Guten Abend, liebe Anwesende,
liebe Ruhrgebietsmenschen!“
„Ein Wunder ist, daß in diesem riesigen Dorf mit seinen 6 Mio. Einwohnern der Mensch noch nicht verkümmert ist. Nirgendwo sonst in Deutschland sind die Menschen so nüchtern, herzlich, einfach und schlagfertig.“
Diese Feststellung traf kein Geringerer als Heinrich Böll im Jahre 1956, der sich sehr viel mit den Ruhrgebietsmenschen beschäftigt hatte. Von ihm stammt auch folgende Bemerkung:
„Die Leute sind einfach, herzlich und hilfsbereit. Eine neue Rasse hat sich hier gebildet, die in Tonfall und Umgangsform Gemeinsames hat. Alle Vorzüge und Nachteile der Jugend: Frische, mit unbekümmerter, fast kolonialer Barbarei gemischt.“
„Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft - darin kann man sich wiederfinden. Aber muß daß sofort mit kolonialer Barbarei vermischt werden?“ fragte daraufhin der Kulturhistoriker und Ruhrgebietsforscher Karl Rohe, Professor an der Universität Essen.
Heinrich Böll beschrieb in den 50-er Jahren ein Ruhrgebiet, das heute so nicht mehr existiert.
Aber er kam in seinem Ruhrgebietsporträt immer wieder auf die Menschen im Ruhrgebiet zu sprechen, deren Herzlichkeit und Unkompliziertheit er rühmt - und die ihn in ihrer Direktheit und Offenheit an die Berliner erinnerten.
Auch Günter Grass erkannte trotz aller Unterschiede eine gewisse Wesensverwandtschaft, indem er bemerkte: „Wenn man nicht in Berlin leben kann, dann kann man nur im Ruhrgebiet leben.“
Der Schriftsteller Max von der Grün stellte trefflich fest: „Im Ruhrgebiet wird es einem leicht gemacht, mit Menschen zu reden.“ Die Menschen seien „rauh, aber herzlich“. Eine mit viel Sympathie bedachte Charakterisierung der Ruhrgebietsmenschen.
Auch die Zugereisten schätzen die offene und direkte Sprache der Leute hier, die kein Blatt vor den Mund nehmen und jeden Aufschneider sofort durchschauen.
Der menschenkundige und volkstümliche Essener Ruhrbischof Dr. Franz Hhengsbach charakterisierte die christlich geprägten Menschen an der Ruhr als „unkompliziert, zugänglich, an Handfestem interessiert, humorvoll und tolerant.“
Man könnte noch manches an Eigenschaften hinzufügen aus eigener langjähriger Menschenkenntnis vor Ort, ohne zu verallgemeinern:
So z.B. Willensstärke, Ausdauer, Geduld und Gelassenheit, aber auch Fleiß, Opferbereitschaft und Leistungsfähigkeit, gepaart mit Verantwortungsgefühl, mit Mut und Zivilcourage.
Wenn Heinrich Böll und andere von einem „Ruhrvolk“ sprechen als einem „besonderen Menschenschlag“, dann geht es gar nicht so sehr um einzelne Menschen, sondern um die Art und Weise, wie die Menschen im Ruhrgebiet miteinander verkehren und miteinander umgehen.
Es geht also nicht darum, die vielen hier lebenden individuellen Menschen in ihrer Vielfältigkeit alle über einen Kamm zu scheren, sondern ihr Miteinander in dem freiwilligem und unfreiwilligem Gemeinschaftsleben zu beobachten und darin einzutauchen, um sich dort hineinzufühlen.
Die Menschen sind ja durchaus so vielfältig wie diese Region selber, die sich uns niemals voll und ganz erschließen wird.
Darum verzichte ich auch heute Abend darauf, etwa einzelne bekannte Persönlichkeiten oder Biografien aus dem Ruhrgebiet quasi stellvertretend als Repräsentanten für den Ruhrgebietsmenschen herauszuheben und zu würdigen - obwohl es da ja einige klingende Namen gibt, von den großen Industriellen bis hin zu Künstlern und Wissenschaftlern, Politikern, Gewerkschaftsführern und Kirchenvertretern, die diese Region hervorgebracht hat, darunter auch Namen wie Baedeker und Brockhaus, die bekannten Buchverleger.
Die wahren Repräsentanten des Ruhrgebietes sind aber die einfachen, arbeitenden Menschen in ihrer Mehrzahl und ihrer Lebensweise, die ich in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellen möchte, weil es auf sie in der Zukunft ankommt.
Heinrich Böll schätzte die Lebensformen und Mentalitäten, die sich in dieser Region herausgebildet haben. Er schätzte, mit anderen Worten, die Umgangskultur, also die eigentliche Kultur dieser Region.
Gemeint ist also nicht der landläufige Kulturbegriff der Sozialwissenschaftler, der mit Theater, Musik, Kunst, Museen, Wissenschaft usw. zu tun hat - obwohl sich ja auf diesem vorzeigbaren Gebiet das Ruhrgebiet kürzlich als „Kulturhauptstadt Europas“ beworben hat - mit über 2 Mio. Theater- und Konzertbesuchern jährlich.
Die Kultur ist den Menschen hier ja nicht zugefallen. Sie mußte hart erkämpft werden. Denn die hier geborenen oder zugewanderten Menschen wuchsen ja hier nicht in einer vorgefundenen Regionalkultur auf, trotz der reichhaltigen vorindustriellen Geschichte dieser Gegend.
Sondern die Ruhrgebietskultur wurde von ihnen gemeinsam neu geschaffen.
Sie haben den notwendigen Zusammenhang von Arbeit und Kultur hergestellt, in Gemeinschaft mit zunächst wildfremden Menschen, die von überall her hier zusammenströmten, davon sehr viele aus dem slawischen Kulturraum.
Manche Wissenschaftler bezeichneten die Geschichte der Integration der Zuwanderer im Schmelztiegel Ruhrgebiet mit seinem „neuen Ruhrvolk“ als eine „Erfolgsgeschichte von amerikanischen Ausmaßen.“
Die Pioniere im Ruhrgebiet haben uns ein erweitertes Kulturverständnis vorgelebt und vorgeprägt - nämlich die Sozialkultur, die Gesellschaftskultur - von der Arbeitskultur über die Unternehmenskultur, die Wohn- und Stadtkultur bis hin zur Alltagskultur, einschließlich einer sozialen Streitkultur.
Ohne dem verliert die Kultur im engeren Sinne, also die ästhetisch-intellektuelle Kultur, teilweise ihren Sinn.
Diese Auffassung vertritt zumindest der Ruhrgebietskenner Karl Rohe in seinem Aufsatz: „Das Erbe des Ruhrgebiets und die Zukunft der Region.“
Für die bürgerliche Kultur war also Anfangs nur wenig Raum, sie kann erst später ab den sechziger Jahren im Ruhrgebiet zur Entfaltung.
Wir sprechen also hauptsächlich von der hier gewachsenen Umgangskultur.
Das soziale Zusammenleben ist die größte kulturelle Errungenschaft, das wird sich im Zuge der weiteren Globalisierung mit ihrer weltweiten Spaltung in arm und reich, in Gewinner und Verlierer, noch ganz deutlich erweisen.
Denn die soziale Zukunftsfrage und damit die Menschheitskultur wird sich weltweit allein daran entscheiden, wie die Menschen zusammenleben und zusamnarbeiten.
Das Ruhrgebiet ist also ein geeignetes Forschungsobjekt oder sogar Vorbild für grundlegende Maßstäbe unseres Zusammenlebens, für unsere Gesellschaftskultur, die ja zunehmend von Antisozialem geprägt ist.
Deshalb sollte der Blick heute Abend gerichtet werden auf die Mentalitäten und Lebensweisen der Ruhrgebietsmenschen als einer sozialräumlichen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft.
Was haben sich die Menschen im Ruhrgebiet aus der Vergangenheit und Gegenwart erworben, was sie zu einer sozialen Zukunftsgestaltung befähigt?
Hier hatte man beispielsweise sehr frühzeitig gelernt zu teilen und dabei erkannt: Teilen macht alle reich, und die Reichen empfangen ihren Segen durch die armen und durch die arbeitenden Menschen.
An dem Wohlstand für alle im Wirtschaftswunderland Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg waren ja die fleißigen und arbeitsamen, aber dennoch bescheidenen Ruhrgebietsmenschen nicht unerheblich beteiligt, unter schwierigsten Bedingungen - und bis heute erwarten sie keinen Dank dafür, weil es für sie selbstverständlich war - auch wenn diese Region ihnen nun kaum noch bezahlte Erwerbsarbeit zu bieten hat und als Armutsregion gilt.
Was damals die Zuwanderungen waren, sind deshalb heute die Abwanderungen der jungen Menschen. In manchen Stadtteilen sind bereits über 60% der Bevölkerung über 60 Jahre alt; die Einwohnerzahlen schrumpfen.
Doch die verbleibenden Ruhrgebietsmenschen mit ihrer Initiativkraft geben nicht auf. Viele auch jüngere Menschen halten ihrem Revier in tiefer Verbundenheit trotz allem die Treue, weil sie sich unter den Menschen hier wohl fühlen - wohler als in anderen Regionen, etwa in bürgerlich geprägten und gepflegten und wohlhabenden süddeutschen Städten.
Die hier ausharren, verkörpern die Würde des arbeitenden Menschen und sie beweisen die Liebe zu den hier auf engstem Raum lebenden Menschen. Sie legen einen ungebrochenen Optimismus an den Tag und ein geradezu trotziges Selbstbewußtsein.
135.000 Studenten an den 6 Universitäten und 7 Fachhochschulen des Ruhrgebietes, die ja erst seit den 60-er Jahren eingerichtet wurden, zeugen von den Zukunftsperspektiven auch für die jungen Menschen in dieser Region.
Ganz früher gab es ja nur in Duisburg eine altehrwürdige Universität, wo der berühmte Geograf Mercator lehrte, nachdem er aus Flandern in das weltoffene Ruhrgebiet geflüchtet war. Die heutigen Ruhrgebietsuniversitäten sind sehr stark verankert in den kommunalen und regionalen Zusammenhängen; sie kooperieren mit der Wirtschaft und halten Kontakt zur Arbeitswelt.
Sie öffnen sich für die Menschen auch ohne Abitur und für die berufliche Weiterbildung. Und die private Uni Witten-Herdecke geht ganz neue, vorbildliche Zukunftswege.
Die im vergangenen Industriezeitalter gewachsene Gesellschaftskultur im Ruhrgebiet mit ihren Denk- und Verhaltensweisen, die sich da einstmals im Schatten der Fördertürme herausgebildet hat, klingt noch nach - bis hinein in die Regionalsprache und in die immer wieder bewiesene Fähigkeit zu einem neuen Aufbruch.
Die damals durch die Montanindustrie bestimmten Lebensverhältnisse haben sich nicht über Nacht verflüchtigt, nur weil inzwischen die meisten Menschen im Ruhrgebiet in Handel und Dienstleistungen arbeiten oder im Verkehrs- und Gesundheitswesen - sofern sie nicht arbeitslos sind. Eine gemeinsame Identität ist geblieben und hat sich eher noch verfestigt.
Von Außenstehenden wird das Ruhrgebiet noch eher als eine homogene Regionalkultur mit kulturellen Gemeinsamkeiten wahrgenommen als von den Bewohnern selber, die nach den Städten und Teilräumen des Ruhrgebietes und sogar nach Stadtteilen sehr wohl differenzieren.
Zwischen dem Duisburger und dem Dortmunder sind eben solche Welten wie zwischen dem Wittener im Süden und dem Recklinghäuser im Norden, aber auch zwischen dem Karnaper und dem Werdener innerhalb von Essen.
Aber dennoch verbindet alle zusammen ein gefühlsmäßig verankertes regionales Identitätsgefühl, und dieses sogar übergreifend zu den westfälischen oder rheinischen Identitäten. Und dieses Identitätsgefühl wird weniger von regionalen Eliten aus den gebildeten Schichten geprägt als vielmehr von den einfachen Menschen selber.
Es sind hier nicht, wie etwa in Bayern, die Lehrer oder Pfarrer, die das Heimatgefühl stiften, pflegen und vermitteln, sondern die Malocher selber.
Das hat eben mit den besonderen Verhältnisse der gemeinsamen Erfahrungen im Ruhrgebiet als Schicksalsgemeinschaft zu tun
Man hält sich für „Seinesgleichen“ und schreibt sich eine Art „geistige Verwandtschaft“ zu, auch wenn man sich nach außen nicht immer als Ruhrgebietler bekennt, sondern eben als Essener oder Dortmunder.
Die Städte und ihre Bewohner suchen zum Teil neue Identifikationen, aber auch Inspirationen oder Zukunftsvisionen, indem sie auf ihre vorindustrielle Vergangenheit zurückgreifen.
Darüber hatte ich ja in meinem damaligen Vortrag, im Juni 2003, hier in dieser Schule gesprochen, da ja die Ruhrgebietsregion insgesamt ein sehr geschichtsträchtiger Lebens- und Kulturraum war, von der Steinzeit über die Römerzeit und das Mittelalter.
Aber eine gewisse Einheit des Ruhrgebietes im Bewußtsein der hier lebenden Menschen läßt sich eigentlich erst die letzten 50 bis 80 Jahre bemerken.
Es gibt also keine „Gralshüter einer gleichsam mystisch verstandenen Ruhrgebietseinheit“, wie Karl Rohe in einem Aufsatz betont.
Aber es ist einiges ökonomisch und sozial-kulturell zusammengewachsen, was auch die Menschen hier verbindet.
Nicht zuletzt die herzliche und natürliche Regionalsprache, der Ruhrgebiets-Slang, der ja von Sprachforschern übereinstimmend als eigenständiger 13. deutscher Dialekt klassifiziert wird, zeugt von der kulturellen Gemeinsamkeit in diesem völkischen Schmelztiegel. In der Sprache haben die Menschen gemeinsam etwas verinnerlicht, was sie verbindet.
Der Dialekt ist je erdennaher als die Hochsprache.
Und damit wurde auch das soziale Miteinander gefördert und manche zwischenmenschlichen Barrieren überwunden.
Das gewachsene Geflecht sozialer Bindungen und Beziehungen der Menschen im Revier beeindruckte bereits den damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann, der ja als Essener selber „ein Kind des Ruhrgebietes“ war.
Auch heute noch sind die Ruhrgebietsmenschen zu einer beispielhaften Solidarität untereinander fähig. Dies hat uns vor wenigen Wochen der große „wilde“ Streik bei Opel in Bochum gezeigt, als 20.000 Menschen aus dem Ruhrgebiet und darüber hinaus
an einem Werktag ihre Verbundenheit mit den verzweifelten Opel-Arbeitern und ihren besorgten Familien zeigten.
Dem Weltkonzern wurde die Stirn geboten und Verhandlungen erzwungen, wie schon einige Jahre vorher auch in Rheinhausen beim legendären Kampf der Stahlarbeiter.
Es wurde anläßlich des aktuellen Opel-Konfliktes im Ruhrgebiet deutlich, wie eng das Globale und Regionale sich heutzutage durchdringen - und wie sehr die soziale Frage im 21. Jahrhundert zugleich eine globale und regionale Frage geworden ist.
Zum einen ist der Verschiedenheit der Menschen und Regionen Rechnung zu tragen in der globalisierten Welt, zum anderen bedarf es der Überschaubarkeit sozialer Beziehungen und der individuellen Verantwortlichkeit durch räumliche Nähe - „Global denken und lokal handeln“ heißt das Motto.
Und mit der Regionalisierung der eigenen Problemlösungen in Eigenverantwortung sind die Menschen im Ruhrgebiet in der Umbruchphase längst vertraut, die nun schon Jahrzehnte andauert.
Der Raumplaner Professor Voss erkannte im Ruhrgebiet die große Bereitschaft der Menschen, anzupacken, sich mit dem zu identifizieren was hier gemacht wird und sich auf die eigenen Kräfte zu besinnen.
In der langen Leidensgeschichte der Ruhrgebietsmenschen wiederholte sich die Herausforderung, sich in dieser Region immer wieder am eigenen Schopf aus dem Schlamassel herauszuziehen.
Nur zweimal, Ende der 50-er Jahre und dann noch einmal in den 90-er Jahren, wurde das Selbstbewußtsein der Ruhrgebietsmenschen erschüttert, als es dem Bergbau und der Montanindustrie an die Substanz ging.
Das bedeutete auch den Zusammenbruch gewachsener Sicherheiten, den heute viele Menschen in der globalen Wirtschaftswelt am eigenen Leibe erfahren.
Aber nicht Konkurrenzkampf, sondern wiederum Solidarität und Kooperation war angesagt, als damals auch die ehemaligen Werkswohnungen zum Ausverkauf anstanden: Der Wohnraum als Ware - das ging so sehr gegen die Menschenwürde der langjährigen Bewohner im Ruhrgebiet, daß man sich in Mieterinitiativen zu wehren wußte.
Die Region spiegelt deshalb etwas von ihren Menschen wieder: Über 100 Jahre
Lebenskampf, Aufstieg und Abstieg. Im Ruhrgebiet leben, heißt kämpfen lernen, denn hier hat man es nicht einfach.
Nicht nur in der industriellen Arbeitswelt, im Bergbau unter der Erde oder in der Hitze der Hochöfen, auch nach Feierabend und in der zersiedelten Lebensumwelt ,im industrialisierten Siedlungbrei war das Leben schwer, nicht zuletzt auch in den Kriegsjahren.
Bei der Ruhrbesetzung wurden fast 250.000 Menschen aus dem Ruhrgebiet ausgewiesen.
Später galt es, Städte wieder aufzubauen. Und auch heute wieder heißt es, alte verlassene Industriebrache umzubauen und neu zu gestalten, obwohl sich die Menschen auch an triste Umgebung gewöhnt haben und ihr das Schöne oder Nützliche abgewinnen.
Auch die Zugewanderten und Heimatvertriebenen haben meist recht schnell ein Heimatgefühl für diese Region entwickelt, die ihnen auch zu einer Art geistigen Heimat geworden ist.
Besucher schwärmen, daß man meist „nette und hilfsbereite“ Menschen trifft.
Man liebt das Ruhrgebiet und seine Menschen und deren Heimatverbundenheit, aber vor allem auch deren Gastfreundschaft und gelebte Toleranz.
Der Menschen und ihrer Offenheit wegen sei er ins Ruhrgebiet gegangen und geblieben, bekannte der gebürtige Berliner Journalist Jens Feddersen, langjähriger Chefredakteur der neuen Ruhrzeitung. „Hier fragt niemand, woher man kommt, wohin man geht. Niemand will wissen, ob man Vertriebener sei oder von drüben abgehauen, ob Ausweis A oder B“ - und niemand frage im Pott nach der Konfession.
Aus all diesen Jahren gibt es ungezählte Geschichten und Erzählungen aus dem Sozialmilieu des Ruhrgebietes, eine eigene Ruhrgebietsliteratur.
Ob es die Zwangsarbeiter waren oder die legendären Kostgänger, für die in der Bergarbeiterfamilie das Bett geteilt und warm gehalten wurde zwischen der Tagschicht des einen und der Nachtschicht des anderen: Hilfe in der Not auf Gegenseitigkeit, ohne lange zu fackeln, wie man hier zu sagen pflegt.
Der Kampf ums Dasein als gegenseitige Hilfe, nicht als gegenseitige Ausbeutung.
Die Menschen hier haben stets ihre eigenen Überlebensstrategien entwickelt, ohne anderen Menschen damit zu schaden:
Prof. Martin Einsele, der lange Zeit als Architekt und Stadtplaner im Ruhrgebiet gewirkt hat, bemerkte, daß hier in den Arbeitersiedlungen immer noch „ein Lebensstil praktiziert wird, der Ansätze für Strategien des künftigen Überlebens in einer durch Menschen selbst zunehmend bedrohten Welt erkennen läßt.“
Nach seiner Beobachtung hilft die kleine Zelle der Siedlung, mit ihrem ausgeprägten inneren Kommunikationsgefüge, die gefährliche Isolierung der Menschen abzubauen.
Schon in den ehemaligen Zechensiedlungen, in denen die meisten Bewohner unkompliziert per Du miteinander sind, verbinden sich hohe Lebensqualität durch individuelles Wohnen mit sozialer Gemeinschaftsbildung über die Gärten und gemeinsamen Grünanlagen, mit gegenseitiger Hilfestellung und Unterstützung.
Die alten Bergarbeitersiedlungen galten als Inbegriff für zukunftsfähige Wohnkultur und Gemeinschaftsformen in großstädtischem Umfeld, in der Stadt der großen Dörfer.
Sie zeugten noch als preisgünstige Werkswohnungen von einem sozial gesinnten Unternehmertum, das heute fast ausgestorben ist in Zeiten der neoliberalen Globalisierung.
Insofern ist auch hier längst ein Wandel eingetreten wie auch in vielen anderen Bereichen des Ruhrgebietes.
Es wird allenthalben deutlich, daß auch die Ruhrgebietskultur einem Wandel unterliegt und der Regionalcharakter nicht unveränderlich ist.
Aber die Kultur besitzt einen anderen historischen Rhythmus als Wirtschaft und Politik, so bemerkt wiederum Karl Rohe - ich zitiere:
„Das historische Ruhrgebiet, das alte Revier, ähnelt einem Flickenteppich, der aus ethnischen, konfessionellen, landsmannschaftlichen und lokalen Eigenarten und Identitäten gewebt war.
Dennoch kam es allmählich unter dem homogenisierenden Einfluß von Bergbau, Groß- und Schwerindustrie, Technik und Maschinenwelt, Massenzuwanderung und einer durchweg wenig städtischen Lebensweise zur Ausbildung übergreifender regionalkultureller Gemeinsamkeiten, die das Ruhrgebiet gleichzeitig immer stärker von ihrer westfälischen und rheinischen Umwelt abhoben.“
Somit entstand durchaus so etwas wie eine eigene Ruhrgebietskultur, die nicht nur durch die kollektiven historischen Erfahrungen und Ideen unserer Großväter im Ruhrgebiet geprägt ist.
Sondern auch in der Gegenwart ergibt sich im Ruhrgebiet eine für Industrieregionen eher atypische Konstellation, z.B. durch die Zusammenarbeit von Kopf- und Handarbeitern anstelle von Klassenkampf. Im Ruhrgebiet haben ja lange Zeit die bürgerlichen Mittelschichten gefehlt, so daß sich die Sozialkultur von ganz unten entwickelt hat.
Und die kumpelhaften Menschen sind stolz auf ihre nicht unbedingte schöne Region.
Dies macht das Ruhrgebiet für Sozial- und Kulturhistoriker zu einer faszinierenden Landschaft, weil sie einen ständig zwingt, im Hinterkopf Verfestigtes immer neu zu überdenken.
Es waren ja zum Teil Außenstehende, die den hier lebenden Menschen den Blick auf die großartige Industriekultur und ihre neuen Nutzungsmöglichkeiten geöffnet haben.
Es wird sichtbar bei dieser Art von Kulturarbeit, daß es die Arbeitskultur war und ist, die im wesentlichen Kultur schaffend wirkt und eine soziale Kultur befördert.
Das Wesentliche aber sollte bei unseren Betrachtungen im Mittelpunkt stehen: Das Ruhrgebiet ist nach wie vor die größte und dichteste Menschenansammlung in Europa auf engstem Raum - ein gemeinsamer Schicksalsraum mit bunt zusammengewürfelten Menschen aus 90 Nationen, also aus jedem zweiten Land der Erde, in dem sich auch alle Probleme der Globalisierung, zeitlich vorweggenommen, wie in einem Brennglas spiegeln.
So gesehen ist unser Revier mit seinem kosmopolitischen Völkergemisch ein Prüfstein und Spiegelbild der Menschheitsentwicklung - vorweggenommene Zukunft.
Auch viele der hier Anwesenden werden sich sicherlich schon gefragt haben: Warum hat mich mein Schicksalsweg gerade in diesen Ballungsraum, in diese dichte Menschenansammlung geführt - sei es als Zugereister oder als hier Geborener oder Inkarnierter.
Was soll ich hier lernen und leisten, wem soll ich hier begegnen? Wen treffe ich hier wieder? Was ist meine Aufgabe in dieser Gemeinschaft?
Wer hier lebt, braucht übrigens nicht allzu intensive Biografie-Arbeit betreiben, um den roten Faden in seinem Lebenslauf zu finden.
Die menschlichen Herausforderungen und Anknüpfungspunkte liegen direkt vor der Haustür, sozusagen auf Halde, wie man hier zu sagen pflegt.
Denn Menschenbegegnung wird hier zum Alltagserlebnis.
Hier breitet sich der halbe Globus aus; hier finden wir Europa und die ganze Welt im Kleinen dicht zusammengedrängt.
Das Ruhrgebiet wäre bekanntlich ohne die Zuwanderungen nicht entstanden und nicht lebensfähig. Heute leben im Ruhrgebiet 550.000 Menschen ohne deutschen Pass, das sind 10% der Gesamtbevölkerung.
Ungleich mehr auswärtige Menschen sind im Laufe vieler Jahre im Ruhrgebiet schon seit Generationen längst eingebürgert und besitzen den deutschen Pass.
Sie stimmen mit dem gemeinsamen WIR-Gefühl längst in den Schlagertext von Grönemeyer ein: „Wir sind das Ruhrgebiet“.
In dem 150-jährigen Verschmelzungsprozess der vielen Menschen aus ganz Europa und aller Welt haben sich verschiedene völkische Elemente verschmolzen, wie ich schon in meinem letzten Vortrag darstellte:
- aus Polen und Masuren,
- aus Litauen und Kaschubien,
- aus der Tschechei, aus Kroatien und Slowenien,
- aus Irland, ferner Belgier, Niederländer und Franzosen,
- Rumänen und Ungarn,
- später dann Italiener, Spanier, Griechen und Jugoslawen als Gastarbeiter,
- schließlich Türken aus der islamischen Welt,
- vereinzelt sogar Gastarbeiter aus Korea, von den Phillipinen und aus Indien,
- später wieder Russen und Rußlanddeutsche als Aussiedler,
- zuguterletzt dann Asylbewerber und Elendsflüchtlinge aus Afrika, Asien und Nahost.
Alleine bis zum 1. Weltkrieg zogen eine halbe Mio. Menschen zum Ruhrgebiet, weil großer Bedarf an Arbeitskräften bestand.
Aus dem Osten waren es zumeist bäuerliche, seßhafte und heimatverwurzelte Menschen, die meist nur feudale und patriarchalische Verhältnisse kannten und im Durchschnitt 5,3 Kinder pro Familie großzogen. Sie kannten noch keine demografischen Probleme, wohl aber andere Formen von Kinderarmut.
Sie schlugen hier sofort neue Wurzeln, fühlten sich zu Hause und trugen mit dazu bei, daß die Menschen im Ruhrgebiet sich nicht so gerne gängeln und bevormunden lassen.
Hauptsächlich war es wieder die gemeinsame Arbeit, die den Integrationsprozess gefördert hat, mehr noch als das multikulturelle Zusammenwohnen, bei dem sich heutzutage Sozialpädagogen manchmal vergeblich bemühen, durch Organisationen von Nachbarschaftsfesten und Freizeitveranstaltungen in den Stadtteilen das tolerante Nebeneinander in ein vertieftes Miteinander zu bringen.
Ich erinnere mich selber an Begebenheiten aus meiner Arbeitswelt im Ruhrgebiet, wo Menschen verschiedener Herkunft sich viel mehr durch die gemeinsame Arbeit näher kamen als durch Freizeitaktivitäten.
In den Semesterferien arbeitete ich 10 Stunden täglich Hand in Hand mit den Griechen am Fließband der Fleischwarenfabrik Herta von Karl-Ludwig-Schweisfurh in Herten, dem späteren Aussteiger und heutigen alternativen Bio-Bauern als Begründer der Schweisfurth-Stiftung.
Daraus entstanden langjährige Freundschaften mit einigen Griechen, die mit mir zusammen die Schulbank auf dem zweiten Bildungsweg gedrückt haben und mich in ihr Heimatland einluden.
Oder als ganz junger Mensch war ich über 5 Jahre im Bergbau unter Tage tätig. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre kamen dann die ersten Türken, die der Bergbau angeheuert hatte. Heute stellen sie ein Viertel der Belegschaft.
Es gab eine große Belustigung darüber, daß die türkischen Arbeitskollegen anfangs wegen ihres islamischen Glaubens mit einem gestreiften Pyjama, einem Schlafanzug unter die Dusche in der Waschkaue gingen, um so vergeblich den rabenschwarzen Kohlenstaub vom Leib zu waschen.
Im Kohlenrevier 1000 m unter der Erde waren in der 3-4 köpfigen gemischten Arbeitsgruppe aber die türkischen und deutschen Kumpels so sehr auf Leben und Tod aufeinander angewiesen, daß hier zutiefst menschliche Freundschaften in der dunklen Arbeitswelt entstanden.
Das entkrampfte dann auch die Situation in der Waschkaue, und niemand brauchte den Bergleuten etwas von Integration beibringen, nachdem sie sich gegenseitig den schwarzen Kohlenstaub vom Rücken geschrubbt haben.
Heute leben in der Bergarbeiterkolonie, in der ich aufgewachsen war - mit 5 Personen auf weniger als 40 qm Wohnfläche - überwiegend türkische Familien schon in der zweiten bis dritten Generation. Und auch in meiner jetzigen Wohngegend leben wir vis a vis zu den städtischen Aussiedlerwohnungen mit Menschen aus Russland, Polen und der Ukraine.
Als 18-jähriger ging damals meine erste Auslandsreise als Studienreise nach Rußland, so daß eine gewisse Affinität zu dem Land und seinen Menschen entstand.
Später, als Stadtplaner und Landschaftsplaner im Ruhrgebiet und in vielen sozialen Organisationen, in denen ich tätig war, hatte ich oft mit Praktikanten aus aller Welt zu tun, auch aus Afrika und Brasilien - so daß die Welt ins Ruhrgebiet kam, ohne daß man selber die Welt bereisen mußte.
Und heute unterstützen ganz viele gebefreudige Ruhrgebietsmenschen unser Afrika-Projekt in Togo, eine Initiative aus Recklinghausen, die nach dem Vorbild der Sekem-Farm nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe betreibt, durch den Aufbau einer biologischen Ananas-Kulturfarm, aus deren Verkaufserlösen der Kindergarten, die Schule, das Kulturhaus und das Waisenhaus sowie die Ausbildungsstätten finanziert werden. Die Menschen der Dörfer erhalte Arbeit und können über Regionalgeld in regionalen Kreisläufen Einkommen erzielen. Derzeit ist meine Frau wieder für 2 Monate dort vor Ort.
Doch genug der persönlichen Anekdoten.
Sie sollten nur verdeutlichen, daß in der Zusammenarbeit von Menschen, in den gemeinsamen Arbeitsprozessen, eine vertiefte Menschenbegegnung stattfindet, mit gemeinsamen Arbeitsergebnissen oder -produkten.
Es erschließt sich im Ruhrgebiet somit der Sinn und Wert einer multikulturellen Gemeinschaft mit ihrer großen Integrationskraft.
Sie bringt uns verschiedene Denk- und Lebensweisen näher und bewirkt die Offenheit der Einheimischen.
Die aktuelle Diskussion um die Integration der muslimischen Bevölkerung in Deutschland ist aus der Sicht der Ruhrgebietsmenschen nur teilweise mitzuvollziehen.
Im Ruhrgebiet spielen die ehemaligen und die heutigen Zuwanderer eine wichtige Rolle für die zukünftige wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. Alle Hinzukommenden sind eine menschliche Bereicherung.
Bei der Betrachtung der Ruhrgebietsmenschen und ihrer sozialen Zukunftsaufgaben geht es folglich auch um soziale, ethische und moralische Fragen, aber auch um spirituelle Fragen. Ohne diese lassen sich auch die sozialen Zukunftsfragen nicht beantworten.
Gerade in vielen einfachen Menschen des alten Industriereviers steckt oft unvermutet einen beträchtliche kulturelle Leistungsreserve und eine nicht immer erkennbare, verborgene Spiritualität, auf die wir im Weiteren noch näher eingehen. In den Revierbewohnern leben sich teilweise hohe menschliche Werte aus, bis hinein in erprobtes Miteinander der Kulturen.
Der Ruhrgebietsforscher Dieter Steinhoff charakterisiert in seinem Buch vom unbekannten Ruhrgebiet dessen Bewohner in folgender Weise:
„Die wichtigste Voraussetzung für eine glückliche Zukunft des Ruhrgebietes sind seine Bewohner. Hier leben geistig bewegliche, dynamische Menschen, die Zupacken können, einen enormen Leistungswillen erkennen lassen und nicht leicht unterzukriegen sind. Dennoch sind es empfindsame Menschen.“
In den Gebetshäusern früher vor den Schächten und in den kirchlichen Knappenvereinen lebte sich auch gewisse Religiösität aus, ohne eine zur Schau gestellte Frömmigkeit. Ich erinnere mich an den katholischen Pfarrer unserer Kirchengemeinde in einem Bergarbeiterstadtteil, der durchaus mit den Bergleuten ein Bier trank, in der Kolonie ein und aus ging, deftige Sprüche losließ und seine Predigten kurz und knapp hielt, weil er auf die müden Nachtschichtler Rücksicht nahm.
Die äußerlich gebückten Menschen sind innerlich aufrecht und gemeinschaftsfähig. Die Würde der Arbeit wird durch sie verkörpert.
Die Revier-Menschen sind kreativ und zuversichtlich und haben die Gabe, sich immer wieder neuen Gegebenheiten und Herausforderungen anzupassen, in einer Region voller Intensität und Dichte, aber auch mit Weltoffenheit.
In diesem Sinne erkannte der Schriftsteller Gerhard Hauptmann , daß sich im Ruhrgebiet ein unerhörtes Stück Weltgeschichte abspielt. Und der Schriftsteller
Siegfried Lenz entdeckte viel Geheimnisvolles und Merkwürdiges im Ruhrgebiet - doch das merkwürdigste sei hier der Mensch.
Die Mentalität der Menschen hier ist allen Flüchtlingskindern sehr vertraut.
Man kann im Ruhrgebiet sehr vieles studieren, was zusammenhängt mit der Individualseele, dem ICH, im Verhältnis zur Gruppenseele, dem WIR.
Der mit der Industrialisierung begonnene Verschmelzungsprozess der vielen Menschen aus ganz Europa ist das eigentliche Mysterium des Ruhrgebietes, als einer modernen Mysterienstätte des Industriezeitalters und der Globalisierung, wie auch als sehr früher Geburtshelfer der Europäischen Vereinigung.
Die Menschen im Ruhrgebiet aus ganz Europa haben quasi die Einigung Europas vorweggenommen, bis hinein in die Institutionen. Die Montanunion als Vorläufer der EWG und die daraus entstandene EU haben ihren Ursprung seit 1951 hier im Ruhrgebiet.
Darauf bin ich ja ebenfalls bei meinem schon erwähnten letzten Vortrag hier in der Waldorfschule Essen, am 4. Juni 2003 ausführlich eingegangen. Viele von Ihnen waren ja als Zuhörer dabei.
In damaligen Vortrag ging es hauptsächlich um die Spiritualität des Ruhrgebietes mit seinen spirituellen Orten und künstlerischen Aktivitäten, mit der nüchternen und eher sozialpraktisch umgeformten Religiösität der Menschen in Form von schlichter Nächstenliebe.
Ich hatte das Ruhrgebiet aber auch als Willensregion bezeichnet und damit auf seine willensstarken Menschen abgezielt.
Denn strahlen nicht die Ruhrgebietsmenschen vor allem Wärme und Energie aus sowie Bodenhaftung und Erdverbundenheit? Sie haben das „gewisse Etwas“, wie viele Auswärtige bei einem Besuch feststellen, die sich hier recht schnell wohl fühlen.
(Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel).
Die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen der Entwicklung des Menschen und seiner Umgebung hatte ich beim letzten Vortrag ebenfalls dargelegt.
Und ich hatte darauf hingewiesen, daß die Städte früher nach spirituellen Gesichtspunkten landschafts- und menschengerecht gebaut wurden.
Eigentlich ist es ja eine Binsenweisheit, daß der Mensch seine Umgebung prägt und die Umgebung wiederum den Menschen prägt, ein geistig-seelisches Wechselspiel bis hinein ins Physische.
Man sieht es der Region Ruhrgebiet geradezu an, daß die hier wirkenden Menschen den Sinn ihres Lebens in der Arbeit sehen und in dem Streben nach Sachlichkeit.
Kaum eine andere Region hat übrigens so viele äußere Veränderungen und Wandlungen erfahren wie das heutige Ruhrgebiet in seiner 150-jährigen wechselhaften Geschichte.
Damit gingen stets innere Veränderungen der hier lebenden und gestaltenden Menschen einher, denn die äußere Umgebung ist ja Ausdruck des Inneren.
Wer sich ein wenig mit der anthroposophischen Volksseelenkunde beschäftigt hat oder mit Völkerpsychologie, der weiß ja auch um den Zusammenhang von Landschaft und Volkstum, von Volkstemperament und Volkscharakter sowie Sprache.
Der Volksgeist als Kern der Volksseele kommt in der Landschaft zum Ausdruck.
Das Seelische - das Vorstellen, Fühlen und Wollen - wird ja sehr stark von der Lebensumwelt geprägt.
Die Volksseelen haben Beziehung zu den Lebens- und Bildekräften (anthroposophisch gesprochen: zu en Ätherkräften) ihrer Landschaften, bis hinein in sentimentale Heimatlieder, in denen ja meist die Landschaftsseele besungen wird.
Und diese Bildekräfte wirken sich aus bis in die Statur und äußere Gestalt der Menschen, vom schlanken großen Norweger bis zum gedrungenen, kräftigen Alpenbewohner.
Was großräumig für ganze Landesteile gilt, das gilt auch kleinräumlich für einzelne Regionen und die dort lebenden Menschen, somit auch für das Ruhrgebiet.
Die Menschen wandern ja in diejenigen Gebiete, die ihrem Charakter und Gemüt irgendwie entsprechen; das war schon bei den germanischen und slawischen Stämmen so.
Und das gilt auch für die Zuwanderer im Ruhrgebiet und anderswo.
- Der fröhliche Menschenschlag lebt in den Weinbergen, die eher phlegmatischen Menschen an der Küste und auf Inseln, die cholerischen in den Bergen, die melancholischen im Flachland, in der weiten Ebene, und die ernsten und bedächtigen, aber innerlich beweglichen Menschen in den buntgemischten industrialisierten Stadtlandschaft im Ruhrgebiet.
Die Landschaft und die Mitmenschen vermitteln ja das Gefühl von Heimat, das gilt sogar für die Industrielandschaft. Und der gewählte Standort beeinflusst dann die Entwicklung der Menschen:
- Die Menschen an den Küsten und Meeren sind zumeist aufgeschlossen für Fremdes; sie zieht es in die Weite und sie sind weltoffen. Bei den benachbarten Holländern geht die Offenheit soweit, daß sie mit ihren großen Fenstern ohne Gardinen sogar ihr Privatleben durchsichtig machen.
- Die Menschen im Binnenland sind mehr introvertiert.
- Die Gebirgsbewohner leben mehr zurückgezogen in ihren Tälern und Höhen, aber sie haben oft ein großes Freiheitsbedürfnis wie etwa die Schweizer oder Norweger, mit einem Hang zum Individualismus.
- Bei den Flachlandbewohnern besteht ein Hang zur Vergesellschaftung und Gemeinschaftsbildung, wie die Geschichte z. B. Osteuropas zeigt.
Das alles kann bis auf einzelne Völker sich auswirken und sich regional differenzieren, ich will es nur beispielhaft andeuten, ohne daß Sie es als klischeehaft empfinden mögen:
- Die Franzosen und Schweden haben einen Hang mehr zum Kollektivismus;
- in Deutschland dominiert das Rechtsstaatliche, die Gerechtigkeitsfrage und die Fixierung auf die Ausbildung;
- in Ungarn spielt die gesellschaftliche Stellung eine große Rolle - im Ruhrgebiet dagegen kaum: hier zählt nur der wahre Mensch, ohne Lüge und Schein.
Die Ruhrgebietslandschaft mit ihren verschiedenartigen Landschaftstypen - ein nur wenig homogenes Landschaftsmosaik - prägt den hier lebenden Menschenschlag in differenzierter Weise.
Hier gilt die Einheit in der Vielfalt!
Auf verhältnismäßig kleinem Raum sind viele Landschaftscharaktere vertreten, die sich die Menschen hier angeeignet haben:
Der menschliche Wohn- und Lebensraum reicht hier vom Flachland der Soester Boerde im Osten bis zur niederrheinischen Tiefebene im Westen, vom Gebirgsland des Bergischen und des Sauerlandes im Süden bis zur welligen Hohen Mark und den Seen- und Heidegebieten der Halterner Sande im Norden, dazwischen das Ruhrtal, die Emscherniederung und das Lippetal.
Leider habe ich jetzt keine Landkarte des Ruhrgebietes mitgebracht und keine Bilder von den hier lebenden Ruhrgebietsmenschen. Aber es sollen ja hier mehr innere Bilder entstehen.
Es befinden sich im Süden des Reviers die alten geologischen Formationen von Devon und Karbon; im Norden mit der Münsterländer Kreide die jüngeren geologischen Formationen, zum Osten dann wieder Kreide und Muschelkalk und im Westen, in der Niederrheinlandschaft, eine Landschaftsschwelle mit Umschwung zu einer anderen, leichten und weltoffenen Landschaftsstimmung.
Dieser Lebensraum bietet also ein große Spannungsfeld für die Menschen.
Ich weiß nicht mehr genau, von wem folgender Ausspruch stammt:
„Was der Raum geistig offenbaren kann, gehört einer älteren Menschheit an. Der Sohn der Neuzeit sucht die Begegnung mit dem Erdgeist.“
In der Landschaftsformation des Ruhrgebietes zeigt sich Kraft der Vereinigung des Widerstrebenden - mit einem Umschwung der jeweiligen Landschaftsstimmungen:
Der Nordrand des Reviers war in der Eiszeit noch vom Meer geprägt, weiter geht es über Flachlandzonen in der Mitte bis hin zu den Gebirgsfaltungen des Sauerlandes im Süden und der herben, überalterten Landschaft des Bergischen Landes, wo ja die Industriealisierung begann.
Und das Ganze ist von Menschenhand überformt und zersiedelt durch das unübersichtliche Häusermeer, die Industriegiganten und das Schienen- und Straßengewirr sowie das künstliche Haldengebirge.
Zugleich ist das Ruhrgebiet als Stadt der großen Dörfer geprägt von dezentralisierten Strukturen, so daß die Ruhrstadt als zentralistischer Politiker-Traum keine wirkliche Chance bei den Ruhrgebietsmenschen hat, obwohl sie das WIR-Gefühl anspricht. Es obsiegt aber der Hang zu Individuellen.
Das Ruhrgebiet bietet verschiedene Stadt- und Landschaftscharaktere und sorgt so für innere Differenzierungen, wodurch die Region auch als Wahl-Heimat für unterschiedliche Menschen aus den verschiedensten Ländern geeignet ist.
Daraus entwickelte sich die sozialräumliche Gliederung des Ruhrgebietes.
Mit der Verstädterung ganzer Landschaften aus plattem Nützlichkeitsdenken darf aber keine Nivellierung und Chaotisierung der Lebensverhältnisse eintreten, denn dann würde dem Bewohner dieser Städte der Schatten und die Seele fehlen.
Die Ausstrahlungsbereiche und Dunstkreise der industrialisierten Stadtlandschaften beeinflussen ja die menschliche Entwicklung.
Was geschieht nun mit Menschen im Häusermeer im Anblick der großen dampfenden Kraftwerke und Schlote?
Was geschieht mit Menschen, die tief unter der Erde arbeiten oder mit dem Element Feuer in Schmieden und Hochöfen gestählt wurden?
Die Verbindung von Mensch und Industriekultur oder von Mensch und Natur - die es ja im Ruhrgebiet auch noch gibt und vielfältig in der Freizeit genutzt und aufgesucht wird - die führt zu einer Symbiose von Mensch und Umwelt.
Die meisten Menschen haben in sich die Sehnsucht nach einer Idealgesellschaft mit einem idyllischen Leben im Einklang mit der Natur, das die Menschen hier im Ballungsraum lange entbehren mußten, dafür aber in ihrer industriellen Umgebung spirituelle Orte aufspürten - oder Natur aus zweiter und dritter Hand neu anlegten.
Die meisten Menschen haben überdies Sehnsucht nach sozialem Einklang mit den Mitmenschen.
Beide Träume haben die Menschen hier versucht, zu realisieren, z.B. auch in ihren kleinen idyllischen Schrebergärten zwischen Bahngleisen, Autobahn und Kühltürmen, bei ihrem Vereinsleben mit Treffpunkt im Grünen, bei ihrer gepflegten Nachbarschaft, mit ihren Kumpels am Arbeitsplatz.
Oder mit künstlerischer Betätigung, denn die Kunst fördert das Soziale.
Ich berichtete ja bei meinem zurückliegenden Vortrag auch über den künstlerischen Impuls des Hagener Industriellen Karl-Ernst Osthaus, der die Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens mit Hilfe der Kunst fördern wollte, indem er Schönheit in die häßliche Umgebung hineinzubringen versuchte.
Seine künstlerische Vision richtete sich auf die soziale Realität der Industriestädte, damit die Umgebung auf die Menschen sozial wirken kann.
Auch das Anliegen der Ruhrfestspiele war ja die Schaffung einer sozialen Kultur im Tausch von Kunst gegen Kohle.
Und ich berichtete über Ruhrgebiets-Künstler wie Wolfgang Wendker oder Klaus Heid, die nicht nur Kunst in der Landschaft, sondern Kunst mit der Stadtlandschaft praktizierten. Das war auch Anliegen der engagierten Menschen in der Internationalen Bauausstellung Emscherpark - mitten in den verlassenen Industrie-Ruinen und Brachen als anzueignende und zu verwandelnde Erdenräume.
Deren Botschaft an die Menschen lautete: „Ein Besuch im Ruhrgebiet wird Dein Leben verändern.“ Ihnen ging es auch um soziale Kunst.
Inzwischen gehen Künstler aus aller Welt im Ruhrgebiet ein und aus, die Kunst- und Kulturveranstaltungen in den alten Industriegemäuern Ruhrgebiet - darunter die Essener Zeche Zollverein als Weltkulturerbe - genießen weltweite Aufmerksamkeit; als Kunstobjekte dienen vielfach die Menschen selber im Ruhrgebiet, z.B. bei den Fotokünstlern oder Filmemachern.
Und interkulturelle Feste gibt es mittlerweile in jeder Ruhrgebietsstadt, ebenso den Dialog zwischen Religionen und Konfessionen - von der islamischen Moschee in fast jeder Ruhrgebietsstadt über den Hindu-Tempel in Hamm bis zur griechisch-orthodoxen Kirche in Herten und den jüdischen Synagogen in mehreren Revier-Städten ist ja alles im Ruhrgebiet präsent.
Die Menschen im Ruhrgebiet, im Land der europäischen Mitte, auf halber Strecke zwischen der Europa-Hauptstadt Brüssel und der deutschen Hauptstadt Berlin, im Inneren ein Europa im Kleinen, haben überdies eine Art Vermittlerfunktion zwischen West und Ost:
- Ob es der historische Hellweg durch das Ruhrgebiet ist, die alte Salzstraße oder heilige Pilgerstraße von Westeuropa bis in den Nordosten nach Nowgorod, heute noch eine Transitstrecke zwischen West und Ost seit Öffnung der Grenzen,
- oder der europäische Steinkohlengürtel von Ost nach West, von Rußland und Oberschlesien über das Ruhrgebiet bis nach Belgien, Nordfrankreich und England,
sie markieren und symbolisieren die Bedeutung der immer noch größten europäischen Industrieregion für die Ost-West-Beziehungen der Menschen in Europa.
Das östlich-slawische Element hat ja den Ruhrgebietsmenschen eingeprägt, daß man den Kopf nicht trennen kann vom Herzen und vom Fühlen. Die Gedanken der Menschen hier sind sozusagen mit Herzblut getränkt.
Geist und Seele sind hier intim vermählt in der Verbindung von Denken und Fühlen.
Zugleich aber wirkt auch das Intellektuelle der Westslawen auf die Bewußtseinsseele der Menschen hier ein. Dadurch bekommen die Ruhrgebietsmenschen eine Ahnung davon, wie die geistige Welt in die physische Welt verändernd einwirkt, durch menschliche Willenskräfte und Arbeit.
Und dadurch werden in der Region von Kohle und Eisen die Willenskräfte der handlungsorientierten Ruhrgebietsmenschen mobilisiert.
Das in den Menschen entfachte Feuer soll aber nicht vieles in Brand stecken und dann Kohlen hinterlassen.
Das schmiedende Feuer soll kein verzehrendes, sondern ein verwandelndes sein.
Verwandlung ist ein Hauptmotiv des Ruhrgebietes und seiner anpassungsfähigen Menschen.
Aber die konkreten sozialen Aufgaben der Ruhrgebietsmenschen für die soziale Zukunftsgestaltung sind noch vielfältiger und weitergehender.
Denn die Menschen des Ruhrgebietes stehen mitten in der Wirklichkeit des heutigen politischen Lebens.
Versuchen wir den Zukunftsblick zunächst noch einmal aufzuklären durch einen vorherigen Rückblick in die Vergangenheit, in die Sozialgeschichte der Ruhrgebietsmenschen.
Diese ist geprägt von Gewerkschafts- und Genossenschaftsgründungen, von Streiks und Widerständen, aber auch von Immunität gegenüber politischer Agitation bis hin zu den nur sehr geringen Wahlerfolgen der NSDAP seinerzeit im Ruhrgebiet.
Auch den Gewerkschaften und ihren Funktionären gegenüber zeigten sich die Arbeitnehmer nicht immer folgsam; das war vor 100 Jahren nicht anders als beim jüngsten wilden Streik bei Opel.
Der als März-Revolution bezeichnete Generalstreik gegen den Kapp-Putsch 1920, der als der bedeutendste Arbeiteraufstand in der Geschichte des Ruhrgebietes galt, ging weitgehend über die Köpfe der Gewerkschaften hinweg.
Auch der große Bergarbeiterstreik von 1905 wurde gegen den Willen der Gewerkschaft von der Hälfte der Teilnehmer einfach verlängert.
Trotzdem waren die Arbeiter im Ruhrgebiet keine ideologischen Klassenkämpfer.
Der große Streik verlief insgesamt trotz 200.000 Teilnehmern im Ausstand sehr ruhig und diszipliniert.
Die Tatsache, daß sich bis zu 90% der Bergleute am Streik beteiligt hatte, ließ die Unternehmer nicht umstimmen, wohl aber die beeindruckte Regierung:
Die wesentlichen Beschwerden der Bergleute wurden durch gesetzliche Regelungen aufgegriffen - trotzdem streikte die Hälfte gegen den Willen der Gewerkschaft solange weiter, bis auch die Arbeitszeit auf 8,5 Stunde verkürzt wurde und Ausschüsse zur Mitsprache in den Betrieben eingerichtet wurden, die aber in Lohnangelegenheiten nichts zu sagen hatten.
Lange Zeit galt das Ruhrgebiet als Region, in der die Interessengegensätze schroff aufeinanderprallten und der politisch-industrielle Komplex mit dem Herr-im-Hause-Standpunkt keinen Fuß breit Konzessionen an die Gewerkschaften machte - fast so wie heute wieder in der neoliberalen Wirtschaftsdominanz mit dem Abbau sozialer Errungenschaften.
Damals wie heute mußte die arbeitende Bevölkerung im Ruhrgebiet auch eine Ungleichheit der sozialen Verhältnisse im Ruhrgebiet im Vergleich zu anderen Regionen, Industriegebieten und Lebensräumen feststellen.
Für die arbeitende Ruhrgebietsbevölkerung ging es damals wie heute um Fragen der Menschenrechte und Menschenwürde in der Arbeitswelt, um den Sinn und Zweck des Wirtschaftens für die Menschen und die gerechte Teilhabe aller am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand, aber auch um Mitsprache und Mitbestimmung über die eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen mündiger Menschen - die ja heute wieder in Frage gestellt wird, weil man die Menschen entmündigen und bevormunden möchte auf dem Weg in eine Art Wirtschaftsdiktatur.
Deshalb lehnten sie sich im Ruhrgebiet 1945 auch gegen Anordnungen der Besatzungsmächte auf, nachdem die Militärregierung ihnen die Mitspracherechte und eigene Kompetenzen in den Betrieben verweigern wollte, sondern immer noch nationalsozialistisch eingefärbte Betriebsführungen vor die Nase setzte.
Auf der anderen Seite erlebten sie noch ein unternehmerisches Leitbild, in dem die Pflicht zu einer gewissen sozialen Fürsorge für die Menschen im Ruhrgebiet selbstverständlich war, bis hin zu sozialreformerischen Experimenten im Arbeiterwohnungsbau mit der Einheit von Arbeiten, Wohnen und Freizeit.
Aber auch Lehrlingswohnheime, Speisehäuser und Erholungsheime für die Arbeiterfamilien gehörten dazu sowie eine künstlerische Gestaltung der Industriearchitektur.
Der Stahl-Unternehmer Alfred Krupp aus Essen jedoch wollte dem in seiner Firmenleitung 1872 einen Riegel vorgeschoben:
Ein Fabrikbau dürfe nicht mehr kosten, als „billigst herzustellen“, da ein Fabrikbau unter reinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten nichts anderes sei, als ein Schirm gegen Wind und Wetter. Krupp wörtlich:
„Alle Mehrkosten für Anlagen innerhalb der Fabrik und für dieselbe, welche keinen weiteren Zweck haben als Ansehen, Stil und Befriedigung von Schönheitsinn, müssen für immer verpönt sein.“
Damit ist er dem heutigen Zeitgeist voran geeilt. Aber er konnte sich mit seiner rein Zweck orientierten Verachtung der Architekten und der Architektur damals noch nicht durchsetzen. Gerade die Zechenarchitektur wetteiferte mit ihren Prachtbauten, die oft an mittelalterliche Burgen oder Sakralbauten erinnerten
Und auch die Architektur der Zechenkolonien wollte mit dem Baustil z.B. denjenigen Menschen ein besonders Heimatgefühl vermitteln, die als Zuwanderer an ihre ländliche Heimat in Masuren und anderswo erinnert und herbeigelockt werden sollten.
Es gab noch so etwas wie eine innere Beziehung zu den arbeitenden Menschen, zu ihren Gefühlen und ihrem Wohlbefinden. Vieles von dem ist verlorengegangen.
Was bleibt, ist die Feststellung, daß im Ruhrgebiet also schon vor ein und zwei Jahrhunderten diejenigen Kämpfe ausgetragen worden sind, die heute im Zuge der neoliberalen Globalsierung mit dem Verlust des Sozialen an der Tagesordnung sind.
Lassen Sie mich zum Abschluss dieses Vortrages den Versuch einer Zusammenfassung unternehmen, um brauchbare Antworten zu geben auf die Frage des Vortragsabends:
Was ist denn nun die besondere Aufgabe der Ruhrgebietsmenschen für die soziale Zukunftsgestaltung?
Da fallen mir mehrere Punkte ein, insgesamt 12 Punkte, bei denen die Menschen im Ruhrgebiet Zukunftsentwicklung vorweggenommen haben, um die Erfahrungen nun den anderen Menschen schenken zu können:
- Wenn demnächst über 60% der Menschheit weltweit in großen Metropolen und Megastädten mit -zig Millionen anderen Menschen zusammenleben wird, mit Elendsviertel und Slums aufgrund der Armutswanderungen in die Ballungsräume, dann wird man von den Menschen im Ruhrgebiet lernen können, wie soziale Integration erfolgen kann in dichtbesiedelten Lebensräumen - und wie die industrialisierten Lebensräume selber lebenswert und bewohnbar bleiben mit hoher Lebensqualität und innovativem Umweltschutz.
- Wenn derzeit Hunderte Mio. Menschen weltweit ohne Arbeit und Einkommen sind im Zuge der Globalisierung und 1 Mrd. Kinder (also jedes zweite Kind weltweit), an der Armutsgrenze lebt, dann werden die Menschen in dieser Region der Arbeit und der Arbeitslosigkeit wesentliche Beiträge und Modelle bieten können für einen neuen Arbeitsbegriff mit der Trennung von Arbeit und Einkommen und der Loslösung von der Erwerbsarbeit, um das gesellschaftliche Krankheitssymptom der Arbeitslosigkeit an den Wurzeln zu heilen: Die soziale Frag als Schicksalsfrage unserer Kultur und als Frage der sozialen Verteilungsgerechtigkeit. Menschliche Arbeitskraft kann keine Ware sein. Jeder Mensch - mit und ohne Arbeitseinkommen - hat Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein und auf Solidarität: diese Grundhaltung haben die Ruhrgebietsmenschen verinnerlicht und können sie nun veräußern.
- Wenn im Zuge der Gobalisierung die Länder des Südens und Ostens von einer Industriealisierungswelle überrollt werden, weil die Standorte der Produktionsstätten und die Arbeitsplätze nach dort verlagert werden, dann werden Jahrzehnte später dort ähnliche Probleme wie im Ruhrgebiet entstehen nach Rückzug der Industrie. - Im Anblick sozialer und umweltgeschädigter Katastrophengebiete wird man sich des teilweise erfolgreichen Strukturwandels durch die Menschen im nachindustriellen Ruhrgebiet erinnern, wie sie die Umweltschäden und die sozialen Schäden der industriellen Ära kreativ bewältigt haben - vom blauen Himmel über der Ruhr bis zu den kleinteiligen sozialen Netzwerken der Menschen, die nicht aufgeben.
- Wenn in der grenzenlosen Welt mit einer globalisierten Wirtschaft nationalstaatliche Grenzen und Territorien keine Rolle mehr spielen und die globalen Völkerwanderungen weiter zunehmen, dann wird man sich das Modell des multikulturellen Zusammenlebens der Menschen im Ruhrgebiet zum Vorbild nehmen und davon lernen. - Der Zusammenprall der Kulturen findet ja in Zukunft weniger global zwischen einzelnen Ländern und Religionsräumen statt, sondern kleinteilig in den einzelnen Stadtteilen und Wohnquartieren, an den Arbeitsplätzen in den Betrieben, im konkreten Alltag eines jeden Menschen in einer zunehmend grenzenlosen Welt.
- Wenn die entfesselte globalisierte Wirtschaft weiterhin keine Rücksicht mehr nimmt auf die Lebensbedürfnisse der Menschen und ihre regionalen Wirtschafts- und Lebenszusammenhänge, dann wird man sich nach dem Vorbild der Ruhrgebietsmenschen wieder auf die eigene Kräfte und Möglichkeiten der Regionen besinnen, denn die Regionalisierung ist die notwendige Folge der Globalisierung und bedarf der Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe.
- Wenn der rücksichtslose wirtschaftliche Konkurrenzkampf nach dem egoistischen Prinzip des Sozialdarwinismus weiter voranschreitet und die Kluft zwischen arm und reich unerträglich vergrößert, wird man sich der vielfältigen Ansätze des kooperativen und solidarischen Wirtschaftens und Arbeitens der Menschen im Ruhrgebiet erinnern. - Ihr Alltagsverhalten hat über 2 Jahrhunderte deutlich gemacht, daß in der arbeitsteiligen Welt einer auf den anderen angewiesen ist, daß Bescheidenheit, Verzicht und Teilen vonnöten sind als Überlebensstrategie: Miteinander statt gegeneinander!
- Je mehr die unzulässige Verflechtung und Verquickung von Politik und Wirtschaft sowie Wissenschaft voranschreitet und weltweit die Ökonomie über das gesamte Leben bestimmt, dann wird man sich den Kampfgeist und die Widerstände der Menschen im Ruhrgebiet zum Vorbild nehmen können, die mit ihrem Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden stets gegen Lüge und Verfilzung im öffentlichen Leben angegangen sind und für ihre demokratischen Mitspracherechte gekämpft haben und für soziale Ausgewogenheit. - Mit zivilgesellschaftlichem Mut haben sie sich gegen erstarrte Institutionen und selbsternannte Autoritäten gestellt und ihr Schicksal gemeinschaftlich in die eigene Hand genommen.
- Wenn die barbarischen Verhältnisse und Chaotisierungen im Gemeinschaftsleben weltweit weiter voranschreiten und die Menschheitskultur zerstören, dann wird man sich die kulturbildende Kraft der Menschen im Ruhrgebiet mit ihrer solidarischen Umgangskultur zum Vorbild nehmen, die in ihrem Völkergemisch eine neue Regionalkultur geprägt haben, indem sie zusammen lernend arbeiten und arbeitend lernen.
- Je mehr die Menschheit ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen nicht zur Grundlage ihres praktischen Handelns machen, z.B. im Umweltsektor, bezüglich der Klimakatastrophe, beim Verbraucherverhalten, in der Friedenspolitik und mit Blick auf das soziale und wirtschaftlichen Desaster, dann geht die ganze Menschheit in den Niedergang. - An den Ruhrgebietsmenschen können sie studieren, wie man vom Denken und Fühlen auch tatsächlich in das richtige Tun und Handeln kommt und die eigene Willensschwäche überwindet. Der Wille ist ja in die Zukunft gerichtet. Das gelingt aber nur, wenn sich die Menschen in der sehr materialistischen Umgebung ihre Spiritualität bewahren und sie so pflegen, daß sie nicht im Gewand der Frömmigkeit daherkommt, sondern im Gewand der Alltäglichkeit, bei jeder Menschenbegegnung und Zusammenarbeit. Das leben viele einfache Ruhrgebietsmenschen vor, deren ganzes Leben ein Einweihungsweg der Verwandlung war.
- Wenn die Menschen an alten Strukturen, Verhaltensweisen und Besitzständen festhalten wollen, die Vergangenheit und Gegenwart einfach in die Zukunft fortschreiten wollen, dann können sie am Beispiel der Ruhrgebietsmenschen lernen, wie man sich immer wieder neu auf veränderte Herausforderungen einstellt, sich ständig wandelt und weiterentwickelt und sich die Zukunftsgestaltung zur ständigen Aufgabe macht.
- Und wenn soziale Kälte und Anonymität immer mehr Einzug halten in die Menschengemeinschaft, dann kann man hier bei den einfachen Ruhrgebietsmenschen das Allgemeinmenschliche, die Seelenwärme erspüren und die Nächstenliebe erfahren, ohne die menschliches Zusammenleben unerträglich würde.
Und so bedanke ich mich zum Schluß hier bei allen Anwesenden, daß Sie mir mit ihrer warmherzigen Liebenswürdigkeit als Ruhrgebietsmenschen so lange und aufmerksam zugehört haben - obwohl ich den Rat eines anderen Vortragsredners hier vor 14 Tagen nicht befolgt habe: Nämlich, „lösen Sie sich von Pult und Manuskript und sprechen sie frei“ - aber der ehrliche Ruhrgebietsmensch, der ja ungern lange Reden schwingt, will ja nicht mehr scheinen als sein, und bekennt sich offen dazu, ohne den physischen Halt noch nicht auszukommen.
Doch auch das Physische gilt es geistig zu verwandeln, und der Geist des Ruhrgebietsmenschen steckt in allem, was uns hier umgibt - und er webt auch wechselseitig zwischen Redner und innerlich bewegten Zuhörern.
Vielen Dank für dieses Gemeinschaftserlebnis.