Unter dem Motto „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ erfolgte vom 8. bis 10. Januar in der „Metropole Ruhr“ die Eröffnung des bevorstehenden Kulturhauptstadtjahres RUHR.2010. Seit 25 Jahren verbinden die Initiatoren und Beteiligten mit dem Titel „Kulturhauptstadt Europas“ die Erwartung, dass von den Kulturhauptstädten entscheidende kulturelle Impulse und beispielhafte Modelle für Europa ausgehen. Es geht um nichts Geringeres als um die einigende visionäre Kraft, die Europa ebenso wie die Menschen im Ruhrgebiet und weltweit bei aller kulturellen Vielfalt brauchen.
In Zeiten, in denen in Europa Verfassungen scheitern, und Europa in erster Linie mit Vorschriften und Bürokratie identifiziert wird, stellt sich verstärkt die Frage nach der Rolle der Kultur als Identität stiftende Kraft in Europa, das haben die Veranstalter von RUHR.2010 erkannt. Schon Jean Monnet, der Mitbegründer der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Vorläufer der heutigen EU – die somit ihren Ausgangspunkt im Ruhrgebiet hatte – soll damals rückblickend gesagt haben: „Wenn ich heute noch einmal mit der Konstruktion Europa beginnen müsste, würde ich mit der Kultur anfangen.“
Die soziale Kunst des Zusammenlebens in kultureller Vielfalt üben
Deshalb ist Europa und der europäische Auftrag das Leitmotiv, dass sich durch alle Bereiche der diesjährigen Kulturhauptstadt zieht – das Europa der Menschen und der Kreativität, der Forschung und der aktiven Teilhabe. Dafür eignet sich die „Metropole“ Ruhr in besonderer Weise, denn sie ist durch Einwanderung entstanden: Von den Arbeitssuchenden aus dem Ost- und Westpreußen und Schlesien ab 1880, über die Bergleute aus Belgien, Frankreich, England und Schottland um 1900 bis zu den Gastarbeitern aus Italien, Griechenland, Portugal oder Türkei nach 1955. Heute spiegelt sich im Ruhrgebiet die ganze Welt, mit Menschen aus 170 Nationen und 2.055 Religionsgemeinschaften, aus allen sozialen Milieus – die besten Voraussetzungen, um sich als zukunftsweisende Einwanderungsgesellschaft in der sozialen Kunst des Zusammenlebens zu üben.
In einem eigenen Programmbereich „Europa bewegen“ lässt sich die Kulturhauptstadt Ruhr explizit auf die Frage nach Migration und Identität, Kultur und Bildung ein. Die konkrete Begegnung zwischen Bürgern in Europa und der kreative Austausch zwischen Künstlern sowie der internationale wissenschaftliche Dialog soll durch gemeinsame Projekte gefördert werden. Im Vordergrund stehen die Fragen: Wie nehmen wir uns gegenseitig wahr? Wie nehmen Einwanderer und ihre Familien teil am kulturellen Leben? Wie ermöglichen wir diese Teilhabe? Wie gestalten unsere Kultureinrichtungen ihre Programme und für wen gestalten sie diese? Mit einem erweiterten Kulturbegriff will die Kulturhauptstadt vor allem jungen Menschen die Gelegenheit geben, die Kulturhauptstadt Europas aktiv mitzugestalten und eigene, unkonventionelle Projekte zu verwirklichen.
Es stellt sich die Zukunftsfrage: Wie können wir Kinder und Jugendliche an kulturelle Bildung heranführen, und welche Chancen liegen in der zunehmenden Mehrsprachigkeit von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien? Wie soll die Arbeitskultur und die Kulturarbeit der Zukunft gestaltet werden? Welche Rollen werden erneuerbare Energien und der Klimawandel global und vor Ort spielen? Die Globalisierung fordert das Selbstverständnis Europas heraus.
Innere Umbrüche und die äußere Erweiterung der EU zwingen uns, Europa für uns neu zu bestimmen. Die Kulturhauptstadt Ruhr will dazu beitragen, die europäische Kultur der Zukunft positiv und visionär zu denken und neu zu gestalten, mit spannenden, zukunftsweisenden Ideen. Daran beteiligt sind 53 Städte der Metropole Ruhr mit 5 Millionen Menschen, ihre mehr als 200 Partnerstädte in ganz Europa und darüber hinaus in der ganzen Welt. Beteiligt sind mehr als 1.700 mitwirkende Künstlergruppen, Einzelkünstler, Kulturvereine, Institutionen, Schulen und die freie Kulturszene Europas, die 2.500 Veranstaltungen in 2010 auf die Beine stellen wollen
Die Suche nach kultureller Identität und den kulturellen Herausforderungen
Was macht uns aus? Das ist die zentrale Frage des Kulturhauptstadtprogramms, um den Mythos Ruhr zu entschlüsseln. Der von Kohle und Stahl, von harter Arbeit und Solidarität, vom Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen, inzwischen aber auch vom vielseitigsten Wissenschaftsnetzwerk Europas geprägte Ballungsraum, erforscht seine kulturelle Identität und sein kulturelles Erbe ebenso wie seine kulturelle Zukunftsaufgabe. Die Metropole im Wandel und Werden fordert dazu heraus, „aktiver an der Verwandlung unserer Welt der Zerrissenheit in einen Garten von universaler Urbanität teilzunehmen“ (Zitat aus einem Essay von Michael Butor).
Heute kommen die drängenden Fragen der lokalen und globalen Gegenwart und Zukunft hinzu: Welche Rolle nimmt die europäische Stadt in einem Europa der Regionen ein? Was bedeutet es für die Kulturentwicklung, wenn weltweit bald 60% aller Menschen naturfern in großen Städten und Metropolen leben? Was wird aus den geschichtsträchtigen europäischen Städten und welche Rolle werden sie in einer Welt der Mega-Cities einnehmen? Wie entwickelt sich die Metropole Ruhr, und welche Folgen hat der Aspekt der alternden Gesellschaft? Wie wollen wir in Zukunft leben?
Planer Architekten und Künstler haben zum Querdenken aufgerufen. Bildende Kunst und Stadtplanung, Landschaftsgestaltung und Architektur gehen neue Verbindungen ein. Die Passagen zwischen den Städten werden zu Vermittlern inspirierender Erlebnisse. Es entstehen neue Kulturorte. Künstlerische Interventionen geben Impulse für den Wandel. Welche Sprache sprechen die Bauten? Welche die Menschen?
Eine Suchbewegung macht sich auf den Weg in die kulturelle Zukunft
Der Suchbewegung haben sich auch die internationalen darstellenden Künstler und die Kulturhäuser der Region angeschlossen, mit zwei Fragen: Was wird in Zukunft auf unseren Bühnen zur Kunst? Und wie können Theater und Tanz in einer modernen Stadtgesellschaft die traditionellen Trennlinien zwischen Milieus, Generationen, Sprachen und Kulturen überspielen? Unter dem Motto „Bilder entdecken“ und „Sprache erfahren“ – Sprache als Verbindendes und Trennendes zugleich – werden auch Sprachkunst und Malerei einbezogen, aber auch die Kreativwirtschaft. Die Handlungsräume von Künstlern und Bürgern überlagern sich dabei. Es entsteht ein Ausblick auf die Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn Zuschauer als „soziale Subjekte“ in den künstlerischen Prozess mit einbezogen werden.
All diesen Ideen liegt ein erweiterter Kunst- und Kulturbegriff zugrunde: Nicht nur der bisher als Künstler akzeptierte Maler oder Musiker produziert Kultur, sondern jeder Selbstständige bzw. Unternehmer, der mit künstlerischer oder kreativer Arbeit Geld verdient, also auch der Filmemacher oder Games-Entwickler, der Kommunikationsfachmann ebenso wie der Tänzer, Theatermacher oder Verleger. Aber auch die Menschen mit ihrer privaten oder zivilgesellschaftlichen Lebensgestaltung und mit der Gestaltung ihrer Arbeitswelt und des sozialen Zusammenlebens in Gemeinschaften sind Kulturschaffende.
Es kommt Bewegung in Europa, ausgehend von der Zeche Zollverein als Weltkulturerbe – wo zuvor auch schon anthroposophische Kulturveranstaltungen im Ruhrgebiet stattfanden - dem Eröffnungsort der Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Es lohnt sich, teilzunehmen und mitzuwirken bei der kulturellen Suche und Verwandlung, mit vielversprechenden Menschenbegegnungen an einem Erdenort, von dem Rudolf Steiner in der Ruhrgebietsstadt Bochum (anlässlich der Bochumer Zweigeröffnung) im Beginn der Industriealisierung, in der Welt von Eisen, Feuer und Elektrizität, über diese naturferne Region sinngemäß sagte: Die Menschen mögen sich nicht unverständig zeigen gegenüber diesen notwendigen Entwicklungen und Verwandlungen, denn sie gehören zur menschlichen Kulturentwicklung. Aber sie erfordern auch besondere Kräfte der hier lebenden Menschen bei der spirituellen Arbeit und Verwandlung. Diese Kräfte sind in diesem Jahr konzentriert wirksam, und jeder kann sie verstärken.[1]
[1] Siehe auch 3 frühere Aufsätze des Autors Wilhelm Neurohr über das Ruhrgebiet in zurückliegenden Ausgaben des Goetheanums:
- 0/1994 (Seite 327): „Eine alte Industrieregion als Gesamtkunstwerk“
- 47/2001 (S.926): „Kulturarbeit und Arbeitskultur. Das Ruhrgebiet - eine Industrieregion als Prüfstein und Spiegel der Menschheitsentwicklung“.
- 8/2005 (S. 8): „Spiritualität im öffentlichen Raum. Projekt „Spirituelle Orte im Ruhrgebiet“ stößt auf großes Echo.“