Während die Vorbereitungen für den „Weltkindertag“ am 20. September 2004 laufen und die Jugend der Welt auf die sportlichen olympischen Wettkämpfe im August 2004 zurückblickt, treten noch einmal die harten Realitäten für die jungen Menschen und ihre heutigen Zukunftsperspektiven ins Bewusstsein: 113 Mio. Kinder und Jugendliche weltweit bekommen gar keine Schulausbildung, mit absehbaren Folgen für deren weiteren Lebensweg. Derweil schwänzen in Deutschland immer mehr Kinder die Schule, mit stetigem Anstieg, wie im Vorfeld des 16. Weltkongresses für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin festgestellt wurde: Im Bundesdurchschnitt gehen mittlerweile 3% der Kinder nicht regelmäßig zur Schule. In manchen Schulklassen von Großstädten wie Berlin oder München sitzt nur noch die Hälfte der Schüler.
Aber auch für diejenigen mit einer abgeschlossenen Schulausbildung ist oft das Tor zur Arbeitswelt und zur gesellschaftlichen Teilhabe versperrt: Eine im August veröffentlichte Studie der internationalen Arbeitsorganisation hat aktuell aufgezeigt: Noch nie war weltweit die Jugendarbeitslosigkeit so hoch wie derzeit, nämlich dreieinhalb mal so hoch wie die Arbeitslosigkeit bei Erwachsenen. Insgesamt waren im Jahr 2003 weltweit über 88 Mio. junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren ohne registriere Beschäftigung, 47 Prozent der weltweit 186 Mio. Arbeitslosen, d.h. jeder zweite Arbeitslose ist im jugendlichen Alter. Über ein Viertel davon lebt im Nahen Osten und in Afrika – sozialer Sprengstoff allenthalben.
Hunderttausende fehlende Ausbildungsplätze lassen jeden zweiten Jugendlichen leer ausgehen
Im laufenden Jahr 2004 hat sich die Situation eher noch verschlechtert als verbessert, insbesondere auch in den reichen westlichen Industrieländern. In Deutschland, dem reichsten und bevölkerungsreichsten europäischen Mitgliedsland, waren in diesem Sommer noch nie so viele Menschen ohne Arbeit – im Juli war der höchste Anstieg seit dem Amtsantritt der derzeitigen Regierung – insbesondere aufgrund des Mangels an Lehrstellen für die Jugendlichen. Rechnerisch fehlen bundesweit 162.400 Ausbildungsplätze, obwohl sich 13.400 neue Betriebe dem freiwillige „Ausbildungspakt“ angeschlossen haben. Die Gewerkschaften erwarten dadurch keine neuen Impulse und keine positive Trendwende, denn immer weniger Jugendlichen kann ein Angebot gemacht werden.
Im Ruhrgebiet steht durchschnittlich für 4 Bewerber nur eine Lehrstelle zur Verfügung; 75 Prozent der Jugendliche gehen leer aus. Viele Jugendliche, die einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz suchen, werden in Orientierungs- und Trainingslagern „geparkt“ und erscheinen nur deshalb nicht in der Statistik. Und diejenigen, die einen Ausbildungsplatz ergattern, werden nur zum Teil nach Ausbildungsabschluss in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen, sondern nach erfolgreicher Ausbildung in die Arbeitslosigkeit entlassen. Für diejenigen, die sich für ein Studium entschieden haben und wegen der aufkommenden Studiengebühren zur Finanzierung auf studentische Aushilfsjobs angewiesen sind, ist der Arbeitsmarkt für solche Nebentätigkeiten ebenfalls restlos leergefegt. Seit Einführung von Studiengebühren haben deshalb zigtausende Studentinnen und Studenten ihr begonnenes Studium aufgegeben und drängen ebenfalls auf den Arbeitsmarkt ohne berufliche Qualifikation.
Steigende Zahl von Schulverweigerern und Schulabbrechern zeugt von pädagogischen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen
Die Bertelsmann-Stiftung hat überdies in einer Studie nun festgestellt, dass in den Städten und Gemeinden der Anteil der Schulabgänger ohne Schulabschluss in den zurückliegenden 2 Jahren von 6,7% auf 7,6% angestiegen ist; die Zahl der ausländischen Schulabbrecher ist sogar von 17,1% auf 22,6% gestiegen. Nach Schätzungen des Schulministeriums im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen haben etwa 30.000 Jugendliche keine Lust am Lernen, so dass die Schulverweigerer im Rahmen eines „Schulmüden-Projektes“ mit aufwändigen Programmen zum Lernen motiviert werden sollen. Lehrt aber die überwiegend intellektuelle Ausrichtung der Schule genügend über die wirkliche Welt, oder schnürt sie die Schüler seelisch von ihrer inneren Welt ab, so dass sie den Anschluss an die äußere Welt verliert und so bei den Schülern die beklagte Schulmüdigkeit und Unlust erzeugt? Um aufzuwachen, muss der Jugendliche den Menschen wiederfinden, den die Älteren oft verloren haben und den Jugendlichen deshalb eine Welt mit nur geringen Chancen auf dem sogenannten „Arbeitsmarkt“ beschert haben, auf dem sich schon die jungen Menschen wie eine Ware verkaufen müssen.
Nur jeder zehnte schulverdrossene Jugendliche erhält überhaupt die Möglichkeit, im Rahmen der staatlichen Motivierungsprogramme von der Wichtigkeit der Schule überzeugt zu werden, die ihn auf seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Verwertbarkeit hin erzieht anstatt ihn zur Gesellschaftsveränderung zu befähigen nach seinen individuellen Lebensmotiven und -impulsen. Der schulische Motivationsverlust der Jugendlichen verstärkt sich mit Blick auf die Realität der Arbeitswelt: Jeder zweite Schulabgänger in Nordrhein-Westfalen bekommt auch nach wiederholten Anläufen keinen Ausbildungsplatz, schon gar nicht mit einem Hauptschulabschluss. Inzwischen sind sogar bei Studierenden, vor allem der kaum noch gefragten Geisteswissenschaften, solche „Müdigkeitsprobleme“ bekannt: warum sollen die Studenten ihr Studium schnell oder überhaupt beenden, wenn der akademische Titel anschließend nur zum Taxifahren qualifiziert?
Persönlichkeitsentwicklung statt Wirtschaftstauglichkeit als Ziel von Bildung und Ausbildung ist die Voraussetzung für Veränderungen durch die Jugend selber
Bildung und Ausbildung und die ihnen zugewiesene Motivation werden auf die Perspektive allein für den späteren Broterwerb und den Ellbogenkampf im aussichtslosen Wettbewerb hin orientiert, nicht zunächst zweckfrei mit dem Ziel der eigenen Persönlichkeitsentwicklung und dem sozialen Kompetenzerwerb. Gebildete und ausgebildete junge Menschen haben es in der Hand, ihre Ausbildungsziele und ihre Zukunft anders zu gestalten und auszurichten, als sie es in der Arbeits- und Lebenswelt der Älteren derzeit vorfindet, die ihnen weitgehend vorgezeichnet oder verschlossen bleibt und ihnen nur geringe Startchancen einräumt. Doch welche Fähigkeiten vermitteln es, die komplexen Ursachen und Zusammenhänge der vielen Fehlentwicklungen zu erkennen und kreative Alternativen handelnd zu entwickeln anstatt so weiterzumachen wie die Älteren? In der von ihnen geschaffenen Realität fehlt es offensichtlich an Zukunftsperspektiven und -hoffnungen für die junge Generation, die in der kinderlosen westlichen Gesellschaft als lästiger Kostenfaktor gilt.
Der persönliche Aufstieg ist trotz Fleiß und Erfolg in Schule, Studium oder Berufsausbildung nicht planbar, der Abstieg unkontrollierbar. Das Lebensgefühl wird verletzt, vor allem bei denjenigen jungen Menschen, die man gar nicht erst teilhaben lässt am Bildungs- oder Ausbildungssystem oder deren wahren Beweggründe für Schulverdrossenheit nicht begriffen werden. Die dramatisch ansteigende Kinderarmut auch in den reichen Industrieländern bei gleichzeitig schwindelerregend ansteigenden Reichtumsquoten für einzelne Gruppen sowie die anhaltende Diskussion über zwangsweise verordnete statt freiwillig gegliederte Wochen-, Jahres – und Lebensarbeitszeitverlängerung für Ältere bei gleichzeitigen Rentenkürzungen und die erzwungene Kürzung der Unterstützungsleistungen für arbeitslose Menschen verdeutlichen die Widersprüchlichkeit und Widersinnigkeit der Zeitsituation, aus der ganz andere Lehren gezogen werden sollten, als sie tatsächlich gezogen werden.
Viele Menschen, alte wie junge, stehen heute gegenüber dem Nichts, sie fühlen sich wie abgekoppelt. Sie müssen nun aus sich heraus etwas Zukunftsweisendes finden, entwickeln und gestalten – am besten gemeinsam und generationenübergreifend, denn die ganz alten und die ganz jungen Menschen verbindet eigentlich ein weisheitsvolles Band, aus dem Fruchtbares hervorgehen kann, sofern man der Jugend ihre eigenen Ideen, Gedanken, Träume und Visionen belässt – und ihre eigenen Handlungsspielräume. Hoffentlich machen sie alles ganz anders als diejenigen, die ihnen den gesellschaftlichen Lebenseinstieg so sehr erschweren. Die ganze Zukunftshoffnung ruht auf der Jugend dieser Welt.