Lebensperspektiven für Jung und Alt - Alternativen zur Altenpflege nach dem Fließbandprinzip mit tödlichem Ausgang
In den letzten Wochen wurde der Öffentlichkeit durch erschütternde Presseberichte über die Zustände in der Altenpflege drastisch vor Augen geführt, wohin es führen kann, wenn soziale Dienstleistungen ausschließlich nach rein betriebswirtschaftlichen Vorgaben organisiert werden und der Mensch dadurch entweder zu einem lästigen Kostenfaktor degradiert oder als gewinnversprechende Einnahmequelle einkalkuliert wird – immer häufiger mit Todesfolge. Lassen sich zwischenmenschliche Dienstleistungen nach den gleichen ökonomischen Prinzipien regeln wie die wirtschaftliche Optimierung der Warenproduktion in einem privaten Industriebetrieb oder in einer kommerziellen Einrichtung? Welches Kostenlimit wird beispielsweise für ein Menschenleben im Altenheim angesetzt und kalkuliert, damit die Menschenwürde noch gewahrt bleibt – sofern sie im betriebswirtschaftlichen Kalkül überhaupt vorkommt?
„Die größte soziale und humanitäre Katastrophe nach dem 2. Weltkrieg“
Die medizinischen Dienste der Krankenkassen haben ermittelt, dass mehr als die Hälfte der Altenheimbewohner in Deutschland mangel-, fehl- oder unterernährt seien; ein Drittel der künstlich ernährten Heimbewohner würden trotz der künstlichen Ernährung verhungern. Nach Schätzung des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) sterben mindestens 10.000 Menschen an mangelhafter Versorgung. Viele Todesopfer gehen auf Liegegeschwüre zurück, von denen 30% der Bettlägerigen betroffen seien. Die Vertreter der Organisation sprechen deshalb von der größten sozialen und humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg.
Auch wenn andere Verbände wie Diakonie, Caritas und das Deutsche Rote Kreuz die Berechnungen anzweifeln, bestätigen die Spitzenverbände der Krankenkassen, dass es sich bei den angesprochenen Problemen nicht um Einzelfälle handeln würde. Tatsächlich gebe es in den Altenheimen derartige Probleme bei der Versorgung mit Essen und Trinken und bei der Vermeidung der Liegegeschwüre. Vielfach fehle die Zeit, die alten Menschen zu füttern oder mit ihnen zur Toilette zu gehen. Wer aber kalkuliert und bestimmt die Zeitaufwendung für die Betreuung der alten Menschen nach welchen Gesichtspunkten und unter welchem Menschenbild?
Diese Frage wird immer drängender mit Blick darauf, dass in 10 Jahren allein in den Ruhrgebietstädten über 2 Mio. ältere Menschen pflegebedürftig sein werden und in manchen Stadtteilen dort bereits Dreiviertel der Bevölkerung über 60 Jahre alt ist. Welches sind dann die Maßstäbe der Altenbetreuung? Können öffentliche Dienstleistungen überhaupt wirtschaftlich rentabel sein oder sind sie nicht von ihrem Selbstverständnis her ein nicht dem Wirtschaftsleben zuzurechnendes „Zuschussgeschäft“ der Solidargemeinschaft, dienen sie doch der Sicherung der Menschenrechte und der Menschenwürde, die sich nicht in Geld aufwiegen lassen, weil sie von viel größerem Gewicht sind für das Wohlergehen einer menschlichen Gemeinschaft, als sich monetär ausrechnen lässt.
Das betriebswirtschaftliche Diktat an falscher Stelle führt zu sozialen Katastrophen.
Mit einer völlig unzureichenden Pflegeversicherung ist seinerzeit eine vermeintliche Problemlösung in finanzieller Hinsicht und zur Versorgungssicherheit anvisiert worden, die heute das gesamte Dilemma offenbart, das nur scheinbar etwas mit der vielzitierten demografischen Entwicklung zu tun hat. In früheren Zeiten des Kinderreichtums mussten auch wenige Erwerbstätige viele Abhängige mit „durchziehen“, so dass es sich um kein Problem der statistischen Alterspyramide oder Altersgruppen handelt, sondern der sozialen Verantwortung bei allen Entscheidungen und Verteilungsfragen.
Tatsächlich erleben wir immer häufiger die gesellschaftlich geradezu kaltblütige und herzlose Vernachlässigung der alten pflegebedürftigen Menschen in öffentlichen wie privaten Heimen - einerseits durch die vom selbst verursachten Spar- und Kostendruck fehl geleitete soziale Gemeinschaft, andererseits durch das große lukrative Geschäft mit der Altenpflege und -betreuung in luxuriösen privaten Seniorenresidenzen durch Geldanleger andererseits. Beiden Heimkonzepten liegt systembedingt die gleiche Menschen verachtende Gesinnung vielfach zu Grunde, die ein Altwerden in Würde und Respekt erschwert und den wertvollen Beitrag der alternden Menschen für die Zukunftsentwicklung einer humanen menschlichen Gesellschaft als Ganzes verkennt. Das betriebswirtschaftliche Diktat an falscher Stelle führt zu sozialen Katastrophen.
Altwerden in Würde und Respekt – eine humane Herausforderung für die ganze Gesellschaft
Die „Schuldvorwürfe“ treffen weniger die sich zumeist liebevoll und mühevoll aufopfernden Altenpflegerinnen und Altenpfleger, die trotz der ihnen gesetzten, oft nicht einzuhaltenden Vorgaben und widriger Arbeitsumstände wie Personalmangel sowie trotz niedriger Entlohnung ihr Bestes bei der Betreuung der ihnen anvertrauten Menschen geben, im engen Korsett der „Pflegerichtlinien“, „Heimvorschriften“, „Dienstplänne“ und gesellschaftlich gebilligten Finanzierungsregelungen für die Altenpflege und die Heimleitungen. Auch lassen sich die Vorwürfe nicht verallgemeinern und die positiven Ausnahmen und die vorbildlichen Pflegeheime sind in die Gesamtbetrachtungen einzubeziehen. Doch längst geht es nicht mehr nur um „schwarze Schafe“ unter den Heimbetreibern und die gesellschaftlich vorgegebenen Finanzrestriktionen, auch nicht nur um die zuwendende oder abweisende Haltung der unmittelbaren Angehörigen und deren Mitverantwortung, sondern um ein gesellschaftliches Phänomen unserer Zeit.
Unsere alternde Gesellschaft hat ein krankhaftes Verhältnis sowohl zu ihren Kindern, indem sie Kinderreichtum in Kinderarmut verwandelt, als auch zu ihren ganz Alten, zu denen in Kürze die Mehrzahl gehören wird, denn alt zu werden steht als Zukunft jedem Lebenden vor Augen - aber es bereitet Angst in Anbetracht der gesellschaftlichen Zustände. Mit der Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse als gesellschaftliche Verirrung gerät die menschliche Biografie des einzelnen Menschen zu einem Spießroutenlauf auf einem sozialen Katastrophenschauplatz mit menschlichen Tragödien, letztlich zum Untergang einer ganzen Gemeinschaft im „Land der Alten“, dem es an Altersweisheit mangelt. Wie könnte dieser Zustand verändert werden, um den alternden Menschen und damit der menschlichen Gemeinschaft insgesamt eine Perspektive zu geben?
Alternativmodelle zur Heimpflege im Ruhrgebiet
Ralf Siegel vom Institut der Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke möchte das Ruhrgebiet zu einer deutschen Modellregion für moderne Altenpflege entwickeln, indem sein Institut Akteure auf dem „Pflegemarkt“, wie er sich heute marktwirtschaftlich definiert, verstärkt beraten möchte, da das Ruhrgebiet in punkto Überalterung der bundesweiten Entwicklung weit voraus ist. Diese Region, in der teilweise der Alterdurchschnitt bereits heute - trotz günstigen Altersdurchschnitts durch die Vielzahl der Migrantenkinder - bei 55 Jahren liegt, hat gar keine andere Wahl, als sich schnellstmöglich mit der Alterung der Gesellschaft auseinander zu setzen. Da für viele Ruhrgebietsbewohner die Altenheimplätze viel zu teuer oder unbezahlbar sind, stellt sich die Frage nach den Alternativen.
Sein gegründetes Projekt „Autonomia“ versteht Ralf Siegel als Gegenmodell zum Altersheim. In Wohngemeinschaften werden Demenzkranke von fachlich besonders geschulten Personal betreut. Die Nachfrage ist nicht nur wegen der niedrigeren Kosten groß, sondern es wird ein als „normal“ zu bezeichnender Lebensraum geschaffen und geboten anstelle der sogenannten „Laufstallmodelle“, d.h. schwellenfreie runde Gebäude, in denen Demenzkranke im Kreis laufen und jedwede Orientierung verlieren. Es fehlt aber an Menschen, die den Senioren mal etwas vorlesen oder mit ihnen einkaufen gehen usw., so dass dafür mehr Ehrenamtliche gewonnen werden sollen. Wenn künftig dafür Langzeitarbeitslose im Rahmen von Hartz IV mit 1,-€-Jobs dazu eingeteilt werden, so besteht nur die Hoffnung, dass es die Richtigen mit einer Neigung zum Pflegeberuf sind, die sich dann auch dafür entscheiden, in dem Beruf zu arbeiten und sich ausbilden zu lassen.
Für diejenigen Senioren, die körperliche Beschwerden haben, aber geistig fit sind, erscheint das Pflegebüro einer Duisburger Wohnungsgesellschaft vorbildlich, das bei altergerechten Umbaumaßnahmen berät. So können ältere Menschen länger in ihrer gewohnten Umgebung bleiben oder selber Wohngemeinschaften bilden. Das sind zwei von vielen pragmatischen alternativen Ansätzen und Beispielen. Das allein reicht aber nicht aus, um das Verhältnis der Generationen und die Bedürfnisse der verschiedenen Lebensalter auf eine neue, menschliche Grundlage zu stellen. Es stellt sich die weitergehende Frage: Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, damit der Mensch auch im Alter Mensch bleiben kann?
Besinnung auf soziale, biografische und karmische Lebens- und Entwicklungszusammenhänge
Ohne Besinnung auf soziale, biografische und karmische Zusammenhänge geraten die menschlichen Tragödien einer inhumanen Menschenbehandlung am Lebensende kaum ins Bewusstsein, schon gar nicht, solange das technokratische betriebswirtschaftliche Diktat aufgrund eines neoliberalen Weltbildes die Gesamtschau auf dasjenige aus dem Blick verdrängt, was den Sinn und die Qualität des individuellen Lebens und des gemeinschaftlichen Zusammenlebens in seiner wechselseitigen Abhängigkeit ausmacht. Mit dem Ausgrenzen der „teuren Alten“ würden sich die jüngeren Generationen von ihrem eigenen Entwicklungsstrom abschneiden auf dem Weg in eine hoffnungslose Zukunft. Ob sie sich dessen bewusst wird? „Kinder sind unsere Zukunft,“ ertönt es vielstimmig. Aber sind die Alten unsere Vergangenheit?
Bald ist die Kindheit unsere Vergangenheit und das Altwerden unsere Zukunft, umso mehr in einer Gemeinschaft, die in ihren Landesgrenzen kein ausgewogenes Verhältnis von Alt und Jung mehr aufweist. Die große Zahl der Kinder auf dem südlichen Teil dieser Erde, in der wegen der extrem geringen Lebenserwartung das Altwerden für viele zur Utopie wird, würden sich die gebildeten und wohlhabenden Alten herbeiwünschen, so wie sich unsere Gesellschaft vergeblich die hier fehlenden Kinder wünscht, die sich aber „betriebswirtschaftlich nicht rechnen“.
Mit dem Bedeutungsverlust der Familienbindung und Blutsverwandtschaft gewinnt die Wahlverwandtschaft grenzüberschreitend an Bedeutung. Könnte es in Zeiten der Reisen, der Mobilität, der interkulturellen Kontakte und der Globalisierung, in der das heimatliche Lebensumfeld an Bindungswirkung verliert, auch ein Alternativmodell sein, dass die vernachlässigten Alten von hier sich in Regionen begeben, wo sie willkommen sind und Segen bringen, und im Gegenzug die ganz Jungen von dort nach hierher kommen, wo sie von den Alten gebraucht werden. Der Überschuss an Kindern in den einen Ländern und der Überschuss an Alten in den anderen Ländern würde sich ausgleichen in der Einen Welt und mit einem Überschuss an Menschlichkeit die menschlichen Defizite weltweit ausgleichen. So erhielten beide Generationen ungeahnte neue Lebensperspektiven und Überlebenschancen in einem Generationen übergreifenden Weltbürgertum mit großen Chancen für ganze Gesellschaften mit ihren demografischen, finanziellen und sozialen Problemen sowie Arbeitsplatzdefiziten: Alt für Jung und Jung für Alt multikulturell – fürwahr, eine Bereicherung für alle und ein Schub für die Menschheitsentwicklung. Es lohnte sich, darüber nachzudenken...