Steht Europa wirklich vor einem Scherbenhaufen, nachdem in Irland die Bürgerinnen und Bürger den heftig umstrittenen EU-Vertrag von Lissabon abgelehnt haben? Oder könnte sich gerade dadurch erst eine echte Chance ergeben, die Idee und Vision von einem gemeinsamen Europa wirklich zu klären und zu konkretisieren – anstatt einen falschen Weg weiter zu verfolgen? Sieben Thesen zu einer nachhaltigen Zukunft Europas sollen zum Nachdenken und Diskutieren einladen:
Der Traum von Europa - Innehalten und Nachdenken
Der Traum von Europa ist nicht ausgeträumt. Aber er muss herauf gehoben werden ins wache Bewusstsein. Sonst drohen Europas Ideale unterzugehen in einem ökonomischen Neoliberalismus, wie er den Verfassungsvertrag genauso prägt wie den Lissabon-Vertrag und damit die grassierende Europa-Müdigkeit verstärkt. Der Friede war und ist Europas schönster Traum - nach dem Ende des Kalten Krieges vor allem der des sozialen Friedens: Es soll kein gnadenloser Überlebenskampf - jeder gegen jeden - herrschen, in dem sich die Macht des jeweils Stärkeren durchsetzt. Jetzt ist wahrhaft europäisches Denken angesagt, würdig der Zivilisation und Kultur des Kontinents. Soll der Traum von Europa Wirklichkeit werden, müssen wir alle als gemeinschaftsfähige Individuen diese andere Wirklichkeit schaffen.
Das Nein zum mangelhaften Lissabon-Vertrag ist - wie auch schon das Nein zur Verfassung vor einigen Jahren – Anlass, um inne zu halten und sich Zeit zur Besinnung zu nehmen, und um frei von Zeitdruck, mit dem mächtige Interessen diese Besinnung verhindern wollen, zu fragen, wo der Korrekturbedarf für soziale Fehlentwicklungen liegt – ob es nicht einer grundlegenden Alternative zum bisher eingeschlagenen Weg bedarf?
Um andere Wege zu finden, bedarf es allerdings eines Kompasses: gemeinsam getragene Visionen, Leitbilder und Ziele. Die Frage ist: Was wollen wir Europäerinnen und Europäer wirklich? Die übergroße Mehrheit lehnt nicht die europäische Integration als solche ab. Wohl aber gerät die gegenwärtige Richtung, in die die Europäische Union treibt, zunehmend in die Kritik.
Europa, das sind nicht nur Brüsseler Bürokratie, der „von oben” entwickelte Verfassungsvertrag, die Lissabon-Strategie, kurz: die gesamte Agenda, die maßgeblich von den Lobbyisten der Konzerne bestimmt wird. Neben dieser Agenda, die sich auf die Konkurrenzfähigkeit im Weltmart sowie weltpolitische, auch auf militärische Macht gestützte Einflussnahme im Wettstreit der Kontinente richtet, gibt es auch noch ein anderes Europa.
Europa von unten - eine Herausforderung der Zivilgesellschaft
Zivilgesellschaftliche Initiativen, Projekte und Alternativkonzepte beeinflussen den Werdegang des vereinten Europa auf ihre Weise von unten. Was die Menschen in Europa gemeinsam wollen, welche Vorstellungen sie von einem vereinten Europa haben und wie Europa seine Zukunft nachhaltig gestaltet, ist bisher nicht wirklich unter breiter Beteiligung der Bevölkerung diskutiert worden - obwohl es von den Menschen abhängt, ob das Projekt Europa gelingt.
Was über Jahrzehnte gewachsen ist - von der Montanunion über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft nun zur politischen Union - bedarf zunächst einer kulturellen und zivilisatorischen Perspektive, als die eigentliche, tragende Grundlage für einen Einigungsprozess. Von einer zukunftsfähigen Europapolitik werden Zukunftsentwürfe und Gestaltungswillen erwartet und nicht nur das Exekutieren von Sachzwängen.
Bei allen politischen, ökonomischen und militärischen Konzepten und Vorgaben „von oben” mangelt es an einem offenen Diskurs und gesellschaftlichen Konsens über die eigentliche, geistig-kulturelle Aufgabe und Zielrichtung Europas – über seinen sozialen Auftrag, seine grundlegende Idee und Vision sowie über die Rolle der Zivilgesellschaft. Mit den nachfolgenden Thesen wird der Versuch unternommen, Ansätze für eine Leitbilddiskussion über das gemeinsame Wollen in Europa zu geben. Europa braucht ein Bild seiner Zukunft. Es geht nicht darum, um jeden Preis eine ganz neue oder besondere Idee für Europa zu suchen, sondern die vorhandenen und geschichtlich errungenen Ideen zusammenklingen zu lassen und umzusetzen.
In Zeiten der Globalisierung ist Europa gefordert, seine Grundordnung nicht nur an seinen eigenen Bedürfnissen zu messen, sondern durch seine eigene Sozialgestalt zugleich zu einer nachhaltigen Zukunft der Menschheit beizutragen. Da es sich um Überlegungen für ein Leitbild handelt, werden an vielen Stellen Zustände in der Gegenwartsform beschrieben, die allerdings erst noch erreicht werden müssen. Solche Formulierungen sind also nicht als Behauptungen über schon vollständig erreichte Befähigungen zu verstehen.
These 1: Zur geistig-kulturellen Orientierung Europas als Wertegemeinschaft
Europa ist undenkbar als Supernation oder Supermacht, auch nicht als bloßer Binnenmarkt. Häufig wird gesagt, Europa sei eine Wertegemeinschaft. Was aber ist das? Richtig ist: Die Identität Europas wurzelt in einem gemeinsamen kulturellen Erbe und drückt sich in Bestrebungen für die Zukunft aus. Für die Zukunft braucht Europa eine Ethik der Kooperation nach innen und außen. Europa ist ein Garant für die alltägliche Verwirklichung der individuellen Menschenrechte und für die Freiheit des gemeinschaftsfähigen Individuums.
Europa hat seine Wurzeln im Humanismus, im Christentum und in der Aufklärung.
Der Wert der einzelnen menschlichen Persönlichkeit ist auf diesem Kontinent zum ersten Mal entdeckt worden, in den Menschenrechten ist die Urteils- und Handlungsfreiheit des Einzelnen zur Grundlage der sozialen Ordnung erklärt worden. Europa, das ist ein neues Verständnis des Sozialen für die Menschheitszukunft: Die Symbiose von persönlicher Freiheit und Verantwortung für die Gemeinschaft.
Doch der geschilderte Befreiungsprozess ist nicht vollendet, solange seine Schattenseiten - Materialismus und Egoismus - nicht bewältigt sind. Die Menschen in den nichteuropäischen Kulturen haben in der Globalisierung - wie sie von Europa ausgegangen ist - vor allem die Schattenseiten erleben müssen. Solange Europa seine Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit weder zur konsequenten Grundlage seiner eigenen sozialen Ordnung, noch seines Handelns in der Welt macht, verfehlt es seine eigene Identität und die sie tragenden Werte. Weder Turbokapitalismus noch Kollektivismus vertragen sich mit ihnen.
Ein Europa, das sich zu den Rechten aller Menschen bekennt, ist dazu aufgefordert, die Welt von verschiedenen Seiten anzuschauen und die unterschiedlichen Interessen der Menschen und Völker ausgleichen zu helfen - ein kosmopolitischer, universeller und ethisch-moralischer Auftrag.
Weil Europa auf die kulturschöpferische Kraft der einzelnen menschlichen Individualität bauen muss, darf seine Gestaltung nicht einzig oder vorrangig durch Ökonomie und eine sich an ihr orientierende Politik erfolgen. Die Welt erwartet von Europa vor allem kulturelle Erneuerungsimpulse - neben einer Politik, die Grenzen überwindet.
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Wertegemeinschaft, von der die Rede ist, gerade nicht das kollektive Ausleben besonderer europäischer Tugenden meinen darf. Die Werte von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit sind gerade keine, die das Handeln kollektiv prägen. Vielmehr schaffen sie den Raum, indem individuell errungene Ethik und individuelles Handeln eines jeden Einzelnen das Gemeinschaftsleben bereichert: Europa hat keine Mission – außer der, den sozialen Raum zu schaffen, in dem jeder Einzelne seine individuelle Mission finden kann. An diese Grundüberlegungen lasse sich eine Reihe konkreterer Leitsätze anschließen:
1.1. Europa ist überall, wenn es in den Köpfen und Herzen der Menschen als etwas Positives für die Völkerverständigung wirksam wird. Die Zukunftsaufgabe Europas ist eine Menschheitsaufgabe für die ganze Welt, aber keine Menschheitsbeglückung durch eine selbst ernannte Elite. Europa ist mehr als ein bloßer Wirtschaftsstandort. Nicht ökonomischer Wettbewerb und administrative Vergleichbarkeit können im Vordergrund stehen, sondern kulturelle und ethische Kreativität. Europa stiftet Frieden zwischen den Völkern und Menschen, auf der Grundlage des sozialen Friedens.
1.2. Europa ist weniger eine ökonomische, politische oder geografische, geschweige denn eine militärische Notwendigkeit. Es ist vielmehr eine nachhaltige Entwicklungsaufgabe für die Zukunft - Schauplatz für Neues in der Welt. Es geht um die Form und Qualität des Zusammenlebens von morgen, in der nachkapitalistischen Gesellschaft. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsaufgabe, an der alle gleichberechtigt zu beteiligen sind, um ihre individuellen Werthaltungen mit einbringen und ihre sozialen Fähigkeiten der Gemeinschaft zur Verfügung stellen zu können.
1.3. Zu den neu errungen Werten Europas gehören soziale Gerechtigkeit, Demokratie, individuelle Freiheit, Solidarität, Trennung von Kirche und Staat, ethnische und religiöse Toleranz, Rationalität und Spiritualität, Prägung von Friedensgedanken und Anleitung zur Friedensfähigkeit, Achtung vor der Natur und Umwelt sowie Mitleid für lebende Wesen und Anteilnahme an deren Sorgen, Nöten und Schicksal.
1.4. Ein zukunftsfähiges Europa der Nachhaltigkeit gestaltet sich aus einer neuen zivilgesellschaftlichen Kultur mit individuellen und gemeinschaftlichen Werthaltungen, an der alle Menschen, Gruppen und Völker beteiligt werden. Wie die Menschen miteinander umgehen, die Umgangskultur, ist entscheidend. Europa stellt sich ganz neu der kulturellen Frage aus seiner Völkervielfalt und seinem geistigen Reichtum der einzelnen Menschen.
1.5. Etwas Neues und Zukunftsfähiges kann im politisch-sozialen und wirtschaftlichen Leben Europas nur entstehen, wenn dieses aus dem geistig-kulturellen, dem künstlerischen und spirituellen Bereich genährt und durchdrungen wird. Das politische und wirtschaftliche Leben in Europa kann von den geistig-kulturellen Bedürfnissen und Betätigungen der Menschen nicht abgekoppelt werden. Aus der geistigen Betätigung wird für die Menschen in Europa ein ethischer Individualismus im Sozialen lebensfähig, indem die individuelle ethisch-moralische Verhaltensweise der Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft zu einer sozialen Gesamtentwicklung beiträgt. Darum sind Erziehung und Bildung in Freiheit das höchste Gut in Europa, frei von politischen und wirtschaftlichen Einflüssen und Interessen.
These 2: Zur Zukunftsorientierung Europas und zu seinen zivilgesellschaftlichen Grundlagen
Das neue Europa muss aus der Zukunft gestaltet werden, nicht aus der Vergangenheit: Europa ist etwas Werdendes, nicht etwas Vollendetes. Es ist deshalb ein Europa für die junge Generation mit den in ihr lebenden Bestrebungen nach einer spirituellen und sozialen Zukunft. Europa ist nicht das der alten Staatsmänner und Wirtschaftsmagnaten.
Wir brauchen eine lebendige Europa-Idee in den Köpfen und Herzen der Menschen, damit aus dem Einigungsprozess des 21. Jahrhunderts heraus später etwas vererbt werden kann an nachfolgende Generationen. Europa braucht den Enthusiasmus der Jugend, sonst wird es ein Projekt der Alten. Die Hoffnungen der Welt gründen auf eine neue Generation von Europäern mit einem Streben nach einem besseren Morgen für alle Menschen. Alternde Gesellschaften können die Zukunftsprobleme nicht meistern.
Das neue Europa ist mehr als ein Staatenbund oder ein ökonomisches Geflecht von Interessen. Es ist ein soziales und kulturelles Netzwerk von zukunftswilligen Menschen in seiner Mitte, in seinem Westen, Osten, Norden und Süden. Dieses differenzierte Europa der Einheit in der Vielfalt muss zivilgesellschaftlich gestaltungsfähig bleiben, damit die Jugend ihr Europa in offenen Beteiligungsprozessen schaffen kann. Europa muss vorbereitet sein auf die großen Veränderungen, die aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich entstehen, aus dem Miteinander vieler Menschen.
Das Europa der Zukunft ist ein geistiger Kontinent der Entwicklung und Menschwerdung, ein weltoffener Kontinent der Weltbürger von morgen. Das Europa der aktiven Bürgergesellschaft ist ein zivilgesellschaftlicher Gestaltungsraum für Eigeninitiative und zur Verwirklichung der individuellen Menschenrechte zugunsten der gesamten Menschheit. Europa wird in Zukunft unterscheiden lernen, was Sache des Staates, Sache der Wirtschaft und was Angelegenheit der Zivilgesellschaft ist.
2.1. Wir brauchen kein Europa der Bürokraten oder Technokraten, kein normiertes Europa. Die Europäische Union hat bisher an keiner Stelle neue, tragende Sozialformen entwickelt. Die zukunftstragenden Kräfte Europas sind nirgendwo anders zu finden als in jeder einzelnen Individualität, die sich als gemeinschaftsfähig erweist. Individuelle Freiheit ist deshalb das höchste Gut in einem zukunftsfähigen Europa, in dem individuellen Menschenrechte den höchsten Stellenwert haben und alltäglich gelebt werden - gerade auch im europäischen Wirtschaftsleben, das die Menschenrechte vielfach ausblendet oder ignoriert. Europa braucht deshalb zur Gewährleistung der allgemeinen Menschenrechte einen funktionsfähigen öffentlichen Sektor der Daseinsvorsorge, frei von kommerziellen Interessen. Freiheitsrechte hängen ohne Sozialrechte in der Luft.
2.2. Das neue Europa lebt von der Einheit in der Vielfalt, nicht von der Vereinheitlichung. Europa verträgt keinen Zentralismus mit einem allzuständigen Einheitsstaat, sondern ist nur entwicklungsfähig von unten als ein Europa der Regionen in all ihrer Differenziertheit. Das vereinigte Europa ist der Prüfstein und die Bewährungsprobe für die alltägliche Verwirklichung der sozialen und kulturellen Bedürfnisse und damit der allgemeinen Menschenrechte. Das neue Europa lebt von den Interessen der Menschen füreinander, im Handeln miteinander, in den Menschenbegegnungen über alle Grenzen hinweg.
2.3. Europa ist vor allem das Europa der aktiven Bürgergesellschaft - ein kultureller Lebens- und Schicksalsraum in der Mitte der Welt für zivilgesellschaftliche Gestaltungsräume und Eigeninitiative zugunsten der gesamten Menschheit. Das junge Europa hat sich weniger durch die offizielle Politik bewegt als vielmehr entscheidend durch die Bürgerbewegungen: Frauen-, Friedens- und Freiheitsbewegungen, Demokratie- und Umweltbewegungen, soziale Bewegungen - auch ein Europa friedlicher Revolutionen im Osten und Erneuerungen wie der Perestrojka. Nicht Institutionen, Gesetze oder Traditionen verhelfen zum Aufbruch in das zukünftige Europa, sondern seine friedensfähigen und sozial kompetenten Menschen sind zur Gestaltung herausgefordert und bereit, als freie Individuen ein soziales Ganzes herbeizuführen.
2.4. Wir brauchen für die Zukunft kein ökonomisch dominiertes Europa der Zahlen, Statistiken und Quantitäten. Europa ist kein bloß vergleichendes Zahlengebilde und braucht weniger statistische Zukunftsprognosen als vielmehr Zukunftsaktivitäten für eine lebenswerte Zukunft. Qualität geht vor Quantität. Die Lebensqualität für alle Schichten des Menschseins muss in den Mittelpunkt der Betrachtungen und Bestrebungen rücken.
2.5. Nicht Machtstreben und Machtdenken, nicht die Vermehrung von Einfluss und Wirtschaftskraft bringen Europa für die Zukunft weiter, sondern allein die Macht der Ideen außerhalb des Gewohnten und der Geist der Solidarität und menschlichen Verbundenheit, über die Grenzen des Kontinents hinaus. Die Umgestaltung der Sozialsysteme - im Gegensatz zu ihrem jetzt laufenden Abbau - ist ein Kampf um Europas spirituelle Identität.
These 3: Zur Anknüpfung an die Vergangenheit Europas und zu deren Bewältigung und Verwandlung
Europas Erbe ist aufgebraucht. Die reichhaltigen, kulturellen Schätze und Traditionen des abendländischen Europas verblassen. Europäisches Bewusstsein sollte dennoch anknüpfen an die Geistes-, Philosophie-, Kultur- und Kunstgeschichte Europas. Diese sollten wir zeitgemäß und individuell verwandeln und fortentwickeln.
Nicht zuletzt aus den historischen und ideologischen Irrtümern und Schandtaten des kriegerischen, nationalistischen und chauvinistischen Europa sind gleichermaßen die Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen - vom alten zum neuen Europa. Dieses verträgt kein altes Denken und keinen neuen Materialismus. Was in Europa an Vereinigungsstreben aus der wirtschaftlichen Montanunion von Kohle und Stahl begann, sich mit der europäischen Wirtschaftsgemeinschat (EWG) fortsetzte und in die Europäische Union mündete, muss jetzt über die wirtschaftlichen und nationalstaatlichen Interessen hinaus gedacht und gestaltet werden.
Nachdem das alte Europa seine Vergangenheit aufgearbeitet hat, kann es sich auf seinen neuen Auftrag für die Welt besinnen: Es begibt sich auf den humanistischen Weg in eine menschenwürdige und nachhaltige Zukunft für alle. Dazu muss es auch seine Lehren aus der fehlgeleiteten Gegenwart ziehen, wenn der Weg in die Zukunft nicht durch das Diktat der Ökonomie verbaut werden soll. Ein neues, verwandeltes Denken muss Europa aus der Zukunft ergreifen. Alle politischen Ideen der Vergangenheit können die Probleme der Gegenwart in Europa nicht meistern. Und alle Ideen der Gegenwart können die Probleme der Zukunft nicht meistern, die wieder eigene Ideen hervorbringen wird.
3.1. Die historischen Hinterlassenschaften und Prägungen des alten Europa aus der griechischen und römischen Epoche, der mittelalterlichen Kaiserzeit, der Klöster und des Adels, des Barock und der Renaissance, des Absolutismus und sogar der französischen Revolution sind verblasst. Der Zusammenklang von Wissenschaft, Kunst und sozialem Leben ist verloren gegangen und muss wieder hergestellt und erneuert werden.
3.2. Faschismus und Stalinismus sind in Europa Vergangenheit. Der Nationalismus ist weitgehend zurückgedrängt, auch wenn die alten Gespenster immer noch in manchen Köpfen und unterschwellig in der Politik spuken. Die Nationalstaaten verlieren derweil an Bedeutung. Die Wunden aus den dunklen Kapiteln der europäischen Geschichte mit dem kriegsdunklen 20. Jahrhundert beginnen zu heilen. Die Versöhnung der Völker ist im Gange, aber ihre zunehmende innere Spaltung in arm und reich nimmt zu. Das dürfen wir nicht zulassen, weil von Europa sozialer Ausgleich ausgehen muss. Jegliche Form von Abhängigkeit, Ausbeutung und Sklaventum muss der unsäglichen Vergangenheit angehören; darum ist auch der „Arbeitsmarkt”, auf dem ein Teil des Menschen als Ware gehandelt wird, ein Anachronismus.
3.3. Geblieben ist ein alles beherrschender Materialismus, der sich immer mehr verstärkt und mittlerweile das gesamte europäische Denken und Handeln bestimmt. Alle Hoffnungen auf eine Lösung der Probleme unserer natürlichen und sozialen Umwelt durch ein einseitig materialistisch-orientiertes Denken sind zum Scheitern verurteilt. Sind doch diese Probleme zum großen Teil gerade durch eben jene Denkart entstanden. So ist ein Umdenken erforderlich, wenn die Idee Europa und die europäische Kultur und Zivilisation nicht in der Dekadenz enden soll. Europa sollte in dieser neuen Epoche generell Abschied nehmen von alten Denkmustern und Ideologien. Für das neue Europa eignet sich das Denken aus dem 19. und 20. Jahrhundert nicht – geschweige denn das aus dem Mittelalter, wie es in Teilen der Kirchen, der Justiz und in mancherlei Formen des Aberglaubens noch fortwirkt. Europäisches Denken baut im 21. Jahrhundert auf ganz neuen Denkansätzen und lässt die Vergangenheit hinter sich, ohne sie zu vergessen.
3.4. Die unkritische Technikgläubigkeit aus dem Zeitalter der Industrialisierung und der großen Erfindungen der Neuzeit als Problemlöser für die Zukunft hält sich hartnäckig als Ersatzreligion, ebenso wie der alles überlagernde Glaube an die soziale Gestaltungskraft der Ökonomie und des freien Marktes. Ihre Anbetung ist zum Götzendienst geworden. Von ihnen erhofft man sich allein durch die Öffnung der Märkte und des grenzenlosen Handels dauerhaften Fortschritt, Wohlstand und soziale Zukunft. Das ist ein Aberglaube, der schon bald der Vergangenheit angehören sollte. Er ist Erbe und Teil des alten Europa, ebenso wie das politische und ökonomische Machtstreben des immer mächtiger werdenden Europas im Wettkampf der Kontinente als neuer europäischer Chauvinismus.
3.5. Ein europäischer Chauvinismus wäre schlimmer als all die verschiedenen nationalen Chauvinismen der vergangenen Jahrhunderte. Im Extremfall droht eine Art Eurofaschismus gegenüber den “Verlierern der Dritten Welt”. Das ist die wichtigste Lehre aus der Vergangenheit: Europa hat nicht eine herrschende oder beherrschende Rolle anzustreben, sondern eine dienende, ausgleichende und vermittelnde Aufgabe zwischen den Polaritäten in der Welt - ein Ausgleich nach innen und außen. Das unterscheidet das neue Europa wesentlich vom alten.
These 4: Zur sozialen, wirtschaftlichen und demokratischen Gestaltung Europas
Für die Zukunft Europas kommt es entscheidend auf die menschlichen Taten an, nicht auf die äußeren politischen Verhältnisse. Europa muss schrittweise Abschied nehmen von alten Staatsformen und dem dem brüchig gewordenen ideologischen Parteienwesen aus dem vorigen Jahrhundert mit seinem Konformismus - zugunsten neuer, erweiterter und direkter Demokratieformen sowie Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten. Im Mittelpunkt steht als treibende Kraft und Ideengeber eine lebendige, verantwortungsbewusste und kreative Zivilgesellschaft in einem Europa der Regionen und der menschlichen Netzwerke.
Europa muss sich zugleich verabschieden vom heutigen, neoliberalen Wirtschaftsdiktat, dessen zerstörerische Wirkung für die Ökologie und das soziale Zusammenleben in einer gespaltenen Gesellschaft ebenso sichtbar wird wie dessen globales Scheitern bereits absehbar ist. Der Marktradikalismus ist bereits gescheitert. Dieser Neoliberalismus wird sich tot laufen wie alle Ideologien mit verkürztem Menschenbild. Er ist weder effektiv noch nachhaltig und widerspricht der Sozialgestaltung und der Sozialstaatsidee aus europäischer Geisteshaltung. Europa braucht den erneuernden Umbau der sozialen und wirtschaftlichen Systeme, da das alte kapitalistische Wirtschaftssystem mitsamt seinem dienenden, politischen System vor dem Kollaps steht. Die soziale Neugestaltung ist der zentrale Vorgang des neuen Jahrtausends in Europa und für die Welt.
Die neuen Formen des Zusammenlebens in der postkapitalistischen Gesellschaft Europas gestalten sich nach den Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität. Miteinander statt Gegeneinander, Kooperation statt gnadenlosem Konkurrenzkampf sind in Zeiten der Globalisierung im europäischen Wirtschaftsleben und weltweit angesagt. Europa kann nicht länger in fundamentalistischer Weise nach einem einzigen wirtschaftlichen Prinzip geformt werden. In einer Demokratie müssen immer Alternativen möglich und zugelassen sein.
Europa stellt sich deshalb ganz neu der sozialen Frage als seiner Kernaufgabe und Verpflichtung für die Welt. Es darf nicht zur weiteren sozialen Spaltung der Menschheit beitragen. Die für die bestehende Spaltung verantwortliche, enge und ungesunde Verflechtung zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur muss entwirrt werden: Gliederung und Differenzierung ist angesagt. Europa setzt dem global-agierenden Kapital aus dem politischen Rechtsleben heraus einen sozialen und politischen Rahmen.
Das europäische Kulturleben korrigiert das sozialdarwinistische Welt- und Menschenbild, das momentan das Wirtschaftsleben beherrscht. Die Ideale der französischen Revolution sind in ihrer spezifischen jeweiligen Bedeutung für die gesellschaftlichen Subsysteme die Grundlagen für die noch zu verwirklichende, soziale Zukunftsgestaltung: Freiheit vorrangig im Kultur- und Geistesleben, Gleichheit vorrangig im politischen Rechtsleben und Geschwisterlichkeit („Brüderlichkeit”) vorrangig im Wirtschaftsleben.
4.1. Ein soziales und demokratisches Europa kann nicht ökonomisch und politisch von oben herab gestaltet werden. Die Gemeinwohlorientierung muss in Europa vom demokratischen Rechtsleben und von der Zivilgesellschaft ausgehen. Das europäische Sozialstaatsmodell ist in zeitgemäßer Umwandlung in die Zukunft zu überführen, um allen ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, unabhängig vom Erwerbseinkommen oder von verfügbaren Arbeitsplätzen. Teilen macht alle reich - und für die anderen Menschen tätig zu sein, ist sinnstiftend.
4.2. Die soziale und kulturelle Dimension Europas verträgt sich nicht mit dem Verständnis von Arbeitskraft als Ware auf dem „Arbeitsmarkt”. Dieses reduziert den Menschen auf einen Kostenfaktor, schürt die Lohnkostenkonkurrenz und treibt die Menschen in ein modernes Sklaventum, das menschliche Existenzen zerstört und Zukunftsängste sowie Erkrankungen hervorruft. Ein soziales Europa der Solidarität vermeidet alles, was zu solchen zerstörerischen Verhältnissen führt. Es überwindet alles, was zu neuer Abhängigkeit, zu unsicheren Lebensumständen oder zur Verschlechterung der Lebensqualität und zur Einschränkung der Menschenrechten und -würde führt.
4.3. Europa braucht eine Erneuerung der Kulturarbeit und eine neue Arbeitskultur, losgelöst vom Erwerbszwang, also eine Trennung von Arbeit und Einkommen. Jeder Mensch mit oder ohne Erwerbsarbeit hat ein Recht auf menschenwürdiges Dasein allein aufgrund der Tatsache, dass er Mensch ist. Dies ist das europäische Sozialprinzip und Menschenverständnis. Im neuen Europa wird menschliche Arbeit nicht mehr als Ware auf dem Markt betrachtet, sondern als Beitrag zur Kulturentwicklung und als Verwirklichung menschlicher Fähigkeiten zugunsten der menschlichen Gemeinschaft. Wenn Europa die Zukunft der Arbeit meistern will, so beginnt diese mit der Arbeit am Menschen. In Europa ist für die Menschen sehr viel zu tun, jeder wird gebraucht und niemand ausgegrenzt.
4.4. Das neue Europa entdeckt den eigentlichen Sinn und Zweck des Wirtschaftens für die Menschen neu. Es gestaltet eine assoziative Wirtschaft mit Abstimmung der Produzierenden und Handeltreibenden mit den Verbrauchern und Konsumierenden. Es vermeidet die Durchmischung politischer und wirtschaftlicher Interessen.
4.5. Europa gewährleistet zugleich die Freiheit und Unabhängigkeit des Geistes- und Kulturlebens von Staats- und Wirtschaftseinflüssen. Es strebt überdies nach einem erweiterten Demokratieverständnis, nach Partizipation und Mündigkeit der Menschen, deren Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden sowie Unrechtsgefühl der Maßstab allen politischen Entscheidens und Handelns ist.
These 5: Zur zukünftigen Rolle Europas in der Welt
Das vereinte Europa steht nicht länger in Konkurrenz und Vormachtstellung zu den anderen Kontinenten und ihren Menschen, sondern es trägt im Menschheitsinteresse zu ihrer Entwicklung und Förderung in der einen Welt bei. Europa betreibt Wiedergutmachung seiner historischen Schuld der Kolonialisierung und der verformten Globalisierung, deren einseitige Ausrichtung von ihm ausging. Europas Bürgerinnen und Bürger mit ihrer sprachlichen Vielfalt sind längst Weltbürger mit Opferbereitschaft, die ihre geschichtliches und nationales Bewusstsein ausweiten zu einem europäischen Weltbewusstsein.
Europa nimmt verstärkt eine ausgleichende und vermittelnde Rolle in der Welt wahr, insbesondere bei den Konfrontationen zwischen den Polaritäten, zu denen die dualistisch geprägte Menschheit neigt. Europa selbst bemüht sich, seine dualistische Auffassung der Weltverhältnisse im Inneren wie im Äußeren vorbildhaft zu überwinden, sei es im Ost-West- oder Nord-Süd-Konflikt, im Kampf und Streit von Kulturen, Religionen und Ethnien oder im Konflikt zwischen so genannten Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Alt und Jung, zwischen oben und unten usw.
„Miteinander statt gegeneinander”, so lautet auch das Prinzip des europäischen Wirtschaftshandelns in einer solidarisch zu gestaltenden, globalen Welt, in der alle Menschen voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind. Egoismus, Vorteilsdenken und Konkurrenzprinzip sind hier fehl am Platze. Europa entwickelt ein neues Verhältnis zu einem Geldwesen „ohne Zinsen und Inflation” , damit der Euro eine heilsame, anstatt schädigende Wirkung im Inneren wie auch für die Weltwirtschaft und Weltentwicklung vorbildhaft entfaltet. Die Menschen Europas nehmen die Bürde der Verantwortung für die Welt auf sich und gewinnen so das Vertrauen der Welt. Europas nachhaltige Zivilisation basiert auf Lebensqualität für alle Menschen auf der Erde statt auf unbegrenzte Akkumulation individuellen Reichtums.
5.1. Europa verzichtet auf jegliche militärische Aufrüstungsverpflichtungen, sondern wendet sich wieder einer Politik der Abrüstung zu, die es dann auch in seiner Verfassung festschreibt. Europa emanzipiert sich politisch, militärisch und kulturell von den USA - ohne indes eine eigene Weltmacht, Militärmacht oder Wirtschaftsmacht werden zu wollen. Europa bleibt den Menschen in den USA, insbesondere in der organisierten Zivilgesellschaft freundschaftlich und solidarisch verbunden. Weltweite Kriegseinsätze aus wirtschaftlichen oder machtpolitischen Gründen liegen Europa fern, abgesehen von Unterstützungen und Beteiligungen an friedensstiftenden UNO-Einsätzen.
5.2. Europa bemüht sich aus einer spirituellen Weltauffassung seiner Menschen ernsthaft, aktiv und verantwortungsbewusst um einen weltweit wirksamen Ausgleich zwischen Arm und Reich. Es sorgt für einen Gleichgewichtszustand in der Welt in geistiger und materieller Hinsicht. Es vertritt nicht nur die Interessen der Europäerinnen und Europäer, sondern das Allgemeinmenschliche im gesamten Menschheitsinteresse. Armut in Europa und in der Welt wird nicht länger als individuelles Problem angesehen, sondern als gesellschaftliche Herausforderung.
5.3. Das weltoffene Europa betreibt in seinem eigenen Lebens- und Arbeitsraum die Ablösung von Autoritäten und Gruppendenken zugunsten der Emanzipation und Mündigkeit der Individualitäten mit dem Ausbalancieren von Individualität und Gemeinschaft. Daraus entwickelt es neue Sozialformen: Gemeinschaft, die aus individueller Freiheit entsteht. Das Gelingen dieses Versuchs wird der gesamten Menschheit zugute kommen.
5.4. Wo althergebrachte, religiöse Formen nicht mehr tragen, bemühen sich Menschen in Europa um neue Erkenntnis- und Lebensformen, die unabhängig von Konfessionen, Glaubensrichtungen oder -ablehnungen neue christliche oder religiöse Gemeinschaftsbildungen anderer Art zeitgemäß ermöglichen. Zum Beispiel durch ein vom Egoismus befreites, brüderliches oder geschwisterliches Wirtschaften mit Teilhabe aller Menschen am Reichtum dieser Erde und bei Schonung ihrer Ressourcen. Europa wirkt ideologiefrei und konstruktiv für die Welt. Es hilft mit, von allen Kulturen, Religionen, Völkern, Gruppen und Individualitäten dieser Welt das jeweils Beste für die Vorbereitung des nächsten Schrittes der menschlichen Entwicklung zu verarbeiten. In einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt arbeitet es mit an einem neuen Menschheitsbewusstsein der schicksalhaften Zusammengehörigkeit und wechselseitigen Abhängigkeit.
5.5. Europa schlägt ein neues Kapitel der Geschichte auf, das sich an Lebensqualität, Nachhaltigkeit, Frieden und Harmonie ausrichtet. Das moderne Fortschrittsdenken löst sich von seiner rein materiellen Basis. Im Vordergrund steht die Förderung des menschlichen Geistes - als wünschenswerte Anhäufung geistigen Reichtums. Dadurch befreien sich in Europa die Menschen aus ihrem materialistischen Gefängnis und aus ihren seelischen Nöten. Europa sprengt so die Grenzen seiner Territorien und seiner alten Bewusstseinshaltung. Wir erleben die Geburt eines neuen europäischen Traumes. Wir erleben die Wiedergeburt Europas.
These 6: Zu den Gestaltungsfeldern eines nachhaltigen Europa
Europa geht in Zukunft den Weg einer konsequent nachhaltigen Entwicklung auf allen Gebieten; es strebt nach sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Nachhaltigkeit in globaler Sichtweise als Alternative zum kurzsichtigen materiellen Gewinnstreben. Europa versteht sich als ein lebendiger sozialer und ökologischer Organismus. Ein nachhaltiges Europa fördert die freie Individualität, die Spiritualität und die in Freiheit selbst gewählte Religiosität.
Europa strebt nach Wahrhaftigkeit, Frieden und Gewaltlosigkeit nach Innen und Außen. Es ringt um ein neues Bewusstsein und um einen wirklichen Aufbruch mit dem nötigen Enthusiasmus. Gefordert ist auch der spezifische Beitrag der einzelnen Länder und Völker sowie der einzelnen Europäer für das gemeinsame Ganze, in dem auch Kinder, alte Menschen, Behinderte und Migranten sowie sozial Schwache ihren bevorzugten Platz haben.
Der europäische Sozialstaat als demokratischer Rechtsstaat wird nicht länger als ein „Markthindernis” betrachtet, sondern eine neue Solidarität und Sozialethik wird als Teil europäischer Identität und als Fundament europäisch-abendländischer Werte angesehen. Europa beendet die Diskreditierung und Ökonomisierung seines Geisteslebens und wendet sich gegen Verdinglichung, Fremdbestimmung und Entwürdigung des Menschen im Wirtschaftsleben.
Europa strebt den Erhalt seiner kulturellen und ökologischen Vielfalt an, die Pflege seiner bäuerlichen Kulturen, seiner Kulturlandschaften und seiner Stadtkulturen. Europa bemüht sich um einen neuen Gestaltungsimpuls für Architektur, Städtebau, Landschaftsgestaltung, Kunst und Sozialgestaltung. Europa pflegt die Stätten eines spirituellen Lebens.
Die Menschen Europas streben aus der Lebenswirklichkeit heraus nach Freiheit – insbesondere der Gedanken-, Gewalt-, Bewegungs-, Bildungs-, Religions- und individueller Freiheit sowie der Befreiung von Machtverhältnissen und Zwängen. Die alltägliche Verletzung der Menschenwürde durch die Art und Weise der momentan vorherrschenden Wirtschaftsgestaltung muss durch ein menschengemäßes Wirtschaftsleben überwunden werden.
6.1. Europa ringt sich zu einem Verbot des privilegierten Zugangs der einflussreichen Lobby-Organisationen zur EU-Kommission durch. Es legt alle Beeinflussungen von Gesetzgebungen und Parlamentariern offen. Die Wirtschaft in Europa kann keine „Privatwirtschaft” sein, sondern ist in höchstem Maße von öffentlichem Interesse. Sie hat dem Gemeinwohl zu dienen und der Versorgung aller - nicht nur mit Waren, Gütern und Dienstleistungen, sondern auch mit Arbeit und Einkommen.
6.2. Europa braucht eine lebendige Landwirtschaft und eine Symbiose aus Stadt- und Landkultur, anstatt einer ausufernden Verstädterung. Es wirkt den Tendenzen zur Zersiedelung und Landschaftsstörung, zu unfruchtbaren Böden, zu verseuchtem Grundwasser und zur abnehmenden Regenerationsfähigkeit von Pflanzen und Tieren entgegen. Europa sorgt für eine gesunde Ernährungsgrundlage für seine Menschen und berücksichtigt die Gesundheits- und Qualitätsinteressen der Verbraucher. Es gewährleistet den öffentlichen Zugang zu Wasser, Energie, Verkehrsinfrastruktur, kulturellen, sozialen und medizinischen Einrichtungen sowie Bildungsangeboten.
6.3. Die Menschen sind das soziale Potential Europas, seine wichtigste Ressource. Die Qualität der Völkervielfalt und Menschenvielfalt ist gewissermaßen der Lebensatem für die Entfaltung der europäischen Seele. Diese kann durch Austausch und Menschenbegegnungen in ihrer Entwicklung begünstigt werden. Nachdem die freiwillig vereinten Nationen sich zu Europa bekennen, müssen Europas Visionen in der Realität verankert werden.
6.4. Das für alle zugängliche, freie, europäische Bildungs- und Hochschulwesen widmet sich verstärkt den europäischen Ideen und nachhaltigen Gestaltungsfeldern, ohne sich von wirtschaftlichen und politischen Interessen und Einflüssen vereinnahmen zu lassen. Die Wissenschaft selbst strebt nach Erneuerung, Öffnung und gedanklicher Beweglichkeit und verlässt Dogmen und pseudowissenschaftlich begründete Wirtschaftsideologien. Die geisteswissenschaftlichen Fachdisziplinen erhalten wieder einen höheren Stellenwert gegenüber der nur technisch-naturwissenschaftlichen Ausrichtung am wirtschaftlichen Verwertungsinteresse.
6.5. Europa gestaltet eine neue Boden- und Eigentumsordnung und eine neue Finanz- und Kapitalordnung sowie eine neue Arbeitsordnung - in der Erkenntnis, dass Arbeit, Boden und Kapital unverkäuflich sind und die Dynamik des Zinseszinses die Wirksamkeit des Geldwesens zerstören. Europa versteht sich als eigenständiges Modell, dass anregend mit Alternativen auf die gefährdete Welt einwirken kann. In Europa steht kulturelle Vielfalt über Assimilation, Lebensqualität über der Anhäufung privaten Reichtums, nachhaltige Entwicklung über unbegrenztem materielles Wachstum, universelle Menschenrechte und die Rechte der Natur über Eigentumsrechten, globale Zusammenarbeit über einseitiger Machtausübung.
These 7: Zum gemeinsamen Gestaltungsprozess der europäischen Verfassung
Der Wille und das Rechtsempfinden aller Europäer muss in die Verfassung Europas einfließen können. Diese kann nur ohne Zeitdruck in einem gemeinsamen Gestaltungsprozess neu entwickelt werden, an dem alle Betroffenen in basisdemokratischer Weise umfassend beteiligt werden, um ein Bild von der Zukunft zu entwerfen. Vorschläge über die formale Seite dieses Prozesses existieren bereits. Die Leitbilddiskussion sollte der erneuten Verfassungsdiskussion voraus- oder mit ihr einhergehen.
Ein Grundlagen-Leitbild als Orientierungshilfe für die Wertediskussion ist hilfreich für die Prozessbegleitung, die mit einer Kultur- und Strukturdebatte zu verknüpfen ist. Die Verfassung sagt etwas über den Zustand der Menschen und die Gestaltung ihres Gemeinschaftslebens aus, nicht allein über die Vorstellungen von politischen Eliten. Die fällige Neuauflage der Verfassungsdiskussion sollte losgelöst vom vorliegenden Vertragstext und unbeeinflusst von wirtschaftlichen Lobby-Organisationen erfolgen. Die neue Verfassung verzichtet auf jegliche Festlegungen – etwa zugunsten einer neoliberalen Wirtschaftsordnung sowie auf militärische Rüstungsverpflichtungen. Sie verzichtet auch auf alle Detail-Regelungen, die den Rahmen einer Verfassung sprengen und offene politische Gestaltung verhindern.
Dem gegenüber muss das Subsidiaritäts- und das Demokratieprinzip deutlicher Eingang in die Verfassung finden. Eine Sozialcharta ist als ein Kernbestandteil in den Verfassungsrang zu erheben. Europa strebt nach einer sozialer Erneuerung und humaner Gestaltung des Wirtschaftens - dies muss auch in der Verfassung zum Ausdruck kommen.
Eine europäische Verfassung darf inhaltlich nicht hinter den fortschrittlicheren nationalen Verfassungen, wie etwa dem Grundgesetz, zurückbleiben und Bürgerrechte oder nationale Beteiligungs- und Entscheidungsrechte zentralistisch einschränken. Sie muss vielmehr den Charakter einer Rahmenverfassung erhalten, die sich auf gesamteuropäische Aspekte beschränkt. Die Verfassung sollte durchgängig das Zukunftsbild, Rechtsempfinden und - bewusstsein zum Ausdruck bringen, das in den Menschen Europas im Sinne eines gemeinsam entwickelten Leitbildes lebt. Die Verfassung sollte einen Rechtsrahmen schaffen, der es allen Menschen in Europa ermöglicht, eigene Initiative, Selbst- und Mitverantwortung in selbstverwalteten Strukturen zu übernehmen.
7.1. Europa braucht einen ganzheitlichen Denkansatz, um der Gestaltung des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems im 21. Jahrhundert gerecht zu werden. Dies muss sich auch in der Verfassung niederschlagen. Wenn ein politisch-wirtschaftliches Hypersystem – wie die EU Europa und mit ihm die ganze Weltordnung – fehlsteuert, kann der Einzelne nur wirksam gegensteuern, wenn er Allianzen bildet mit anderen guten Kräften. Diesen zivilgesellschatlichen Gestaltungskräften muss Europa auch bei der Verfassungsdiskussion ungehinderten Freiraum zur Entfaltung bieten. Auch die Mächtigen der Wirtschaft und Politik müssen die Sackgasse erkennen, um aus ihr herauszufinden.
7.2. Da wirtschaftliches Konkurrenzdenken und militärische Rüstungsverpflichtungen wirkliche Völkerverständigung verhindern oder erschweren, müssen solche Elemente in der Verfassung ausgeräumt werden. Die Verfassung sollte den Menschen in Europa auch signalisieren, dass die Idee und Zukunft Europas nicht aus einer unaufhaltsamen Welle der Deregulierung, Privatisierung und Kommerzialisierung und aus dem Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme besteht. Die Verfassung hat vielmehr zu verdeutlichen, was Recht und Unrecht ist und was morgen solidarisch geschehen soll.
7.3. Europa erlebt Symptome des Zusammenbrechens der bisherigen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ordnung. Es bedarf deshalb einer neuen ethischen Orientierung, aus deren Geist die Verfassungsinhalte geprägt sein müssen. Denn wenn Europa so weitermacht wie bisher, wird es die gegenwärtige Ordnung keine 15 Jahre mehr aufrecht erhalten können ohne schwerste Krisen. Deshalb muss die Verfassung die neue Ordnung ermöglichen und sichtbar machen.
7.4. Eine europäische Verfassung sollte das europäische Modell verdeutlichen, das als staatliche Aufgabe ein Mindestmaß an Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit schafft und die Grenzen des Marktes aufzeigt. Die Verfassung sollte – auf die Grundwerte der Französischen Revolution gestützt – deutlich machen, was Sache des Staates, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft und des freien Kulturbereiches ist. Es sollte auch deutlich werden, was Sache der Gemeinden, der Regionen und der Nationalstaaten ist.
7.5. Der europäischen Verfassung kann die Umverteilung von oben nach unten, die Spaltung in Arm und Reich, in Gewinner und Verlierer nicht gleichgültig sein. Sie hat einen Rahmen zu schaffen für gerechten Ausgleich. Die Verfassung darf auch nicht über innere Erosion der parlamentarischen Parteiendemokratien und die Dekadenz-Erscheinungen im staatlich und wirtschaftlich abhängigen Kultur- und Medienbetrieb hinweggehen, die lähmende Lethargie und Konformismus hervorrufen. Die Verfassung hat vielmehr einen rechtlichen Rahmen zu setzen, der einer Erneuerung der europäischen Kultur und Politikkultur Chancen gewährt.