halten. Die Folgen der von Anfang an falsch aufgesetzten Währungsunion müssen durch Europa grundlegend gelöst werden, nicht durch Kurieren an Symptomen. Dies sei vorweg festgestellt zur Situation des von Europa nun zum drastischen Sozialabbau gezwungenen Griechenland durch das angeblich „alternativlose" Diktat der Geldgeber (Europäische Zentralbank, IWF und EU). Ähnlich erging es zuvor Portugal nach dem Hilfspaket mit erzwungenem Sparkurs, so dass dort unter anderem ein System nach dem Vorbild von Hartz IV eingeführt wurde. Die Griechen trifft es noch härter und sie sind nicht zu beneiden.
Griechenland steht vor der Pleite. Eine neue Notfallhilfe in Höhe von 120 Mrd. € mit freiwilliger Beteiligung von Banken und Versicherungen war im Juni in der kontroversen Diskussion angesichts der erneuten Liquiditätskrise. Zwischen deutscher Bundesregierung und Europäischer Notenbank gab es unversöhnlichen Streit. Aus Fehlern wird offensichtlich nicht gelernt. Und die Debatte um die Beteiligung der privaten Gläubiger, der Versicherungen und Banken, ist pure Heuchelei, denn diese haben gar nicht mehr so viele griechische Schulden in den Büchern stehen, weil sie einen großen Teil ihrer griechischen Staatsanleihen längst abgestoßen haben.
Deutsche Privatbanken und Versicherungen haben ihre Scherflein längst ins Trockene gebracht. Und auch ein Zahlungsaufschub würde sie nicht groß treffen, weil sie ihre griechischen Staatsanleihen absprachewidrig nicht mehr verlängert haben. Insgesamt hatten sie 300 Mrd. € gegen überhöhte Zinsen an Griechenland geliehen, dass nicht rückzahlungsfähig war. Deshalb das geschnürte Hilfspaket von 110 Mrd. € auf Steuerzahlerkosten, damit Griechenland seine Schulden und Zinsen an Banken und Versicherungen weiterzahlen kann. Der deutsche Staat ist also längst der Hauptgläubiger gegenüber Griechenland.
Hinter den Kulissen geht es deshalb vor allem um die Frage: Wie verlagert man das Pleite-Risiko Griechenlands von den Banken weg hin zum Steuerzahler? Die Europäische Zentralbank als öffentlicher Gläubiger könnte zweistellige Milliardenverluste locker wegstecken. Betroffen wären allein die deutschen Landesbanken und staatseigene Bankrottinstitute, die wir seit der Finanzkrise am Hals haben. Damit wiederum wären die deutschen Steuerzahler oder Bankkunden betroffen. Das Risiko auf die Steuerzahler abzuwälzen, ist eigentlich Pervertierung der Marktwirtschaft, bemerkte sogar ein FDP-Politiker. Für die Privatbanken ein billiges Vergnügen, denn bei einem Schuldenschnitt am Anfang der Krise hätten die privaten Geldgeber immense Milliardenbeträge verloren. (Das Vorgehen des Bundesfinanzministers verlief offensichtlich nach einem inhaltsgleichen Drehbuch des Chefs der deutschen Bank, Joseph Ackermann, wie das Nachrichtenmagazin Monitor am 17. Juni offenlegte.)
Umfragen zufolge sind 47% der Deutschen gegen die erneuten Finanzhilfen für Griechenland in dreistelliger Milliardenhöhe, allerdings ohne sich über die wirtschaftlichen Folgen für das eigene Land bei deren Verweigerung im Klaren zu sein. Denn wenn Griechenland und die anderen südeuropäische Länder aus der Eurozone hinausflögen und somit der Euro im verbleibenden Nord-Euroraum dramatisch aufgewertet würde, dann würden in Deutschlands Exporte einbrechen, die Löhne müssten sinken und die meisten Banken wären pleite, weil sie ihre Forderungen gegenüber den Südländern abschreiben müssten. Das wäre die totale Finanzkrise und Katstrophe, die wir uns nicht leisten können. Deshalb sind Finanzhilfen für Südeuropa unvermeidbar, aber nicht länger zu den bisherigen neoliberalen Bedingungen für die von dort abverlangten Sparpakete.
Die Krisenländer Südeuropas brauchen eine neue Perspektive.
Mit der Einführung einer Finanztransaktionssteuer würden sich neue Finanzquellen für die Finanzierung erschließen. Zudem darf nicht vergessen werden, dass die Verweigerung einer schärferen Regulierung der Finanzmärkte durch prominente EU-Politiker bewirkt hat, dass Europa kurz danach in den Strudel der Finanzkrise gezogen wurde, die jetzt von den Bürgern auszubaden ist. Nothilfe aus Europa nur zu geben, wenn noch radikaler gekürzt und öffentliches Eigentum privatisiert wird, verschärft die Deflationspolitik und gefährdet den gemeinsamen Währungsraum. Bei den von Griechenland geforderten Einschnitten handelt es sich nicht um ein Sparprogramm, sondern in Wirklichkeit um ein Erdrosselungsprogramm. Das haben die protestierenden Menschen erkannt und bekommen sie täglich zu spüren. Statt einer Magerkur braucht Griechenland jetzt eigentlich private und öffentliche Investitionen, quasi ein Marshallplan für Südeuropa. Gleichzeitig müssen die hohen Zinsen für die Rettungsfond-Kredite sinken, sonst kann Griechenland sich nicht aus der Schuldenfalle befreien.
Für ein solidarisches Europa der Menschen - nicht ein Europa der Märkte, der Staatsmänner und Lobbyisten
Die kulturelle Sinn-Frage Europas ist bis heute nicht wirklich zusammen mit den Bürgern Europas gestellt worden, da uns die EU von oben das einseitige Bild des führenden Binnenmarktes der Welt, der seine Rohstoffe und Handelswege auch am Hindukusch militärisch verteidigt, als Hauptidee verkauft, dem sich alles andere unterzuordnen hat. So entsteht niemals eine europäische Identität, sondern die Europa-Skeptiker werden auf den Plan gerufen.
Identitätsstiftend kann eher die grenzüberschreitende zivilgesellschaftliche Bewegung gegen diese verfehlte Europa-Politik sein, damit endlich demokratische Alternativen von unten die bloß ökonomische Orientierung ablösen. Dazu bedarf es einer zivilgesellschaftlichen europäischen Bürgerbewegung, die ihren Ausgangspunkt in den momentanen Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Zukunft der Jugend Europas nehmen könnte, die bereits auf den Straßen demonstriert. Die Abhängigkeit und das Unvermögen der gegenwärtigen Politikerkaste gefährden global und europaweit den sozialen Frieden und die Zukunftsperspektiven der rebellierenden jungen Generation. Warum wird nicht endlich begriffen, dass staatliche Schulden, wenn sie richtig eingesetzt sind, nicht per se problematisch sind? Ein Staatshaushalt ist kein Privathaushalt. Die Staatsausgaben sind gleichzeitig die Einnahmen der Unternehmen und Privatpersonen. Wenn in Krisenzeiten Ausgaben gekürzt werden und Sparpolitik betrieben wird, verschärft sich nur die Talfahrt, wie in Dublin, Athen und Lissabon zu beobachten ist. Im Abschwung vergrößert sich das Haushaltsloch durch sinkende Steuereinnahmen. Und was die öffentliche Kreditfinanzierung angeht, so gilt auch hier der buchhalterische Grundsatz: Wo ein Schuldner, da ein Gläubiger und umgekehrt.
Öffentliche Investitionen in Bildung, Gesundheit, Klimaschutz und Infrastruktur werfen in der Regel einen hohen volkswirtschaftlichen Ertrag ab. Die Wachstumsimpulse sind dann höher als die Finanzierungskosten. Und darüber hinaus profitieren von diesen Investitionen auch zukünftige Generationen. Deshalb geht die Debatte in Deutschland und Europa über zu hohe Schulden und Generationengerechtigkeit teilweise in die falsche Richtung und bereitet nur die nächste Welle der Umverteilung und des Sozialabbaus. Deshalb muss die Haushaltspolitik flexibel belieben und von ihren Fesseln befreit werden.
Und schließlich die Grundsatzfrage: Belassen wir es bei dem von den realen Wirtschaftskreisläufen abgelösten Geldwesen in einem spekulativen Finanzmarkt, auf dem das Geld selber zur käufliche und handelbaren Ware wird? Dann bleibt nur noch das Warten auf die nächste Finanzkrise.
Was will uns die aktuelle Krise sagen?
Der Blick nach Griechenland und Spanien müsste die politischen und wirtschaftlichen Eliten längst auch in Deutschland und Frankreich sowie in Brüssel aufschrecken lassen, so wie nach dem erschreckenden Supergau von Fukushima eine mutige Kehrtwende eingeleitet wurde. Einer solchen grundlegenden Kehrtwende bedarf auch die Finanz- und Haushaltspolitik der Staaten und der Währungs- und Staatengemeinschaften – sonst müssen sie durch die zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen ebenso dazu gezwungen werden wie die Anti-Atombewegung die Energiewende erzwungen hat. Ohne ein erkämpftes Zurück oder Vorwärts zu echter Demokratie werden uns die anonymen Märkte weiter die Katastrophen diktieren und hilfloses Krisenmanagement der Politiker hervorrufen, die den Willen der betroffenen Menschen nicht mehr repräsentieren.
Das zu ändern, ist die große Herausforderung am Beginn dieses 21. Jahrhunderts, das mit vielen Paukenschlägen begann. Die Komposition sollten wir selber vorgeben, sonst entgleiten uns nach den sozialen Errungenschaften und ökologischen Grundlagen auch noch die demokratischen Errungenschaften auf halber Strecke des mühsam Erreichten - und schließlich die wirtschaftlichen Lebensgrundlagen für die voneinander abhängige Menschengemeinschaft.
Die akute Krise will uns nichts Geringeres mitteilen als diese Dramatik – damit wir begreifen, warum jetzt eine Revolution des Bewusstseins erforderlich ist. Ein „Weiter-so" mit Kurieren an Symptomen hilft ebenso wenig wie bloße Proteste oder Forderungskataloge an „die Politik".
Nicht Forderungen an irgendwelche Verantwortungs- und Entscheidungsträger helfen jetzt weiter, sondern die Wahrnehmung der eigenen, individuellen Verantwortung und das Aufzeigen von Alternativen und echten Problemlösungen. Denn wir sind mittendrin im Geschehen und können ihm nicht entfliehen. Jeder Einzelne ist gefordert – hier und jetzt und jederzeit an jedem Ort. Ideen und Mitstreiter wird es immer und überall geben. Gemeinsam sind wir stark.