In allen Medien und auf vielen Veranstaltungen wurde am 23. Mai von Politikern, Verfassungsrechtlern und Bürgerinnen und Bürgern das 1949 in Kraft getretene bewährte und weitsichtige deutsche Grundgesetz gewürdigt, mit Vorbildfunktion für die Verfassungen vieler anderer demokratischer Staaten - wenngleich nur als Verfassungsersatz und Provisorium bis zur deutschen Wiedervereinigung ursprünglich gedacht. Im Dreigliederungsrundbrief Nr. 2/99 hatte Christoph Strawe umfassend die Intentionen und den Wesensgehalt des damals 50-jährigen Grundgesetzes detailliert herausgearbeitet, das einen Verfassungsauftrag zur Politik der sozialen Erneuerung und zur Weiterentwicklung der Demokratie enthält.
Heute stellt sich mehr denn je die Frage, wie die gelebte Verfassungswirklichkeit sich weiter entwickelt, denn die demokratischen Grundrechte, insbesondere die Freiheitsrechte mit ihren alltäglichen Verletzungen, müssen täglich neu verteidigt werden, ebenso wie das ausgehöhlte Sozialstaatsgebot. Der aus dem Grundgesetz ableitbare soziale Gestaltungs- und Erneuerungsauftrag ist derzeit die größte Herausforderung, neben der Abwehr der Grundgesetzbeschränkungen durch politische Gesetzesvorhaben sowie vor allem durch den EU-Reformvertrag und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Ist es nicht im 60. Jahr des Grundgesetzes Zeit für eine moderne und konkrete Vision einer demokratischen und solidarischen Gesellschaft jenseits des neoliberalen Kapitalismus und des undemokratischen europäischen Zentralismus mit seiner mangelnden Gewaltenteilung, der Exekutivlastigkeit und dem missachteten Subsidiaritätsprinzip?
Ohne Zukunftsvisionen verflüchtigt sich der Geist unseres Grundgesetzes
Unbestreitbar ist mit dem gelungenen Grundgesetz der Weg vom einstigen Obrigkeits- und Untertanenstaat zur selbstbewussten und wehrhaften Demokratie erfolgreich geebnet worden, wie in den Festreden am 23. Mai hinreichend betont wurde. Mit dem Grundgesetz haben die Deutschen wieder die Freiheit gelernt (anknüpfend an die Weimarer Verfassung und zuvor an die erste deutsche Verfassung, wie sie vor 160 Jahren am 27. März 1849 von der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche beschlossen worden war, mit der Garantie von bürgerlichen und individuellen Freiheitsrechten). Die demokratische Mündigkeit der Staatsbürgerinnen und -bürger ist seither gewachsen - trotz teilweise erschreckender Unkenntnis über die einzelnen Inhalte des Verfassungstextes in der Bevölkerung, bei heutigen Schülern oder sogar bei politischen Mandatsträgern selber.
Immerhin erfolgte mit dem Bekenntnis zur Menschenwürde 1949 die Abkehr vom vorherigen größten deutschen Unrecht. Das Interesse, die Wertschätzung und Einsatzbereitschaft für die Grundrechte in der Verfassung sagen auch etwas darüber aus, in welcher Verfassung die Rechtsgemeinschaft sich befindet und wie das Grundgesetz und die Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte alltäglich gelebt werden. Denn viel von der Freiheit, dem Wohlstand und der Sicherheit, die man als deutscher Staatsbürger genießt, beruht auf rechtlichen Institutionen wie vor allem dem Grundgesetz. Und jede Verfassung ist darauf angewiesen, dass die Bürgerinnen und Bürger auf ihre Garantien auch Wert legen. Reicht es deshalb aus, in Sonntagsreden an historischen Stichtagen rückwärtsgewandt nur auf die Entstehungsgeschichte unseres erfolgreichen Grundgesetzes selbstgefällig zu blicken und den Ist-Zustand fortzuschreiben, oder ist es nicht viel wichtiger, daraus den Blick in die Zukunft abzuleiten?
Eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung hat jedoch weder der feierliche 60. Geburtstag unseres Grundgesetzes noch der vorläufige Höhepunkt der zum Umdenken auffordernden Finanz- und Wirtschaftskrise bisher erzeugt. Bei aller Freude darüber, dass es ein Glücksfall ist, wenn eine freiheitlich-demokratische Verfassung in Deutschland so lange Bestand hat - auch wenn es lange gedauert hat, bis das Grundgesetz in Gesellschaft und Rechtsprechung akzeptiert war – so sind substantielle Gefährdungen und Erosionen immer dann nicht zu übersehen, wenn Grundwerte schleichend aus dem Bewusstsein geraten oder sich die politischen Realitäten davon entfernen. Denn Demokratie und Rechtsstaat leben von klaren Regelungen, die auch eingehalten werden müssen.
Eine für die Wirtschaft hinderliche Demokratie mit zurückgedrängtem Primat der Politik?
Wo sind heute diejenigen Visionäre mit der Weisheit und Weitsicht der damaligen „Väter und Mütter unseres Grundgesetzes“ oder der Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die von demokratischen Prinzipien ebenso durchdrungen waren wie von der Wertschätzung der Grund- und Menschenrechte und deren sozialen Erfordernissen und Voraussetzungen? Die Erschöpfung früherer politischer Ideale, Konzepte und Visionen, mit der Tendenz der Entleerung politischer Programme samt dem Rückzug vieler Bürger, ist kennzeichnend für die gegenwärtige Politik. Das heutige Demokratiedefizit, der Sozialabbau und die Entsolidarisierung zeugen davon, dass der Geist unseres Grundgesetzes sich zu verflüchtigen droht, soweit Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit auseinanderdriften. Der mündige Staatsbürger als individuelles Freiheitswesen verschwimmt dabei ebenso zur Unkenntlichkeit wie der Auftrag zur Weiterentwicklung der Demokratie. In welche Verfassung gerät eine solche Gemeinschaft?
In den letzten Jahren war jedenfalls der Eindruck gewachsen, dass in einer neoliberalen Wirtschaftsideologie die Demokratie mit dem Primat der Politik eher hinderlich sei und die demokratischen Staaten in die Rolle der Erfüllungsgehilfen bei der Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche gedrängt wurden. Bei Amtsantritt betonte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Antrittsrede ausdrücklich „die dienende Funktion der Politik für die Wirtschaft“ und entwarf und praktizierte damit ein verändertes Staatsverständnis. Damit veränderte sich auch die Einstellung zu den Grundrechten und den Menschenrechten und zum Sozialstaat nachteilig, wie folglich auch im Alltag der betroffenen Menschen alltäglich spürbar, ob erwerbsabhängige Arbeitnehmer, Arbeitslose oder Asylbewerber. Ist mit dem Freiheitsbegriff noch die autonome Selbstbestimmung des Einzelnen über sich selbst und seinen Lebensvollzug sowie seine Gemeinschaftsbeteiligung gewährleistet, wenn das Existenzminimum - trotz Sozialstaatsgebot in Verbindung mit Artikel 1 GG - seinen individuellen Bewegungsspielraum drastisch einengt? Wie stellen sich tatsächlich die Berufsfreiheit oder die Freizügigkeit für einen Hartz-IV-Empfänger dar, der nicht mehr seinen Aufenthaltsort bestimmen kann? Verstößt nicht der verordnete Arbeitszwang bei Androhung des Entzuges der materiellen Mindestzuwendungen gegen die Menschenrechtserklärungen? War das einst die Vision von unserem sozialen und demokratischen Rechtsstaat, der sich heute gegen das Rechtsempfinden des Volkes verhält?
Wie Staat und Unternehmen die Grundrechte verletzen
In einem jährlichen „alternativen Verfassungsschutzbericht“ oder „Grundrechte-Report“ - herausgegeben von der humanistischen Union und der Neuen Richtervereinigung sowie sieben weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen – wird beschrieben, wie Staat und Unternehmen die Grundrechte gefährden und verletzen. Der Bericht für das Jubiläumsjahr 2009 erwähnt nicht nur die in ausländischen Gefängnissen unter Folter erzwungenen Zeugenaussagen, deren Verwendung durch die Bundesanwaltschaft nicht für strikt verboten erklärt wurden. Er geht auch auf die Grundrechtsverletzungen im Wirtschaftsleben ein. „Kein Betrieb darf mehr grundgesetzfreier Raum bleiben“, betonte der Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer bei der Vorstellung des diesjährigen Berichtes im Mai 2009. Er bezog sich vor allem auf die Datenschutzskandale des letzten Jahres bei Lidl, Telekom und Bahn AG.
Das Grundgesetz mit dem Demokratieprinzip und der zugesicherten unantastbaren Menschenwürde gemäß Artikel 1 (1) darf nicht im Wirtschaftsleben und an den Werkstoren enden. Hingewiesen sei auf manche Wirtschaftsbetriebe ohne Mitbestimmung, mit staatlicherseits zugelassenen Leiharbeitern und Niedriglöhnern oder ungleicher Bezahlung von Frauen. Die „Sozialverpflichtung des Eigentums“ erscheint vielen als der am wenigsten realisierte Artikel des Grundgesetzes, wenn nicht gar als „frommer Wunsch“. Und es ist nicht zu übersehen: Der auch nach der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht beendete marktradikale Wirtschaftskrieg „jeder gegen jeden“ mitsamt der abhängigen Erwerbsarbeit und der die Verarmung fördernden Hartz-IV-Gesetzgebung - mit verfassungswidrigem faktischem „Arbeitszwang“ und Einschränkung der freien Wohnungs- und Wohnortwahl - trägt ebenso zur Verletzung der Menschenwürde und Menschenrechte bei wie die Kommerzialisierung öffentlicher Güter, deren Zugang nicht nur den Zahlungskräftigen möglich sein darf.
Zudem wurde die Bundesrepublik Deutschland im ersten Halbjahr 2009 mehrfach vom UN-Sonderbeauftragten zur Einhaltung der Menschenrechte dafür gerügt, dass unser deutsches Schulsystem Behinderten, Migrantenkindern und Kindern aus sozial schwachen Familien nicht die gleichen Chancen einräume. Gegen diese Kritik zeigen sich deutsche Regierungspolitiker trotz Unterzeichnung der Menschenrechtsabkommen besonders resistent. Das jüngste konkrete Beispiel: Nachdem der integrativen Waldorfschule Emmendingen von der Landesregierung Baden-Württemberg die Beschulung von bis zu vier sonderschulpflichtigen Kindern pro Klasse untersagt wurde, musste sich die Schule erst vor dem Verwaltungsgericht das Recht für dieses Vorhaben einklagen. Gleichwohl stellte die Landesregierung bislang keine staatliche Förderung dafür in Aussicht.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise und Demokratiekrise als Anstoß zum Umdenken
Nach dem jähen Erwachen durch die akute Finanz- und Wirtschaftskrise schien mit dem Scheitern des Neoliberalismus zunächst ein Umdenken einzusetzen, mit einer Besinnung auf die staatlichen und demokratisch kontrollierten Ordnungsfunktionen für das Wirtschafts- und Rechtsleben. Doch längst scheint man wieder mit halbherzigen, inkonsequenten und hilflosen sowie von Interessen geleiteten Handlungsweisen zur Tagesordnung überzugehen zu wollen. Dazu passte es, dass die Bundesregierung beim gesponserten Bürgerfest zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes am Brandenburger Tor in Berlin vor allem eine Firmenpräsentation veranstaltete, mit einer Show der deutschen Autoindustrie im Zentrum – von vielen als peinlich empfunden im Kontrast zum nebenan durchgeführten festlichen Staatsakt. Die politischen und wirtschaftlichen Spitzen haben sich von den Menschen und ihrer Lebensrealität weit entfernt.
Es mangelt bei den „Eliten“ an sozialer Phantasie, Gestaltungskraft und Erneuerungswillen, aber auch an Unabhängigkeit, so dass einmal mehr die Zivilgesellschaft gefordert ist. Müsste nicht gerade jetzt die Frage gestellt werden: Wie soll unsere Demokratie und wie soll unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in 20 Jahren aussehen? Was müssen wir dazu von heute an schrittweise verändern? Wie lautet unser heutiger Verfassungsauftrag für das Zusammenleben von morgen? Und wie fügt sich unser Rechtsrahmen und Rechtsverständnis in die europäischen und globalen Zusammenhänge so ein, dass es zu keinen rechtlichen Einschränkungen, aber auch zu keinen Kollisionen mit dem Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden in anderen Rechtsräumen und -gemeinschaften führt, sondern zu deren Bereicherung nach den universellen Maßstäben der allgemeinen Menschenrechte?
Stattdessen hatte die deutsche Bundesregierung zum Beispiel vor dem UN-Frauenrechtsausschuss im Februar 2009 „eine schlechte Figur gemacht“ bei ihrem gescheiterten Gender-Mainstreaming, also bei der Überprüfung aller Vorhaben darauf, ob sie jeweils Männern und Frauen zugute kommen. Die Differenz zwischen Männer- und Frauenlöhnen ist mit 23% so ziemlich am größten in Europa. Auch bei den Bildungschancen für Schüler aus sozial schwachen Familien schneidet unser Schulsystem im unternationalen Vergleich regelmäßig sehr schlecht ab. Mittlerweile ist Deutschland auch beim Armuts-Reichtumsgefälle einer der Spitzenreiter in Europa mit dem größten Abstand zwischen „oben und unten“. Für einen Sozialstaat sind das alarmierende Anzeichen für ein demokratisches Politikversagen gegen den Geist der Verfassung.
Mehr Volk und weniger Partei beim alltäglichen Kampf um die Grundrechte
Steckt die eher rückläufige und durch Politikverdrossenheit und Wahlenthaltung abgewertete Demokratie im Gewand der dominanten Parteiendemokratie nicht in der Krise? Und trippelt sie nach 60 Jahren ohne Weiterentwicklung nicht eigentlich immer noch in den Kinderschuhen? Brauchen wir nicht „mehr Volk und weniger Partei“, mehr direkte Demokratie und eigene rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten vor Ort, aber keinesfalls einen Rückfall in einen bloßen Obrigkeits- oder Mehrheitsstaat mit feudalherrschaftlichen Allüren? Die Parteiendemokratie und Parteienfinanzierung sowie das Wahlrecht müssten dringend weiterentwickelt werden, denn die Demokratie ist immer wieder neu zu beleben. Hat sich nach 1989 jede weitere „demokratische Revolution“ erübrigt oder müssen wir nicht gerade jetzt die Krisengeschüttelte Demokratie geradezu „neu erfinden“? Der dreigliedrige Verfassungsauftrag gibt uns dazu die längst noch nicht voll genutzten Entfaltungsspielräume für mehr Freiheit, Gleichheit und Solidarität.
Dazu brauchen wir langen Atem beim „Bohren dicker Bretter“, denn „der Fortschritt ist eine Schnecke“. Erinnern wir uns daran, wie viele Jahre es gedauert hatte, bis das Gebot des Grundgesetzes durchgesetzt wurde, Frauen und Männern oder unehelichen Kindern gleiche Rechte einzuräumen - trotz fortschrittlicher Entscheidungen des Verfassungsgerichtes bereits in den fünfziger Jahren, die aber von christlich-konservativen Regierungen damals ignoriert wurden. Bis heute ist der gleiche Lohn für gleiche Arbeit für Frauen noch keine Alltagsrealität. Der Bundesgerichtshof berief sich noch in den fünfziger und sechziger Jahren zum Verhältnis von Mann und Frau auf das „ewige Sittengesetz“ mit der Unterordnung der Frau im Familienrecht. Und erst mit dem Spruch aus Karlsruhe im Jahre 2003 zu eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften kamen die Homosexuellen zu ihrem Recht. Noch in den fünfziger Jahren gab es Urteile aus Karlsruhe gegen homosexuelle Männer, etwa bei der Frage nach der Entschädigung für erlittenes Nazi-Unrecht. Das Grundgesetz ist also nicht schon dadurch in Kraft, dass es niedergeschrieben und formell in Kraft gesetzt worden ist, sondern dass es im politischen und gesellschaftlichen Alltag immer wieder durch die Bürgerinnen und Bürger erkämpft und verteidigt wird.
Das Grundgesetz als Maßstab oder Instrument der Tagespolitik?
Die heutige Politiker-Generation neigt teilweise dazu, nicht die Tagespolitik strikt am Grundgesetz auszurichten, sondern das Grundgesetz der jeweilige Tagespolitik anpassen zu wollen, wie zuletzt im Juni 2009 bei der mit äußerst knapper Zweidrittelmehrheit beschlossenen Einführung der „Schuldenbremse“ auf dem vorläufigen Höhepunkt der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise mit der hohen Staatsverschuldung. Zuvor wurde das Ansinnen bis nach der Bundestagswahl vertagt, die Hartz-IV-Behörden (ARGEn) als unzulässige Mischverwaltung zwischen Bund und Kommune durch Grundgesetzänderung zu legalisieren, obwohl vom Bundesverfassungsgericht für bedenklich erklärt, zumal damit auch das Subsidiaritätsprinzip verletzt würde. Davor wurden reihenweise angestrebte Gesetzesentwürfe vom Verfassungsgericht einkassiert, mit denen auf Bestreben des Bundesinnenministers die Schutz- und Freiheitsrechte der Bürgerinnen (Datenschutz, Online-Überwachung etc.) zur vorgeblichen Sicherheit und „Terrorismusbekämpfung“ eingeschränkt werden sollten.
Nach seiner Wiederwahl erklärte deshalb Bundespräsident Horst Köhler am 25. Mai in einem ZDF-Fernsehinterview, dass nach seiner Einschätzung das Grundgesetz zu häufig reformiert werde. In der Politik gehe es allzu häufig darum, die Verfassung zu ändern. Er regte zugleich an, die Bürger in Diskussionen über Verfassungsänderungen mit einzubeziehen und sie möglicherweise auch mitentscheiden zu lassen. Grundsätzlich plädierte der Bundespräsident für mehr direkte Demokratie, einschließlich Direktwahl des Bundespräsidenten durch das Volk. Die Parteien in Deutschland rief Köhler dazu auf, sich aufmerksam den Interessen der Menschen zu widmen. Auf die Frage, welche Grundgesetzbestimmungen er für am meisten gefährdet halte, verwies der Bundespräsident auf die Freiheitsrechte. Die Bürgerinnen und Bürger sollten also wach und aufmerksam beobachten, was da an „Verbiegungen“ und Zweckdienlichem mit ihrem Grundgesetz im politischen Tagesgeschäft angestellt wird, gerade in Bezug auf ihre individuellen Freiheitsrechte. Schon in der Vergangenheit gab es massive Kurskorrekturen und auch Angriffe auf das Grundgesetz aus den Reihen der Politik.
Die Kämpfe um das deutsche Grundgesetz
Mehr als 50 Mal wurde bekanntlich das deutsche Grundgesetz seit seiner Einführung geändert. Die wichtigsten Etappen sind noch in Erinnerung: Das nach dem zweiten Weltkrieg entmilitarisierte Deutschland bekam mit Einfügung des Artikels 87a wieder militärische Streitkräfte, gegen heftige Widerstände, die sich zugleich auch gegen den geplanten NATO-Beitritt und die feste West-Integration wendeten. Die nach fast zehnjähriger erbitterter Diskussion dann 1968 durch die große Koalition eingeführte Notstandverfassung, wonach die Bundeswehr bewaffnete Aufstände niederschlagen darf, ging auf eine Forderung der alliierten Siegermächte zurück. Derweil befürchtete die außerparlamentarische Opposition die Vorbereitung einer neuen Diktatur und erreichte immerhin, dass im Notstand die Exekutive nicht allein handeln kann, sondern ein Notparlament gebildet werden muss.
Mit dem Stopp der heftig umstrittenen Volkszählung mitsamt Melderegisterabgleich durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1983 wurde faktisch ein Grundrecht auf Datenschutz eingeführt , denn seit diesem Volkszählungsurteil gilt jede staatliche Datenspeicherung als „Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung“. Für die Einführung neuer Polizeibefugnisse ist seither eine Gesetzesgrundlage erforderlich. Anfang der neunziger Jahre hatten Bürgerrechtler nach der Wiedervereinigung vergeblich eine neue Verfassung gefordert, wie im Grundgesetz für diesen Fall vorgesehen. Doch stattdessen richteten Bundestag und Bundesrat nur eine Verfassungskommission ein, die lediglich einige Änderungen des bestehenden Grundgesetzes vorschlug. Daraufhin wurde zunächst in Artikel 23 die Mitarbeit Deutschlands in der EU geregelt. In einem zweiten Paket wurde unter anderem der Umweltschutz als Staatsziel (Artikel 20a) eingeführt.
Schließlich wurde 1993 nach anhaltender Stimmungsmache der konservativen Unionsparteien gegen das bestehende Grundrecht auf Asyl selbiges faktisch abgeschafft, mit Zustimmung der inzwischen eingeschwenkten SPD. Wer seither über sichere Drittstaaten einreist, kann sich nicht mehr auf das Grundrecht berufen, sondern Flüchtlinge müssen sich nun in der Regel auf die Genfer Flüchtlingskonvention berufen. Der seither festzustellende Rückgang der Asylbewerber ist allerdings wohl mehr auf die strikten EU-Grenzkontrollen zurückzuführen als auf die Grundgesetzänderung. In 1997 wurde dann per Grundgesetzänderung das Abhören von Wohnungen zur Strafverfolgung ermöglicht, was bis dahin nur zur Gefahrenabwehr zulässig war. Jahre später forderte das Bundesverfassungsgericht Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereiches privater Lebensgestaltung. In 2006 wurden dann Aufgaben von den Ländern auf den leistungsfähigen Bund verlagert, was im Zuge der Föderalismusreform I wieder zurückgedreht wurde.
In den Folgejahren gab es teils folgenlose Diskussionen über die Frage, ob der Klimaschutz und das Recht auf Arbeit als eigene Verfassungsziele verankert werden sollten. Tierschützer forderten, auch den Tierschutz in die Verfassung aufzunehmen, Umweltschützer wollen den Natur- und Umweltschutz bis hin zum Gentechnikverbot einbezogen wissen. Die aktuellen Debatten um die Patientenverfügung mit der Selbstbestimmung des Patienten als Ausgangspunkt werden verfassungsrechtliche bis strafrechtliche Fragen auf und natürlich Fragen der Menschenwürde. Die meisten inhaltlichen Auseinandersetzungen um wichtige Verfassungsfragen und -änderungen wurden sehr heftig und kontrovers geführt. Das sind lebendige und notwendige Verfassungsdiskussionen, wie sie sein sollten, denn die Verfassung ist nicht statisch, sondern unterliegt ständigem Wandel, dem Wertewandel folgend.
Schließlich wurde im Jubiläumsjahr und zugleich Krisenjahr 2009 mit denkbar knapper Zweidrittelmehrheit die von Wirtschaftsexperten heftig kritisierte „Schuldenbremse“ als Verfassungsziel ohne lange und gründliche Diskussion kurzerhand eingeführt, um die hohe Staatsverschuldung infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise in den nächsten Jahren zu begrenzen. Ebenfalls in 2009 befasst sich das Bundesverfassungsgericht mit mehreren Klagen zu der wichtigen Frage, ob der EU-Reformvertrag Bestimmungen des Grundgesetzes aushebelt und ob er dem Grundgesetz übergeordnet werden darf. Darauf wird an anderer Stelle vertiefter eingegangen.
Wer hat Angst vor plebiszitären Elementen und warum?
Seit Jahren laufen auch Unterschriftensammlungen aus der Bürgerschaft, insbesondere von „Mehr Demokratie e.V.“ mit der Forderung, Plebiszite (Volksabstimmungen bzw. eine dreistufige Volksgesetzgebung) auf der Bundesebene ins Grundgesetz aufzunehmen, wie in den meisten Landesverfassungen längst erfolgt oder ausgeweitet. Bei mehreren Parteien deutet sich hierzu ein zustimmender Sinneswandel an, aber es reicht derzeit noch nicht für eine erforderliche Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Offenbar befürchten vor allem die konservativen Politiker: „Alle Gefahr geht vom Volke aus“. Die unbegründete Angst vor dem Plebiszit sitzt tief. Die Entscheidungsmacht mit dem Volk als Souverän zu teilen, entspricht wohl nicht deren politischem Selbstverständnis – obwohl es im Grundgesetz heißt, dass die Parteien lediglich bei der politischen Meinungs- und Willensbildung mitwirken und dass unser Volk durch Wahlen und Abstimmungen seinen Willen kundtut. Von politischem Parteienmonopol ist nicht die Rede.
Der Bundespräsident bekam jüngst auf seinen Vorschlag nach mehr plebiszitärer Bürgerbeteiligung prompt negative Gegenreaktion aus den Reihen der Unionspolitiker; die CDU lehnt nach eindeutiger Aussage von Kanzlerin Merkel vom Mai 2009 Volksentscheide auf Bundesebene oder zu Europa generell ab; aber auch die Sozialdemokraten verhalten sich trotz Sinneswandel zu diesem Thema ambivalent. Die Verfassungsrichterin Gertrud-Lübbe-Wolff geht in einem Zeitungsinterview von Mai 2009 gleichwohl davon aus, dass Volksentscheide alsbald im Grundgesetz verankert werden, weil demokratische Entscheidungen bürgernah gefällt werden müssen. Sie hält die Demokratie als Prinzip, wonach jeder zählt und sich in den öffentlichen Angelegenheiten gleichberechtigt einbringen können muss, als nicht in der Krise befindlich. Aber die faktische Legitimationswirkung der Wahlen nehme ab, weil die Wähler immer weniger das Gefühl haben, sie könnten mit ihrer Stimmabgabe für Parteikandidaten oder –listen ihre individuellen Präferenzen steuern.
Es sei frustrierend, wenn man mit den wenigen eingeräumten Mitwirkungsmöglichkeiten nicht mehr wirklich mitteilen kann, was man politisch will. Deshalb sei es unausweichlich, dass früher oder später die Entwicklung in Richtung Volksabstimmungen sich verstärke, weil nur so die Bürgerinnen und Bürger ihre differenzierten Vorstellungen auch differenziert zum Ausdruck bringen könnten. Nach 60 Jahren stabiler Demokratie werde sich auch das Verhalten der gewählten Repräsentanten ändern, besonders wichtige Fragen dem Volk zur Entscheidung vorzulegen. Noch bei der Schaffung des Grundgesetzes sei der parlamentarische Rat der Meinung gewesen, dass Volksabstimmungen zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen hätten, was inzwischen auch wissenschaftlich widerlegt ist. Trotzdem wird dieses falsche Argument von den Gegnern plebiszitärer Elemente auch heute noch gerne wiederholt. Andererseits machen die vielen Teilerfolge von „Mehr Demokratie e.V. und anderen Initiativen Mut.
Neue politische Verfassung für den „dritten Weg“ – eine verpasste Chance?
Ein anderes unbequemes Thema wurde ebenfalls bei den Festreden zum 60-jährigen Grundgesetz weitgehend ausgeklammert: Die politischen Eliten hatten 1989 verhindert, die friedliche Revolution der DDR in eine neue Verfassung münden zu lassen. Das Ignorieren des Gebotes im Artikel 146 des Grundgesetzes, nach der Wiedervereinigung eine neue gemeinsame Verfassung mit Zustimmung des gesamten Volkes zu erstellen, führte zwar zu Kritik und Protesten, die sich aber in Grenzen hielten. Denn das Grundgesetz hatte sich als stabiles und Systemtragendes Erfolgsmodell bewährt. Eine breite gesellschaftliche Debatte fand darüber nicht anhaltend statt. Seltsamerweise wurde die öffentliche Diskussion um den 60. Geburtstag des Grundgesetzes nicht in Verbindung gebracht mit dem Ereignis des 20. Jahrestages der friedlichen Revolution in der DDR, zeitgleich im Gedenkjahr 2009. Mit der sorgfältigen Trennung der Feierlichkeiten sollte offenbar verdrängt werden, dass 1989/90 eine große Chance vertan wurde, nämlich eine Initialzündung für eine Verfassungsdiskussion in beiden deutschen Staaten, deren Ergebnis eine neue Verfassung des geeinten Deutschlands gewesen sein könnte.
Dabei hätte beispielsweise der bemerkenswerte Verfassungsentwurf des Runden Tisches von 1990 mit 40 Artikeln (doppelt soviel wie im Grundgesetz), der allerdings noch von einer souveränen DDR mit sozialen und bürgerlichen Grundrechten ausging, immerhin interessante Anregungen nicht nur für einen „dritten Weg“ geboten. Dies war ein Anliegen des Entwurfes der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ mit 48 Personen verschiedener Gruppierungen. Hier standen die Menschen- und Bürgerrechte im Vordergrund sowie einklagbare soziale Rechte auf Arbeit und soziale Sicherung, auf unentgeltliche Ausbildung und angemessenen Wohnraum. Es geht jetzt nicht darum, einer verpassten Chance nachzutrauern, aber die Ursachen späterer Fehlentwicklungen im Verhältnis der Ost- zu den Werstdeutschen aufzuspüren. Denn letztlich geht es um die Selbstverständigung der Gesellschaft über die Grundzüge ihrer gesellschaftlichen Ordnung.
Das Grundgesetz kann keine Sinnfragen beantworten
Der Würzburger Verfassungsrechtler Horst Dreier, Mitglied des nationalen Ethikrates - bekannt durch seine Nichtwahl 2008 als vorgeschlagener Richter für das Bundesverfassungsgericht nach seiner umstrittenen oder missverstandenen Auffassung zum Folterverbot - warnte zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes jedoch davor, mit der politischen Verfassung die letzten Sinnfragen beantworten zu wollen, da die Verfassung „keine säkulare Bibel“ sei. Sie könne „nicht die letzten Sinnfragen beantworten nach gutem Leben, nach Gott, nach persönlicher Weltsicht oder Weltanschauung“, sondern soll die politischen Verhältnisse ordnen, Herrschaft rationalisieren und limitieren und vor allem Freiheit gewähren. Insofern habe der Parlamentarische Rat weise gehandelt, dass der Gottesbezug nur in der Präambel als Demutsformel vorkomme. Auch solle Verfassung nicht Sittlichkeit verkörpern, sondern die sittliche Autonomie des Einzelnen ermöglichen. Im Übrigen sei eine Verfassung nur Menschenwerk und insoweit fehlbar.
In die Kritik geraten war Horst Dreier auch mit seiner Auffassung, dass unser Grundgesetz sich nicht allein aus christlicher Tradition speist, sondern auch aus Traditionen der antiken Philosophie, der Aufklärung, des Humanismus, des rationalistischen Naturrechts, aus der Französischen wie der Amerikanischen Revolution. Deren Verfassungsdokumente waren leuchtende Vorbilder für das Grundgesetz mit dezidiert antiklerikalem Einschlag, während der Papst die Menschenrechtserklärung von 1789 zwei Jahre später für unvereinbar mit Vernunft und Offenbarung erklärt habe. Unser Grundrechtsverständnis war also im Kern nicht immer schon Gedankengut der christlichen Kirchen gewesen, insbesondere nicht bei der Anerkennung der Freiheit des religiösen Bekenntnisses und dem damit möglichen Religionswechsel. Das änderte sich erst nach 16 Jahren Grundgesetz mit dem zweiten Vatikanum 1965; seitdem gehören die Kirchen zu den Stützen des freiheitlichen Verfassungsstaates. Doch alle Beteiligten sind als „Hüter der Verfassung“ gefragt und gefordert.
Wer hütet unsere Verfassung - und wer schützt uns vor den Verfassungsschützern?
Die „Hüter der Verfassung“ – damit ist nicht der so genannte „Verfassungsschutz“ gemeint, der als durchaus umstrittene staatliche Behörde schon selber bei Verfassungsverstößen erwischt wurde und damit zuletzt ein Verbot der NPD vereitelt hat – sind wir alle. Denn das Grundgesetz ist nicht nur für die Staatsorgane, sondern in erster Linie für die Staatsbürger da und betont vor allem die individuellen Freiheitsrechte gegenüber dem Staat. Deshalb lohnt es sich, das Grundgesetz wachsam zu verteidigen und deshalb ist es gut zu wissen, dass unser Bundesverfassungsgericht einzelne Bürger auch vor den staatlichen Verfassungsschützern schützt, wie jüngst die gerichtlich für unzulässig erklärte politische Bespitzelung einiger prominenter Politiker der „Linkspartei“.
Letztlich wacht also das Bundesverfassungsgericht, an das sich jeder wenden kann, der sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt, über die Einhaltung und Auslegung der verfassungsrechtlichen Regelungen. Auch wenn das Grundgesetz als Provisorium eigentlich keine „Verfassung“ im Sinne des Grundgesetzes ist – denn dazu hätte nach der Wiedervereinigung 1989 eine gemeinsame neue Verfassung gemäß Artikel 146 GG erarbeitet und vom geeinten Volk darüber frei entschieden werden müssen - so sind doch die (leider zumeist nach Parteienproporz ausgewählten) Verfassungsrichter in der Rolle der Verfassungshüter.
Dadurch sind sie nicht gefeit vor umstrittenen Urteilen, denkt man an ihre zustimmende Entscheidung zugunsten der präventiven Auslandseinsätze der Bundeswehr zurück, die weit über die im Grundgesetz lediglich zugelassene Landesverteidigung bei Angriffen von außen hinausgeht. Überwiegend aber haben die Verfassungsrichter im Geiste der „Väter und Mütter des Grundgesetzes“ und im Sinne des Gerechtigkeits- und Rechtsempfindens der Bürgerinnen und Bürger zu entscheiden versucht, indem sie die Politiker wiederholt in die Schranken gewiesen haben bei rechtlichen Grenzüberschreitungen. So wurde etwa der Versuch des Staates, Demonstranten gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm, die von Kampfflugzeugen der Bundeswehr überflogen wurden, quasi mit Terroristen gleichzusetzen und deshalb im Vorfeld Polizeirazzien in deren Wohnungen durchzuführen, vom Verfassungsgericht im Nachhinein als grundgesetzwidrig verurteilt.
Nach dem noch nicht rechtskräftigen EU-Reformvertrag von Lissabon (Schlussakte, Erklärung 12, Artikel 12) dürfte demnächst sogar in eine revoltierende Menge geschossen werden, denn Tötung wird für zulässig erklärt, „um einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen“. Müssen sich Demonstranten auf G-8-Gipfeln oder bei Straßenaktionen gegen Kriegseinsätze oder gegen neoliberale Auswüchse auf Gewährläufe gefasst machen, wie seinerzeit in Prag oder Peking? Ferner heißt es im EU-Verfassungsentwurf wörtlich: „Ein Staat kann in seinem Recht die Todesstrafe für Taten vorsehen, die in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden.“ Demgegenüber erklärt das deutsche Grundgesetz die Todesstrafe unmissverständlich für abgeschafft. Artikel 102 GG begründet die Pflicht der Legislative, in keinem Gesetz die Todesstrafe vorzusehen, die Pflicht der Judikative, keine Todesstrafe zu verhängen, und die Pflicht der Exekutive, keine Todesstrafe zu vollstrecken. Ein Ausnahmerecht über das EU-Recht ist ein Unding, zumal es die EU selber zur Aufnahmebedingung für neue Beitrittsstaaten macht, dass es in deren Land keine Todesstrafe mehr geben darf. Wer schützt uns vor solchen Bestrebungen der „übergeordneten“ EU-Ebene und wie verhindern wir solche Fehlentwicklungen, von denen es noch weitere gibt?
Absenkung des deutschen Grundrechtsniveaus durch das EU-Recht?
Alle diese Fragen, wie es in der politischen Wirklichkeit um die Grund- und Menschenrechte in der Bundesrepublik und in der EU steht, auch zum Beispiel in der problematischen Asylpolitik, wurden in den offiziellen Festreden zum 60-jährigen Grundgesetz ausgeklammert. Insbesondere die Fragen, wie sich die neue „Sicherheitsgesetzgebung“ im Inneren und die Kriegseinsätze im Ausland nach Neuausrichtung von NATO und EU mit dem Geist und Buchstaben des Grundgesetzes vertragen, wurden gar nicht erst gestellt. Denn Militäreinsätze sollen künftig ohne vorherige Zustimmung der Nationalparlamente oder des Europa-Parlamentes erfolgen können, wohl aber sollen die Mitgliedsstaaten ihrer jährlichen Aufrüstungsverpflichtung gemäß EU-Refomvertrag zwingend unter Kontrolle der Rüstungsagentur (EDA) nachkommen. Auch gilt nach Artikel 25 GG der Vorrang des Völkerrechtes, so dass völkerrechtswidrige Kriegseinsätze oder Angriffskriege nicht zulässig sind, auch wenn sie auf der EU-Ebene koordiniert werden.
Erst recht nicht wurde die aktuelle, aber unbequeme Frage öffentlich angesprochen, wie sich der so genannte Lissabonner EU-Reformvertrag als quasi EU-Verfassungsersatz ansonsten mit den Normen des Grundgesetzes verträgt und wie es mit der Ausgestaltung oder Einschränkung der Grundrechte weitergeht. Längst werden 70 bis 80% aller deutschen Gesetze durch die EU beeinflusst und vorgegeben, unter teilweiser Entmachtung der demokratisch legitimierten Nationalparlamente und unter Missachtung des Subsidiaritätsprinzips. Und das alles ohne wirksame Gewaltenteilung, nämlich überwiegend durch die dortige Exekutive (EU-Kommission und Ministerrat), überdies ohne wirksame parlamentarische Regierungskontrolle und ohne die Kernkompetenz des EU-Parlamentes zu eigenen Gesetzesinitiativen. Erfolgte und viel gelobte Nachbesserungen bei den Zuständigkeiten des EU-Parlamentes durch den Reformvertrag reichen nicht aus, um von einer funktionierenden demokratischen Gewaltenteilung zu reden, geschweige von Bürgernähe. Die Brüssel Regierungszentrale erhält als Exekutive sogar Ermächtigungen zur eigenmächtigen Veränderung von EU-Vertragsbestimmungen in wichtigen Fragen und kann mit einer Flexibilitätsklausel nationale Kompetenzen an sich ziehen. Die Demokratiedefizite sind offenkundig und unser Grundrechtsniveau wird auf diesem Wege in mehreren Punkten deutlich abgesenkt.
Vor allem stellt der EU-Reformvertrag (vormals EU-Verfassungsvertrag) die unternehmerischen Rechte und den freien, ungehinderten Waren- und Dienstleistungsverkehr sowie dem uneingeschränkten Finanz- und Kapitalverkehr über die sozialen Rechte der Menschen. Auch wenn im Europa-Wahlkampf daraufhin aus den großen Volksparteien die Forderungen nach einem „sozialen Europa„ und nach einer Sozialklausel propagiert wurde, so wurde dennoch der Lissabonner Reformvertrag zugleich hartnäckig verteidigt, der als „alternativlos“ keiner Korrektur mehr zugänglich ist. Damit enthält die neoliberale Wirschaft(un)ordnung faktisch Verfassungsrang. Sogar die im Grundgesetz verankerte Sozialverpflichtung des Eigentums wird im EU-Reformvertrag in die freie Eigentumsverfügung umgekehrt. Trotz der zwischenzeitlichen Finanz- und Wirtschaftskrise und der politischen Versprechungen von Regulierungen statt Deregulierungen, bleibt der Lissabonner Reformvertrag somit durchgängig vom neoliberalen Geist geprägt. Angesichts der wieder erschreckend niedrigen Wahlbeteiligung an der diesjährigen Europawahl am 7. Juni stellt sich auch von daher die Legitimationsfrage für eine derartige Machtfülle und -konzentration in der Brüsseler Lobby-Hochburg.
Der Mangel an europäischer Demokratie gefährdet unser Grundgesetz
Der deutsche Bundestag hat gleichwohl alle begründete Kritik aus der Zivilgesellschaft am EU-Reformvertrag, der in mehreren Punkten mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist und unser Grundrechtsniveau absenkt, ignoriert und zurückgewiesen. Zugleich haben die Abgeordneten ohne Kenntnis und ohne rechtzeitige Vorlage der EU-Vertragsinhalte ihrer eigenen demokratischen Entmündigung mit großer Mehrheit blindlings beschlossen, per Zustimmungsgesetz zum Lissabonner Reformvertrag. Das Ergebnis der Befragung der Abgeordneten durch Fernsehreporter sowie durch Vertreter von „Mehr Demokratie e.V.“ vor und nach der Abstimmung zu den wichtigsten Kernpunkten des EU-Vertrages und zu Kompetenzverlagerungen aus der Zuständigkeit des Bundestages an die EU war entlarvend: Keiner der befragten Spitzenpolitiker konnte die Fragen richtig beantworten, auch nicht am Schluss die einfache Schülerfrage nach der Anzahl der Sterne auf der EU-Flagge. (Das geradezu „peinliche Gestammel“ unserer Volksvertreter ist im Internet per Video und als Text anzuschauen). Obwohl manche Bürger und Initiativen besser informiert sind über die Entwicklungen in der EU, verweigern sich die gleichen unwissenden Politiker der Forderung nach Volksabstimmungen über den Lissabonner EU-Reformvertrag, der faktisch verfassungsähnlichen Charakter hat und entsprechende Rechtsfolgen mit sich bringt.
Während dieser Aufsatz im Juni 2009 geschrieben und veröffentlicht wird, befasst sich zeitgleich gerade das Bundesverfassungsgericht mit mehreren Verfassungsklagen bzw. -beschwerden gegen das Zustimmungsgesetz des Deutschen Bundestages zum EU-Reformvertrag, wegen der befürchteten Verletzung und Einschränkung des deutschen Grundgesetzes. Verneint das Gericht die Bedenken, dann stellt es sich selber als Hüter der deutschen Verfassung in Frage und erkennt das EU-Recht und die EU-Gerichtsbarkeit als höherrangig an. Teilt es die Bedenken der Kläger, dann läuft es Gefahr, von Deutschland aus – dessen Politiker den umstrittenen EU-Lissabonvertrag vorangetrieben haben - gegen die inzwischen vorliegende Zustimmung von 25 EU-Staaten den Reformvertrag zu Fall zu bringen oder eine grundlegende Überarbeitung zu erzwingen. Das entspräche auch dem Anliegen der Zivilgesellschaft, die dann Zeit gewänne, um weiter für eine europaweite Volksabstimmung zu einem verbesserten und bereinigten EU-Reformvertrag zu werben. Die in jedem Fall interessante Gerichtsentscheidung dazu kann also erst im nächsten Rundbrief intensiver beleuchtet werden.
Genau in dieser Rolle als Hüter des deutschen Grundgesetzes droht dem obersten deutschen Verfassungsgericht aber eine faktische Kompetenzbeschneidung durch den demokratisch nicht legitimierten Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dessen 27 - nach undurchsichtigen Verfahren berufenen - Richter (darunter auch Nichtjuristen) sind nicht auf die Einhaltung von rechtsstaatlichen oder sozialstaatlichen Prinzipien vereidigt. Sie haben sich dementsprechend mit negativen Entscheidungen zum Streik- und Tarifrecht u. a. bereits über das deutsche Grundgesetz hinweggesetzt. Das ist aber eigentlich nicht zulässig, weil eben die EU-Staatengemeinschaft mit ihren völkerrechtlichen Verträgen und Abkommen kein eigener Staat oder föderalistischer Bundesstaat mit eigener Gerichtsbarkeit ist, erst recht nicht nach dem Scheitern der EU-Verfassung. Das hält sie nicht davon ab, sich vielfach wie ein zentralistischer Einheitsstaat zu gebärden, bis dahin, dass der Verfassungsausschuss im EU-Parlament trotzig die Hymne und Flagge als Staatssymbol für sich aufrechterhält nach der verweigerten Zustimmung zur EU-Verfassung durch die Völker in Frankreich und den Niederlanden.
Der Artikel 23,1 unseres Grundgesetzes schreibt hingegen unmissverständlich vor: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einem diesem Grundsatz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“ Genau das aber ist offensichtlich nicht der Fall. Und im ursprünglichen EU-Verfassungsentwurf war unmissverständlich in Brüsseler Juristensprache erklärt: „Diese Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedsstaaten.“ Damit ist auch dessen Vorrang vor dem Grundgesetz unwidersprochen erklärt.
Gleiches soll auch für den Lissabonner EU-Reformvertrag gelten, obwohl dazu erst einmal das Grundgesetz mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag geändert werden müsste, was aber nicht vorgesehen ist. Der Verfassungsrichter und Professor für Verfassungsrecht, Dieter Grimm hat diesen Mangel an europäischer Demokratie ebenso aufgearbeitet wie Prof. Schachtschneider und andere, welche die Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten. Auch der frühere Verfassungsrichter und Ex-Bundespräsident Roman Herzog, der sogar Vorsitzender des Konvents für die EU-Grundrechte-Charta war, lehnte den EU-Vertragsentwurf ab und bezweifelte, ob man die Bundesrepublik Deutschland dann überhaupt noch als eine parlamentarische Demokratie bezeichnen kann. Der Parteienkritiker und Rechtswissenschaftler Hans-Herbert von Arnim spricht in diesem Zusammenhang sogar von der „europäischen Pseudo-Demokratie“ und von der „Erosion des Rechtsstaates“. Radikale Kritiker sprechen sogar von einem „kalten Staatstreich“ oder von einem „Putsch von oben“. (Näheres ist nachzulesen in früheren Ausgaben des Rundbriefes oder in meinem Buch: „Ist Europa noch zu retten? Wie die EU den Europa-Gedanken verfälscht. Wege zu einer europäischen Identität“, 2009 im Pforte-Verlag).
Unser Grundgesetz verdient unser Engagement für eine soziale Erneuerung
Die vielfältige Gefährdung unseres Grundgesetzes von innen und außen erfordert unser demokratisches Engagement. Es sollte ins Bewusstsein gelangen, dass unser Grundgesetz einen Verfassungsauftrag zur sozialen Erneuerung im Sinne von Freiheit, Gleichheit und Solidarität enthält – als eine Chance für die Menschen und die Entwicklung ihrer Gemeinschaft: Mit den garantierten Freiheits- und Menschenrechten stehen Freiheit und Mündigkeit des Einzelnen im Vordergrund der Entwicklung seiner Individualität und Urteilsfähigkeit. Mit den Sozialstaatsprinzipien wird sein solidarisches Verhältnis zur Gemeinschaft eingefordert, und mit der Einschränkung der staatlichen Gewalt eröffnet sich seine individuelle Verantwortung und Initiative. Zudem ergibt sich aus dem Wesensgehalt der Grundrechte die Forderung nach der Freiheit des Kulturlebens. Eine bestimmte Wirtschaftsform schreibt das Grundgesetz nicht vor, so das eine sozial verpflichtete, solidarische und assoziative Wirtschaft ermöglicht wird, wenn wir dazu in der Verfassung sind. Das Grundgesetz gibt dafür die Entfaltungsspielräume.
Eine Verfassung ist im übrigen nicht vollendet, solange sie sich nicht durch die Verwandlungs-, Lern- und Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft quasi selber entbehrlich macht, weil ihre Anliegen verinnerlicht und veräußerlicht worden sind. Der Geist der Verfassung sollte die mündigen Menschen mit ihren zugestandenen individuellen Freiheitsrechten eigentlich beflügeln, das Zusammenleben in der Gemeinschaft aus eigenem Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden menschlich zu gestalten, ohne den juristischen Wortlaut des Grundgesetzes, geschweige des 500-seitigen EU-Verfassungsentwurfes, unbedingt wörtlich auswendig lernen zu müssen - der folglich gescheitert ist. Es reicht auch nicht, das Grundgesetz „ständig unter dem Arm zu tragen“, wie es zeitweilig zu einem geflügelten politischen Ausdruck wurde.
Menschenwürde sollten wir aus uns selber hervorbringen im sozialen Umgang mit den anderen Menschen, dann spiegelt sich das auch in der gesamten Verfassung wieder, die sich eine staatliche oder überstaatliche Gemeinschaft schriftlich gibt. Wir als Einzelne können die Gemeinschaft verändern im Zusammenwirken mit anderen, wenn wir elementare Spielregeln des Umgangs und Zusammenlebens miteinander einhalten. Insoweit können wir uns nicht selber aus der Verantwortung entlassen und stattdessen auf die politischen Repräsentanten verweisen. Unser Grundgesetz erlaubt keine Zuschauerrolle in einer Zuschauerdemokratie, solange wir am demokratischen Staatsleben teilhaben wollen. „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“ (Michail Gorbatschow).