Wilhelm Neurohr

Nach dem Irak-Krieg ist das Treffen der Staatschefs aus den 8 reichsten Industriestaaten vom 1. bis 3. Juni in Evian am Genfer See das erste große Ereignis, anlässlich dessen 100.000 friedensbewegte Menschen aus aller Welt wieder zu kreativen zivilgesellschaftlichen Aktionen zusammenkommen. Die mächtigen Regierungschefs aus USA, Russland, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Japan und Kanada sprechen auf ihrem Jahrestreffen unter dem Schutzschild von 13.000 Sicherheitskräften nicht nur über die internationale Zusammenarbeit nach dem Irakkrieg, sondern auch über die Verantwortung gegenüber der Umwelt, über Nord-Süd-Probleme, über die Solidarität und Partnerschaft mit Afrika, über die Kontrolle des Terrorismus, über die Verantwortlichkeit der sozialen Marktwirtschaft sowie vor allem über die Trinkwasserversorgung der Menschheit.

An diesem Thema wollen die zivilgesellschaftlichen Gruppen in Evian, wo das meistverkaufte Mineralwasser der Welt in Flaschen abgefüllt wird, den Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Kriegspolitik sowie sozialem Unfrieden verdeutlichen und Alternativen zu einer die Menschheit bedrohenden Kommerzialisierung der weltweiten Wasserversorgung durch die 3 größten Monopolkonzerne der Welt aufzeigen. Prophezeit werden die nächsten Kriege nicht mehr um den Rohstoff Öl, sondern um den Zugang zu sauberem Wasser, also um das blanke Überleben. Die Ursachen für die verfehlte Entwicklung liegt in der Politik der G-8-Staaten selber, aber auch am Lebensstil, am Konsum- und Ernährungsverhalten, am Mobilitäts- und Sozialverhalten der Menschen in diesen privilegierten Ländern , die es individuell und eigenverantwortlich in der Hand haben, sich selber zu ändern, um dadurch die Welt zu verändern, in aktiver Vernetzung mit anderen Weltbürgern – dafür steht die globale zivilgesellschaftliche Bewegung .

Hunger und Wassermangel bedrohen die Welt noch mehr als der Terrorismus

Nicht der von der offiziellen Politik zum Thema Nr. 1 erklärte internationale Terrorismus mit einigen Tausend Todesopfern - unter dessen Vorwand die US-Regierung nun nach dem Irak-Krieg sämtliche elektronischen Daten weltweit unter Ausschaltung auch des EU-Datenschutzrechtes kontrollieren möchte - bedroht die Menschheit und den Frieden am meisten, sondern das Thema Hunger und Durst. Dieser Auffassung ist die globalisierungskritische Friedensbewegung angesichts der traurigen Tatsache, dass 850 Mio. Menschen weltweit unterernährt sind und deshalb 36 Mio. Menschen jährlich sterben sowie 2 Mrd. von insgesamt 6 Mrd. Menschen auf der Erde ohne sauberes Trinkwasser sind, so dass bis zu 5 Mio. Menschen an den Folgen von Wassermangel oder verschmutztem Trinkwasser sterben . Dieses lasten die zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen dem „Terror des totalen Marktes“ und der ihm verpflichteten Politik der reichen Industriestaaten an, die nicht wirklich an der Lösung der Nord-Süd-Probleme oder an einer Solidarität mit Afrika interessiert seien oder die Verantwortung für die Umwelt mit den weltweit gefährdeten Wasservorräten übernehmen würden.

Der Veranstaltungsort des diesjährigen G-8-Gipfels am Wasser des Genfer Sees an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz, Evian, ist Quelle und Abfüllort für die gleichnamige Wassermarke „Evian“, das meistverkaufte Mineralwasser der Welt. Das zum Danone-Konzern gehörende Unternehmen ist in Asien und Lateinamerika die Wasserfirma Nr. 1, in Nordamerika und Europa Nr. 2, allein aufgrund der Idee, normales Trinkwasser in Plastikflaschen abzufüllen und zu verkaufen., statt es über öffentliche Leitungen zu verteilen. So kam es zu der Ausbreitung des Flaschenwassers und zur Überausbeutung der Wasserquellen. Überdies betreiben in Frankreich die beiden größten Wasserversorgungsunternehmen der Welt, „Suez“ und „Vivendi“, das Geschäft mit dem „blauen Gold“ : Der Marktführer versorgt 115 Mio. Kunden weltweit, der Zweitplazierte 110 Mio. Kunden. An dritter Stelle der Monopolunternehmen folgt bereits das deutsche Versorgungsunternehmen RWE mit immerhin 43 Mio. Kunden.

Erst vor wenigen Wochen hatte in Anknüpfung an die Johannesburg-Konferenz des Vorjahres (siehe Goetheanum Nr. 32/33-2002) im diesjährigen „internationalen Jahr des Süßwassers“ ein internationales Weltwasserforum stattgefunden, dass sich mit der weltweiten Wasserknappheit und –versorgung beschäftigte, mit dem erklärten Ziel, bis zum Jahr 2015 die Zahl der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser zu halbieren. Dem stehen die kommerziellen wirtschaftlichen Interessen im Zuge des internationale GATS-Abkommens - dem Welthandelsabkommen zur Kommerzialisierung auch aller öffentlichen Dienstleistungen – entgegen: Im Zuge der GATS-Verhandlungen forderte insbesondere die EU von 72 Staaten die radikale Öffnung ihrer Wassermärkte für die kommerziellen Anbieter und damit das Ende der öffentlichen Wasserversorgung. Damit wird die Wasserfrage zu einer Art Prüfstein auch für die laufenden GATS-Verhandlungen (General Agreement on Trades in Services), denn die Wasser-Privatisierung ist seit Jahren Teil der Aktivitäten der Weltbank, unterstützt durch den 1997 gegründete „Welt-Wasser-Rat“. Die Versorgung mit lebensnotwendigen Trinkwasser unabhängig von der Zahlungsfähigkeit gehört aber zu den allgemeinen Menschenrechten.

Mit kreativen Alternativen gegen drohende Wirtschaftskriege um das lebensnotwendige Wasser

Die globalisierungskritische Bewegung der Zivilgesellschaft hat durch ihre weltweiten eindrucksvollen Friedensdemonstrationen den Irak-Krieg zwar nicht verhindern können, aber zur Internationalisierung der Friedensbewegung beigetragen. In Evian soll nun am Beispiel vor allem der Wasserfrage der Zusammenhang zwischen neoliberaler Wirtschaftsideologie und Kriegspolitik sowie soziale Frieden verdeutlicht und Alternativen aufgezeigt werden: In einem selbstverwalteten „globalen Dorf“ in Evian wollen zig Tausende junge Menschen aus aller Welt vor Ort eine „andere Welt“ dort selber vorleben und ausprobieren. Dieses Dorf hat menschliche Potentiale und kreative Ideen, um inhaltlich und strukturell neue Ansätze hervorzubringen, die zum sozialen Frieden beitragen. Auch auf dem deutschen Kirchentag vom 28. Mai bis zum 1. Juni 2003 in Berlin will die globalisierungskritische Bewegung ein globales Dorf als Ort der Begegnung einrichten. Künstler und Kulturschaffende bereichern diese Initiativen, bei denen auch das weltweite Schlüsselthema der Bildung nicht zu kurz kommen soll.

In Evian soll der zivilgesellschaftliche Grundstein gelegt werden für die Weiterentwicklung und den Ausbau der Sozialforen, wie dem zweimaligen Weltsozialforum in Porto Alegre (siehe Goetheanum Nr. 6/2003), dem europäischen Sozialforum voriges Jahr in Florenz und in diesem Jahr im November in Paris, oder dem regionalen deutschen Sozialforum in Stuttgart (unter maßgeblicher Beteiligung von Anthroposophen und sozialen Dreigliederern). Geht demgegenüber in Evian die Rechnung der 8 reichsten Handelsnationen auf, wird der G-8-Gipfel - ähnlich wie sein Vorgänger-Treffen in Genua, als der friedliche zivilgesellschaftliche Protest erwiesenermaßen von der Polizei kriminalisiert, gewalttätig aufgeheizt und blutig niedergeschlagen wurde, mit einem Toten und ungezählten Verletzten – die inhaltliche Vorlage für das zentrale handelspolitische Ereignis in diesem Jahr werden, nämlich für die bevorstehende WTO-Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation vom 10. bis 14. September im mexikanischen Cancun, die zugleich Agrarverhandlungen führt.

Das Investitionsschutzabkommen von Cancun stellt private Wirtschaftsinteressen über Gesetzgebung

Dort werden die 145 Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation erneut zusammenkommen und versuchen, ihre Konflikte in den zentralen Themenfeldern der seit zwei Jahren laufenden Handelsrunde zu überwinden. Es handelt sich quasi um eine Entwicklungs- und Unterstützungsrunde für die großen Weltkonzerne, denn es geht um ein multilaterales Investitionsabkommen, bei dem die EU die treibende Kraft ist: Die Vertragsstaaten können dann im Rahmen eines sogenannten „Investitionsschutzabkommens“ aufgrund von „handelshemmenden“ Umwelt- und Sozialgesetzen von den privaten Konzernen verklagt werden, deren Interessen dann über nationales Recht gestellt werden - ein ernsthafte Bedrohung der Demokratie und der armen Entwickungsländer, die von der zivilgesellschaftlichen Bewegung nicht hingenommen wird. Denn allein an den 5 Verhandlungstagen werden infolge solcher Interessenpolitik 150.000 Menschen in den armen Ländern an den Folgen der Unterernährung sterben, während sich die großen Wirtschaftskonzerne ihrer sozialen Verantwortung für das Gemeinwesen entziehen.

Es würden nach den Absichten der Verhandlungsführer von Cancun letztlich alle ökologischen und sozialen Regulierungsmöglichkeiten vereitelt und somit Auslandsinvestitionen ungehindert in die armen Länder fließen – eine ernsthafte und weltweite Bedrohung des sozialen Friedens durch eine Art „Diktatur der Märkte“. Denn 70% der 850 Mio. hungernden Menschen sind selber Bauern, die bei einer Überschwemmung ihrer Märkte durch ausländische Konzernprodukte aus den 8 reichen Industrieländern der Welt mit Billigware ihre existenziellen Lebensgrundlagen verlieren. Ihnen steht das Wasser bis zum Hals. Mit dem geplanten Investitionsschutzabkommen werden also private wirtschaftliche Interessen über Recht und Gesetz gestellt, so wie das Welthandelsabkommen GATS in verfassungswidriger Weise die eigenverantwortliche und selbstverwaltete kommunale und öffentliche Daseinsvorsorge gefährdet. „Das Wirtschaftsleben wirkt deshalb so übermächtig auf die Menschheit, weil dem wirtschaftlichen Leben kein politisch-rechtliches gegenübersteht, das ihm entgegenwirkt.“ (GA 24).

Erst die Gedankenfreiheit setzt soziale Kräfte frei und eröffnet spirituelle Quellen

Die Kritiker des G-8-Gipfels betrachten diesen als eine Art selbsternannte Weltregierung, ein globales Machtzentrum ohne Legitimation unter amerikanischer Führung, bei dem sich die 8 reichsten Staaten eine an Eigeninteressen orientierte Steuerung der neoliberalen Weltwirtschaftspolitik mit Kontrolle der restlichen Welt und Sicherung der Privilegien des Westens anmaßen, kaschiert durch entwicklungspolitische Themen. Die mächtigen Staatsmänner wie Bush und Putin, die von der 300-Jahr-Feier aus St. Petersburg nach Evian einfliegen, um sich mit ihren Ministern und Beratern in der abgelegenen Stadt abzuschotten, abgeschirmt von hohen Bergen, dem Genfer See, zwei Grenzen und nur einer (gesperrten) Zufahrtsstraße – symbolisch vom Rest der Welt isoliert - , werden von den zivilgesellschaftliche Gruppen junger Menschen mit grenzüberschreitenden Demonstrationszügen aus Annemasse (Frankreich) und Lausanne sowie Genf (Schweiz) begrüßt, die am französisch-schweizerischen Grenzübergang zusammentreffen – falls nicht wieder das Schengener Abkommen außer Kraft gesetzt wird, um einen freien Grenzübertritt innerhalb von Europa zu verhindern. Außerhalb von drei großräumigen Schutzzonen darf in zig Kilometer Entfernung protestiert werden, so dass sich die eigentlichen inhaltlichen Aktionen in dem globalen Dorf und auf den vielfältigen Alternativveranstaltungen abspielen.

Dort wird thematisiert und problematisiert, warum 8 Staaten , die eine Minderheit der Weltbevölkerung beherbergen, ein Vielfaches der Weltproduktion, des Weltkonsums und Welteinkommens, der Ölreserven, der Weltenergie- und Wasservorräte für sich beanspruchen und zur Sicherung dieses Anspruchs ein Vielfaches der Militärausgaben und Rüstungsproduktion der übrigen Staaten in der Welt verbuchen – eine ständige Bedrohung für den sozialen Frieden. Der anonyme Markt als System der Verantwortungslosigkeit erweist sich in seiner scheinbar friedlichen Dimension durch seine egoistische Macht- und Interessenpolitik somit als anhaltender ökonomischer Völkermord, mit Millionen Todesopfern auf der südlichen Hälfte dieser gemeinsamen Erde, denn Wirtschaftsentscheidungen auf der Gewinnerseite erweisen sich als faktische Todesurteile für die Verlierer des sich verschärfenden globalen Konkurrenzkampfes „jeder gegen jeden“.

Mit dieser Erkenntnis und dem eigenen Veränderungswillen sind Millionen Menschen, die sich der gebetsmühlenartigen neoliberalen Propaganda der Medien, der Politiker und der Wirtschaftsverbände entziehen, ihre eigene Gedankenfreiheit nicht nehmen lassen, wach geworden: Erst die Gedankenfreiheit setzt ja soziale Kräfte frei (GA 333), und zwar solche Kräfte, die dazu befähigen, auf eine Globalisierung hinzuwirken, die zum Segen der Menschheit gereicht und nicht zu ihrem Fluch. Die dazu erforderliche soziale Phantasie, das zeigen die aktuellen Auseinandersetzungen um Sozialabbau und Sozialreformen in Deutschland, ist nur aus spirituellen Quellen zu erlangen, die sich die um eine andere Welt ringenden Menschen der Protestbewegung erschließen. Dann gräbt auch der G-8-Gipfel in Evian den Menschen nicht das lebensnotwendige Wasser ab und dann fließt auch das Wasser dorthin, wo die nach Spiritualität dürstenden und hungernden Menschen es benötigen, und hierzu bringt die spirituelle soziale Friedensbewegung weltweit einiges in Fluss.