(Januar 2016, Leserbrief an die RZ)
„PLÄDOYER FÜR EINE ANDERE SICHT AUF DIE FLÜCHTLINGSPROBLEMATIK“
Erweist sich nicht bei genauerem Hinsehen die kontroverse öffentliche und politische Debatte über die „Flüchtlingsproblematik“ in ihren vielfältigen Erscheinungsformen in Wirklichkeit als Beleg unserer eigenen Bewusstseins-Problematik und Rückständigkeit? Deshalb hier mein Plädoyer für eine andere, erweiterte Sicht auf die aufwühlenden Zeitereignisse, zur Erweiterung des nur tagespolitischen Horizontes:
Der unergiebige politische Aktionismus und das mehr hilflose als hilfreiche Reagieren auf die großen Herausforderungen der weltweiten „Völkerwanderungen“ verdeutlichen eigentlich die Machtlosigkeit der populistischen Politik gegenüber den neuen Menschenbewegungen in ihren historischer Dimension. Da hilft wohl kaum der Ruf nach „drastischen Maßnahmen“ und „Grenzziehungen“ durch den „starken Staat“ bis hin zum Überwachungsstaat, um den Problemen mit einer nationalen und territorialen Abschottung zu begegnen - als eine nur scheinbare „Problembewältigung“.
Um die Phänomene in ihren tieferen Ursachen, Hintergründen und Zusammenhängen zu ergründen, hilft auch nur bedingt das rhetorische Beschwören der „Ursachenbekämpfung“ – ohne diese auch konkret beim Namen zu nennen und die „Bekämpfungsstrategien“ und die politisch notwendigen Kurskorrekturen im Einzelnen aufzuzeigen. Es ist ja eine Binsenweisheit, dass unser Reichtum auf der Armut der anderen gebaut ist und dass nur teilen alle reich macht. Alles bloße Herumbuchstabieren an den wirtschaftlichen und kriegerischen Anlässen der Fluchtbewegungen erscheint eher wie ein stammelndes Nichtverstehen der momentanen großen Wanderungsbewegungen mit ihren zeitgemäßen völkischen Vermischungstendenzen. Das Flüchtlingsschicksal erweist sich somit als Menschheitsschicksal und damit als individuelle Herausforderung für jeden Einzelnen.
Denn das Nationalitätenprinzip und die Zeiten der Nationalstaaten, die sich seit dem ausgehenden Mittelalter gebildet haben, sind in Wirklichkeit unwiderruflich vorbei! Und mit ihnen schwindet auch vollends die Bedeutung der ethnischen Rassen-, Gruppen- und Stammeszugehörigkeiten, der Gruppen- und Familienbindungen sowie der religiösen und kulturellen Abgrenzungen. Vielmehr scheint es das Menschheitsschicksal dieses Jahrhunderts zu sein, dass sich gerade in großen Wellenbewegungen die Völker schicksalsmäßig auseinanderentwickeln, um trotz aller Spannungen und Konflikte individuell aufeinander zuzugehen. Die einen verlieren ihre Wurzeln und Heimat, die anderen fürchten um ihre Heimatidylle durch „Eindringlinge“. Eigentlich ist es aber doch eine kosmopolitische Chance, wenn die gesamten Kulturkreise über die einzelnen Menschen in Kontakt kommen, gerade auch in Europa.
Insofern hat die große, anhaltende Flüchtlingsbewegung eines mit sich gebracht: Ein großes Erwachen, geradezu ein überfälliges Aufwach-Erlebnis in Europa durch die Konflikte und Spannungen: Die Helfenden mit ihrer „Willkommenskultur“ einerseits und die „Ausländerfeinde“ andererseits, die jeweils ihre neuen Seeleneigenschaften zutage fördern. Nötig ist ein Bewusstsein über die geschichtliche Größe dieser historischen Zeitereignisse, bei denen wir als wache Zeitgenossen gefordert sind – denn jetzt ist jeder einzelne Mensch als Individualität gefragt, nicht als Staats- oder Gruppenzugehöriger. Der Ruf nach „Erhaltung der Freiheit“ in Europa ist der Entwicklungsauftrag zur individuellen Handlungsfreiheit, orientiert an den allgemeinen Menschenrechten. Eine freie Individualität kann aber nur derjenige werden, der sich mit der ganzen Menschheit verbunden fühlt und sich nicht von „den anderen“ abgrenzt, getreu der Erkenntnis. „Durch die Augen des anderen schaue ich mich selber an“. Aus dieser Sich lässt sich vielleicht anders auf die Bewältigung der Alltagsprobleme blicken?
Wilhelm Neurohr