Pro und Kontra TTIP - Auseinandersetzung mit dem IHK-Geschäftsführer Nord-Westfalen (Prof. Dr. Bodo Risch):
Gesendet: Montag, 30. März 2015 um 17:48 Uhr
Von: risch@ihk-nordwestfalen.de
An: "Wilhelm Neurohr" <Wilhelm.Neurohr@web.de>
Betreff: Antwort: TTIP-Beschluss Regionalausschuss
Sehr geehrter Herr Neurohr,
vielen Dank für Ihre direkte Zusendung des Leserbriefes, auf den ich gerne antworte. Dabei möchte ich auf die bei diesem Thema inzwischen übliche Empörungsprosa verzichten, da sie zur Sache wenig beiträgt.
Die erwähnten Beschäftigungseffekte ergeben sich aus der ergänzenden Mikrostudie des ifo-Instituts, die Ihnen offenbar nicht bekannt ist. Sie finden die entsprechenden Berechnungen auf den Seiten 28 ff. der angehängten pdf-Datei. Weder hierzu noch zu der gesamtwirtschaftlichen Untersuchung des ifo-Instituts sind mir Einwände von wissenschaftlicher Seite bekannt, die Zweifel an den Zahlen begründen würden. Da es sich wie üblich um konditionierte Aussagen handelt, ist es möglich, dass im Rückblick die tatsächlichen Werte anders aussehen - aber aus der ex-ante-Sicht ist die vorliegende Untersuchung nach meiner Einschätzung die fundierteste Darstellung zu erwartender Verlaufsmuster, die derzeit auf dem Markt ist.
Die Daten sind daher auch nicht, wie von Ihnen behauptet, von mir falsch widergegeben - irrtümlich verweisen Sie auf eine BDI-Verlautbarung, bei der es um Zahlen des CEPS ging. Die wurden aber von mir nicht in der Pressemeldung verwendet (und im übrigen in meinem Vortrag vor dem Regionalausschuss auch zutreffend zitiert und eingeordnet).
Es ist keine "kühne Behauptung" zu erwarten, dass gerade die kleinen und mittleren (eher die letzteren) Unternehmen von einem weitgehenden TTIP besonders profitieren werden. Für die Großunternehmen sind Zölle sowie unterschiedliche Standards und Zulassungen nicht wirklich ein Problem, zumal sie ohnehin oft schon seit Jahren große Niederlassungen in den USA haben. Es ist vielmehr genau anders herum: mit TTIP besteht gerade für KMUs eine größere Chance, auf den US-Markt zu kommen, weil sich die Hürden des Marktzugangs verringern würden. D.h. gerade weil die Unternehmensstruktur in unserer Region so ist, wie Sie zutreffend herausgefunden haben, ist es in unserem Interesse, dass der Mittelstand einen einfacheren Weg in die USA findet (er wird dessen ungeachtet noch schwierig genug bleiben). Das belegen uns nicht nur zahlreiche Firmenbesuche, wo das Thema immer wieder angesprochen wird, die Ergebnisse von Going Global (http://www.dihk.de/themenfelder/presse/meldungen/2014-03-26-ttip-umfrage), nach der etwa sechzig Prozent der außenhandelsorientierten Unternehmen TTIP für "wichtig" oder "sehr wichtig" halten, wie auch der Umstand, dass derzeit schätzungsweise nur 400 Unternehmen im USA-Geschäft tätig sind. Da ist noch viel Luft nach oben, vor allem wenn die Kosten des Marktzutritts geringer werden.
Ausgangspunkt dabei ist, dass wir nach der Mehrwertsteuerstatistik knapp 10.000 Unternehmen haben, die im Auslandsgeschäft tätig sind - offenbar können sie sich gegen ausländische Konkurrenz gut behaupten, denn sie sind in über 170 Ländern der Welt unterwegs. Der Umsatzzuwachs beim Export belief sich von 1990 bis 2013 auf 155 Prozent, die Exportquote verdoppelte sich von 20 auf 39 Prozent. Etwa 70 Prozent des Zuwachses beim Gesamtumsatz der Industrie sind aus dem internationalen Geschäft gekommen - wer die Chancen der Auslandsmärkte nicht ergriffen hat, dürfte mithin ein Problem gehabt haben. Wenn die KMUs dem harten Wettbewerb auf den Weltmärkten nicht gewachsen gewesen wären, hätte es diesen Beweis mittelständischen Leistungsfähigkeit nicht gegeben. Die "transnationalen Großkonzerne" haben sicher auch ihre Vorteile von TTIP, aber sind ohnehin schon seit vielen Jahren auf den relevanten Märkten in der EU bzw. den USA vertreten.
Bei ISDS habe ich die Unternehmen auf eine anscheinend stärkere Klagefreudigkeit von Unternehmen hingewiesen, aber zugleich deutlich gemacht, dass dies kein Grund sein sollte oder muss, auf Schiedsgerichte zu verzichten, sondern für zwei Nebenbedingungen zu sorgen - einmal für mehr Transparenz, was die EU durch den Beitritt zu den einschlägigen UNCITRAL-Regelungen beabsichtigt, zum anderen für eine Abwehr von Missbrauch, wozu es verschiedene Vorkehrungen gibt, die teilweise bereits in CETA eingeflossen sind. Man kann hier prozedural Änderungen herbeiführen, die ein funktionsfähiges ISDS schaffen würden, ohne dass man gleich darauf verzichten müsste. Mehr dazu etwa bei Henning Klodt vom Institut für Weltwirtschaft:
Schließlich gehen Sie auf NAFTA ein, um die schädlichen Nebenwirkungen von Handelsabkommen zu belegen - einmal abgesehen, dass NAFTA durchaus unterschiedlich eingeschätzt wird: die Parallele zu TTIP hinkt, weil dort ein Industrie- und ein Schwellenland betroffen sind, hier aber zwei hoch entwickelte Industrieregionen. Der Handel wird daher nicht inter-industriell nach dem Heckscher-Ohlin-Muster verlaufen, wie im Fall USA-Mexiko, sondern intra-industriell (eher nach dem Linder-Muster). Daher ist das, was passieren dürfte, eher durch das Abkommen EU-Südkorea abgebildet - immerhin sind die Exporte der EU seit Inkrafttreten mit 35 Prozent gewachsen, auf koreanischer Seite ist Hundai der große Gewinner, sehr zum Nutzen der europäischen Autokäufer.
Ihre Behauptung, alle Untersuchungen deuteten "durchgängig" auf Nachteile für Mexiko, ist schlichtweg falsch - ich empfehle z.B. die Lektüre von Salvatore:
Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass ein weitgehendes TTIP-Abkommen auch im Interesse der heimischen Wirtschaft, darunter insbesondere auch der KMUs, ist - Ihre Argumente sind wenig mehr als Behauptungen, die den bisher mit anderen Abkommen gemachten Erfahrungen (einschl. EU-Binnenmarkt) klar widersprechen.
Freundliche Grüße
Prof. Dr. Bodo Risch
Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen
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Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Risch,
für Ihre ausführliche inhaltliche Entgegnung auf meinen entworfenen Leserbrief über die Haltung der IHK zu TTIP bedanke ich mich.
Aus Gründen der Fairness hatte ich Ihnen meine Stellungnahme vor Veröffentlichung zugestellt. Da der Brief bisher in der RZ jedoch nicht veröffentlicht wurde, weiß ich nicht, ob die Redaktion das von sich aus so entschieden hat oder erst nach evtl. redaktionellem Kontakt mit Ihnen.
(Gegenargumente zu TTIP sind bei vielen Zeitungsredaktionen nicht so erwünscht und nicht sehr beliebt, zumal wenn sie gegen die einflussreiche und regional vernetzte IHK gerichtet sind. Beide sind Mitwirkende der Kommunikationsstrategie der EU-Kommission: http://corporateeurope.org/de/trade/2014/01/durchgesickerte-pr-strategie-der-europ-ischen-kommission-ber-ttip-kommunizieren .)
Dennoch möchte ich auf Ihren Brief hier reagieren, da mich Ihre Gegenargumente und die von Ihnen genannten Zahlen, Fakten und Quellen nicht überzeugen konnten. Vielleicht können Sie ja Ihren Mitglieds-Unternehmen diese unsere Korrespondenz bekanntmachen, damit diese sich ein eigenes Urteil bilden und an der Debatte beteiligen können?
Die von Ihnen angeführte Studie des Ifo-Institutes (im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung und des BMWi) ist mir sehr wohl bekannt und ich bin verwundert, dass Ihnen die vielfältigen Einwände auch von wissenschaftlicher Seite zu dieser Studie von Prof. Felbermayer/Kohler nach Ihren Aussagen nicht bekannt sind.
Eine fundierte Kritik an der fragwürdigen Methodik der ifo-Studie finden Sie u. a. bei der der Friedrich-Ebert-Stiftung „Analysen und Konzepte zur Wirtschafts- und Sozialpolitik“ unter: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/10969.pdf . Die einseitige und unausgewogene ifo-Studie blendet entscheidende Faktoren sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung einfach aus, stellt auch das „Forum Umwelt und Entwicklung“ fest: http://www.epo.de/index.php?option=com_content&view=article&id=11151:ngos-ttip-studie-im-auftrag-des-bmz-ist-einseitig-und-unausgewogen&catid=120&Itemid=34
Weitere fundierte Wissenschaftskritik an den TTIP/Gutachten finden Sie vor allem auch beim DIW Berlin. (Das Deutsche Institut für Wirtschaftforschung ist eines der größten Wirtschaftsforschungs-Institute Deutschlands). http://www.diw.de/de/diw_01.c.100293.de/ueber_uns/ueber_uns.html
Insbesondere die ganz aktuelle Tufts-Studie der Universität Boston (USA) zeigt auf aktueller Datengrundlage auf, dass durch TTIP durchweg negative Effekte auftreten würden, u. a. in Deutschland der Verlust von 134.000 Jobs, ein Absinken des BIP und 0,29%, ein Rückgang der Netto-Exportqoute und ein Absinken des Arbeitseinkommens um 3.400€ pro Kopf in Deutschland. http://www.foodwatch.org/de/informieren/freihandelsabkommen/aktuelle-nachrichten/amerikanische-wissenschaftler-ttip-vernichtet-arbeitsplaetze/ . Hier die komplette Studie im Wortlaut, die Sie kennen sollten: http://ase.tufts.edu/gdae/Pubs/wp/14-03CapaldoTTIP.pdf
Immerhin relativieren Sie selber die Zahlen des ifo-Institutes als konditionierte, also von bestimmten Bedingungen, Voraussetzungen und Annahmen ausgehende (und damit zweifelhafte) Zahlen insbesondere zu den völlig überholten Wachstums-Annahmen nach ökonometrischen Schätzungen. Modellrechnungen anstelle harter Zahlen und Fakten erwecken den Anschein von Objektivität und Verlässlichkeit, worauf auch Sie hereingefallen sind.
(Selbst wenn man Ihre Zahl der wachsenden Arbeitsplätze zugrundelegt und auf 10 Jahre und 11.5000 Kommunen in Deutschland verteilt umrechnet, macht das pro Kommune und Jahr eine max. 1-2stellige Zahl an Arbeitsplätzen, also weniger als bei einer neuen Existenzgründung vor Ort entstehen würde...).
Mit großartigen Simulationsstudien, deren prognostizierten Ergebnisse weitgehende Deregulierung und Liberalisierung erst noch voraussetzen, kann man alles und jedes behaupten. Es handelt sich bei der ifo-Studie um den klassischen Fall eines „Gefälligkeits-Gutachtens“ und hat der Seriosität dieses Institutes ein weiteres Mal geschadet.
Die von der EU-Kommission und vom BDI benutzten Zahlen des CEPR haben Sie selber nach eigenen Aussagen nicht verwendet, weil diese als wissenschaftlich völlig unhaltbar entlarvt wurden? So kann man sich diejenigen passenden Zahlen anderweitig heraussuchen, die zu den eigenen Argumenten jeweils passen.
Die offiziell vorliegenden wissenschaftlichen Evaluations-Ergebnisse des NAFTA-Abkommen wischen Sie mit dem Argument beiseite, dass die beiden Handelsräume strukturell nicht vergleichbar seien. Damit machen Sie es sich zu einfach. Das Beispiel des North Atlantic Free Trade Agreements (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko zeigt vor allem, dass eine Diskrepanz zwischen den prognostizierten und tatsächlich eintretenden Auswirkungen auf Wohlstand, Löhne und Arbeitsplätze herrschen kann. Auch zwanzig Jahre nach Abschluss von NAFTA gibt es keine weitgehende Einigkeit über die Folgen des Abkommens. Grumiller (2014) zeigt, dass die Prognosen tendenziell zu einer Überschätzung der positiven Effekte neigten.
Gerne kann ich Ihnen ein Dutzend Verlinkungen zukommen lassen zu seriösen wissenschaftlichen Studien zu NAFTA, und zwar sowohl hinsichtlich der Wirtschaftseffekte, der Arbeitsmarkteffekte, und des angeblichen Jobwunders sowie der negativen Umwelteffekte, die auch nicht zu vernachlässigen sind.
Unverdrossen halten Sie dennoch an Ihrer Auffassung fest, dass die KMUs die Gewinner des Freihandelsabkommens sein werden, obwohl (nach ihren eigenen Angaben) nur 400 Unternehmen im USA-Geschäft tätig sind und lediglich 10.000 (von insgesamt 57.000 Unternehmen in Deutschland) insgesamt im Auslandshandel tätig sind. Sie stellen insbesondere auf die Zollsenkungen ab, die aber laut offizieller Aussage der EU-Kommission nur noch bei 3% auf US-Seite und 5% an der EU-Außengrenze liegen. http://ec.europa.eu/deutschland/pdf/131003_country_fiche_de.pdf
Um die von Ihnen angeführten Kosten des Marktzutritts für die heimischen KMU zu senken, würde dazu ein einfaches Zollabkommen reichen, ergänzt um einen technischen Normenanpassungs-Vertrag, und kein aufwändiges Freihandelsabkommen mit umstrittenen Schiedsgerichten, die Sie unverständlicherweise verteidigen, allenfalls prozedurale Änderungen für sinnvoll erachten. Die von Ihnen erwähnten UNICTRAL-Regelungen werden faktisch schon heute den ISDS-Verfahren zugrunde gelegt und machen sie dadurch nicht besser.
Sie ignorieren auch einfach die von mir dazu angeführte nachvollziehbare Kritik des Bundesverbandes der mittelständischen Wirtschaft (BDMW), dem größten Interessenverband der Mittelständler. Auch gibt es eine wachsende Initiative und Liste von mittelständischen Unternehmen (ausgehend aus der Mittelstands-Region Franken): „Wir lehnen TTIP, CETA, TiSA ab!“
Tatsache ist, dass die 500-600 insgesamt bisher gelaufenen Schiedsgerichts-Verfahren weltweit (nach diversen Abkommen) zu fast 100% ausschließlich von den großen transnationalen Konzernen angestrengt wurden, die im TADB organsiert sind und von dort vor allem ihre Eigeninteressen in die Verhandlungen erfolgreich einbringen. http://www.transatlanticbusiness.org/tabd/
Die meisten KMUs könnten wohl kaum die zweistelligen Millionensummen für Verfahrens- und Anwaltskosten sowie Gutachterkosten aufbringen. Sie verteidigen also eine den Großkonzernen dienliche Einrichtung, so wie ausschließlich diese auch im „regulatorischen Kooperationsrat“ eingebunden sein werden, um ihre spezifischen Eigeninteressen vorab in alle Gesetzgebungsverfahren einbringen zu können. Die KMUs werden wohl vorher nicht gefragt…
In Ihrer Argumentation betonen Sie ausschließlich die (naive) Erwartung, dass den deutschen KMUs mit TTIP endlich der Weg freigemacht würde zur lang ersehnten Eroberung der USA-Märkte, als bewegen wir uns in einer Einbahnstraße. Dass umgekehrt die Konkurrenz aus den USA erheblich zunehmen wird, blenden Sie aus, obwohl es hier nicht um gesunden Wettbewerb geht, sondern um unfairen Wettbewerb, bei dem die KMUs zwangsläufig verlieren werden, und zwar auch diejenigen, die jetzt vor TTIP noch erfolgreich auf dem USA-Markt tätig sind.Zwar ist die EU nach der 8. Verhandlungsrunde zu TTIP nun bestrebt, ein Mittelstands-Kapitel aufzunehmen. Doch darin geht es inhaltlich lediglich um die bessere Aufbereitung von Marktinformationen für Mittelständler. (Als ob man das nicht auch ohne TTIP könnte).
Ihr Argument, dass die Großkonzerne auch ohne TTIP exportfähig seien, überzeugt insofern nicht. Warum betreiben diese dann so energisch Lobbyarbeit pro TTIP? Zugunsten ihrer spezialisierten mittelständischen Konkurrenz oder um der eigenen Vorteile willen? Im Übrigen blenden Sie aus, dass es nur nachrangig um Warenhandel und Industrieprodukte geht. Denn der EU-Binnenmarkt ist zu 60-70% ein Dienstleistungsmarkt. Darum spielt auch bei TTIP der Dienstleistungshandel die zentrale Rolle, flankiert von zwei weiteren (parallel verhandelten Freihandelsabkommen (TiSA für den Handel mit Dienstleistungen und EGA für den Handel mit Umweltgütern).
Mit keiner Silbe gehen Sie auf mein wesentliches Argument ein, dass die heimischen KMUs in der Region (Handwerksbetrieb, Dienstleiser, Groß-und Einzelhändler) – also die Masse Ihrer IHK-Mitglieder – stark angewiesen sind auf öffentliche Aufträge der Stadt- und Kreisverwaltungen, der Stadtwerke und öffentlichen Fachhochschulen und Krankenhäuser etc.
Die bisher geübte Praxis, heimische Bertriebe (aus Gründen der regionalen Wirtschaftsförderung und zur Stärkung regionaler Märkte und kurzer Transportweg etc.) zu bevorzugen, würde mit TTIP wegen der „Marktzugangsverpflichtung“ und „Inländergleichbehandlung“ sowie dem „Diskriminierungsverbot“ unterbunden.
Mit der transatlantischen Ausschreibungsverpflichtung der öffentlichen Einrichtungen (schon ab Schwellenwerten von 220.00 € für Beschaffungen und ab 5-6 Mio. € für Bauaufträge) werden die ortsansässigen KMUs noch weniger zum Zuge kommen als bei EU-weiten Ausschreibungen und Vergaben. Dies haben Sie den Unternehmen bei Ihrem Vortrag verschwiegen?
Damit entgehen den Kommunen hier erhebliche Gewerbesteuer-Einnahmen (die auswärtige Firmen hier nicht zahlen) und es leidet somit auch die wirtschaftsnahe Infrastruktur in dieser Region. Daran kann auch der IHK nicht gelegen sein als öffentlich-rechtliche Einrichtung.
Bei alledem dürfen Sie nicht vergessen, dass die Inhaber der vielen Klein- und Familienbetriebe in dieser Region sowie die kleinen Selbständigen, aber auch die Inhaber mittelständischer Unternehmen, zugleich hier lebende Bürgerinnen und Bürger mit ihren Familien sind. Diese haben von daher auch ein Interesse nicht nur an der Wohn- und Lebensqualität und kulturellen Teilhabe in dieser Region, sondern auch an funktionierender kommunaler Selbstverwaltung und demokratischer Mitgestaltung, vielleicht sogar selber engagiert in der Kommunalpolitik?
Dazu möchte ich auf die kritischen Aussagen der hochkarätig besetzten Grundwerte-Kommission der SPD unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Gesine Schwan (immerhin zweimal Kandidatin für das Bundespräsidentenamt) zu TTIP und CETA verweisen, die in der Feststellung gipfeln, dass es einige wenige und geringe Wirtschaftseffekte im Promillebereich nicht rechtfertigen, die Regeln der Demokratie und der Verfassung sowie den Primat der Politik aufzugeben. Das kann doch auch die IHK als Teil der demokratisch-politischen Institutionen in der Bundesrepublik nicht ernsthaft wollen?
P.S. Gerne würde ich unseren Briefwechsel auf meiner Homepage unter der Rubrik Freihandelsabkommen veröffentlichen und setze Ihr Einverständnis voraus?
Mit freundlichen Grüßen
Wilhelm Neurohr
www.Wilhelm-Neurohr.de
Präsidiumsmitglied des
gemeinnützigen Institutes
für Wissenschaft, politische Bildung
und gesellschaftliches Handeln
Leserbrief zum Bericht vom 24.03.2015 auf der Regionalseite:
„IHK zu TTIP: Vorteile überwiegen“
„Unverantwortliche und falsche Behauptungen der IHK zu TTIP“
Mit dem einmütigen Votum des Regionalausschusses der IHK für den Kreis Recklinghausen pro TTIP-Freihandelsabkommen (und dem zugleich ausgesprochenen blinden Vertrauen in die Verhandlungen der EU-Kommission) handelt die hiesige IHK völlig unverantwortlich und den Interessen ihrer Mitglieds-Unternehmen zuwider. Auf der Grundlage falscher und offiziell längst korrigierter Zahlen und behaupteter Effekte kommt sie zu der kühnen Behauptung, die heimischen Betriebe und unsere Region würden von dem Abkommen angeblich profitieren.
Auf der eigenen IHK-Homepage ist dagegen nachzulesen, dass 99,7 % aller Betriebe kleine und mittelständische Unternehmen oder Familienbetriebe und Einzelhändler sind, die 66% der Arbeitsplätze bereitstellen und 42% des Umsatzes erbringen. Diese Unternehmen werden nachweislich zu den Verlierern und nicht zu den Gewinnern des TTIP-Freihandelsabkommen gehören, weshalb sich sogar der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft (BVMV) kritisch bis ablehnend zum TTIP-Abkommen geäußert hat. Demgegenüber sind die 500 transnationalen Großkonzerne, die an den Verhandlungstexten der EU intensiv mitgewirkt haben, absehbar die alleinigen Gewinner und kontrollieren bereits jetzt 50% des Weltsozialproduktes.
Geradezu peinlich ist es, wenn der stellv. IKH-Hauptgeschäftsführer Prof. Dr. Bodo Ritsch behauptet, durch das Abkommen seien allein in NRW 20.000 neue Arbeitsplätze zu erwarten. Sogar die von der EU offiziell in Auftrag gegebenen (und längst wiederlegten) Gutachten gehen für ganz Deutschland von nur 18.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen in einem Zeitraum bis 2027 aus. Inzwischen hat der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) öffentlich fehlerhafte Zahlen und Angaben zum TTIP-Abkommen kleinlaut eingeräumt. Und ein aktuelles Gutachten der USA von einer Bostoner Universität hat auf der Grundlage realistischer Wachstumsdaten sogar deutliche Arbeitsplatzverluste und Wachstumseinbußen durch TTIP prognostiziert. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Evaluation des seit 20 Jahren in Kraft befindlichen NAFTA-Freihandelsabkommen zwischen USA, Mexiko und Kanada, wo durchgängig negative Effekte nachgewiesen wurden.
Besonders schlimm: Die hiesige IHK unterschlägt, dass sich mit TTIP die heimischen mittelständischen Unternehmen künftig der transnationalen Marktkonkurrenz stellen müssen und wohl kaum mit der Kosten- und Preiskalkulation der Großkonzerne mithalten können. Auch die Städte in dieser Region dürfen bei öffentlichen Auftragsvergaben und Beschaffungen nicht mehr die ortsansässigen Unternehmen, Händler und Diensleister im Rahmen der regionalen Wirtschaftsförderung bevorzugen, sondern müssen alles transnational ausschreiben. Dadurch entgehen den Städten wiederum Gewerbesteuereinnahmen, weil die auswärtigen Konzerne hier keine Gewerbesteuern zahlen.
Und nur die Großkonzerne können sich auch Klagen vor den umstrittenen Schiedsgerichten leisten, weil die Mittelständler kaum die zweistellige Millionensumme für Verfahrens- und Anwaltskosten aufbringen können.
Die IHK hätte besser daran getan, ihre Mitgliedsunternehmen auf eine Website hinzuweisen, wo sich eine zunehmende Zahl von Betrieben gegen TTIP aussprechen und eintragen. Vielleicht treten sie auch daraufhin aus der IHK aus, denn laut Artikel 20(2) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO darf niemand gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören. Denn nicht die Vorteile überwiegen, sondern die Nachteile von TTIP!
Wilhelm Neurohr
www.Wilhelm-Neurohr.de
Die Redaktion der RZ hat diesen Leserbrief erst nach wiederholten (aber unbeantworteten) Nachfragen bei der Redaktion mit zweieienhalb Wochen Verspätung veröffentlicht, obwohl sie ansonsten immer sämtliche eingehenden Leserbriefe meist zeitnah veröffentlicht...