Wilhelm Neurohr

Miteinander statt Gegeneinander im Kreis Recklinghausen - Bündnisse und Zukunftsforen für soziale Gerechtigkeit

Vor wenigen Wochen hat sich im Kreis Recklinghausen im Haus des evangelischen Kirchenkreises das „Sozialforum Recklinghausen“, ein „Bündnis für soziale Gerechtigkeit“ gegründet, dem 14 verschiedene Organisationen und zahlreiche Einzelpersonen angehören, vom Sozialverband über Frauen- und Arbeitsloseninitiativen, Obdachloseninitiativen, Gewerkschaften , Kirchenvertretern, Agenda 21 bis hin zu attac und politischen Gruppierungen aus dem gesamten Kreisgebiet. Vorbild ist das überregionale soziale Bündnis NRW, das sich gegen den sozialen Kahlschlag durch alle im Bundestag vertretenen Parteien zur Wehr setzt. Es tritt ein für soziale Gerechtigkeit und Steuergerechtigkeit sowie für soziale Zukunftsperspektiven und Alternativen zur gegenwärtigen Politik, von der einseitig nur die Wirtschaft und die Reichen profitieren. In 3 Arbeitsgruppen wird in Recklinghausen an diesen Inhalten gearbeitet.

„Steht auf!“ - Teilnahme an der Großdemonstration in Köln, Stuttgart und Berlin am 3. April

Die öffentlichen Sitzungen des Sozialforums, das am Samstag, dem 13. März auch mit einem Info-Stand auf dem Recklinghäuser Altstadt-Markt präsent war und sich an diversen Protestaktionen beteiligt, werden regelmäßig in der Tagespresse sowie über Internet veröffentlicht (www.sozialforum-re.de). Aktionen sind zusammen mit attac auch am 1. Mai geplant, dem Tag der Arbeit.

Das soziale Bündnis wird auch zusammen mit Gewerkschaften und attac am „Europäischen Aktionstag“ gegen Sozialabbau an den Großdemonstrationen (bei uns in Köln, ferner in Stuttgart und Berlin und allen europäischen Hauptstädten) teilnehmen unter dem Motto: „Steht auf!“ Jeder Betroffene ist zur Beteiligung aufgerufen. Der DGB wird im Kreis Recklinghausen etwa 40 Busse zur Verfügung stellen. Die einzelnen Abfahrtsorte und -zeiten werden über die Tagespresse noch bekannt gegeben, so z.B. am Samstag, 3. April ab 8 Uhr am Ruhrfestspielhaus Recklinghausen (Cäcilienhöhe).

Mehrere große Soziale Zukunftsforen und Zukunftszirkel finden im Jahre 2004 in vielen Städten Deutschlands statt, veranstaltet vom Institut für Kirche und Politik und anderen. In Berlin findet vom 14.-16. Mai ein großer Perspektivenkongress der neuen sozialen Bewegung und der Gewerkschaften statt, an dem auch Vertreter aus dem Kreis Recklinghausen teilnehmen werden. Es ist also etwas in Bewegung und im Aufbruch: eine neue soziale Bewegung formiert sich und nimmt ihre Zukunft selber in die Hand! Niemand sollte abseits stehen, der auf der Verliererseite steht – oder sich noch auf der Gewinnerseite wähnt. Wenn wir jetzt nicht handeln, verlieren wir am Ende alle!

Regionalkongress im Kreishaus: „Droht der Ausverkauf von Staat und Kommune?“

Vorausgegangen war bereits im Oktober 2003 ein großer Regionalkongress der Gewerkschaft ver.di im Bezirk Emscher-Lippe-Nord „zur Rettung der kommunalen Selbstverwaltung und des Sozialstaates“ im Kreishaus Recklinghausen unter der Fragestellung: „Droht der Ausverkauf von Staat und Kommune?“ Denn im Kreis Recklinghausen und in der gesamten Emscher-Lippe-Region sind die Verhältnisse deprimierend: In manchen Stadtteilen ist die Zahl der Arbeitslosen auf 20% angestiegen, die Kinderarmut und Sozialhilfeempfänger sind sogar auf 30% angewachsen. Jedes 7. Kind ist auf Sozialhilfe angewiesen (früher war es nur jedes 75. Kind). Über 20.000 Menschen sind hoffnungslos verschuldet und immer mehr rutschen in die Schuldenfalle, sei es durch Arbeitslosigkeit oder Scheidung. Unsere Region ist das Schlusslicht und die Armutsregion im Ruhrgebiet.

Der Weg in eine soziale Zukunft ist momentan mit Steinen gepflastert: Während der technische Fortschritt rast und die Finanzmärkte vor Kapital überquellen, ist der soziale Fortschritt seit Jahren auf dem Rückzug. Die öffentlichen Kassen für die Gemeinschaft sind leer, während der private Reichtum einiger weniger in schwindelerregendem Ausmaß zunimmt. Während die öffentliche Hand 1.3 Bio. € Schulden hat (allein die Gemeinden haben über 100 Mrd. € Schulden), ist das private Vermögen auf 5,8 Bio. € in wenigen Händen angewachsen. Inzwischen hat Deutschland nach Amerika die höchste Milliardärsdichte. Auf Platz 3 der Welthitliste steht der Aldi-Händler Karl Albrecht mit 23 Mrd. Dollar Privatvermögen, der im Ruhrgebiet für das Sterben der „Tante-Emma-Läden“ verantwortlich ist und für den ruinösen Preiswettkampf.

Der soziale Kahlschlag bringt Menschen in Not und Armut und grenzt sie aus

Immer mehr Menschen geraten durch die tiefen Einschnitte in das soziale Netz in Not und Armut. Die drastischen Einkommens- und Leistungskürzungen, der massive Druck auf Erwerbslose, die von oben verordneten längeren statt kürzeren Arbeitszeiten sowie die Streichung tausender Stellen bringen die Menschen in Bedrängnis und sorgen für Zukunftsängste statt für soziale Nachhaltigkeit. Die egoistische Ellbogengesellschaft mit ihrer sozialen Kälte drängt immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft und ins Abseits, wo sie dann ausgegrenzt sind.

Doch das Volk sind wir. Die gewählten Volksvertreter versuchen die Menschen zu belehren und zum Verzicht umzuerziehen, statt ihre Interessen zu vertreten. Selber leben die Mandatsträger und Regierenden über ihre Verhältnisse und wollen dem Volk auch noch einen Multimillionär aus der großen Finanzwelt als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vorsetzen. Lauter Nichtbetroffene in Regierungen und Parlamenten entscheiden über Betroffene – die Reichen über die Habenichtse. Der alte Staatsrechtslehrer aus dem Altertum, Der Hl. Augustinus, formulierte es damals so: „Ein Staat, dem es an sozialer Gerechtigkeit mangelt, was ist der anderes als eine große Räuberbande?“. Bei den bevorstehenden Wahlen haben die Menschen Gelegenheit, dem Spuk ein Ende zu bereiten und mit eigenen Alternativen in die Politik zu gehen – raus aus der Zuschauerdemokratie!

Zwei Welten prallen aufeinander: Zurück ins 19. jahrhundert oder Vorwärts in ein soziales 21. Jahrhundert?

Zwei Welten prallen im Kreis Recklinghausen und anderswo aufeinander:

  • Auf der einen Seite geht es mit Riesenschritten zurück in die Vergangenheit des 19. Jahrhundert – z.B. durch die sogenannte „Reform-Agenda 2010“ der Regierung in Berlin, bei der die Lebensbedürfnisse der Menschen und die soziale Gerechtigkeit aus dem Blick geraten und der Reformbegriff missbraucht wird. Der Abbau sozialer Errungenschaften, für die Gewerkschaften und Frauenbewegung über 100 Jahre gekämpft haben, lässt die Zahl der Sozialhilfeempfänger, der Obdachlosen und der verschuldeten und verarmten Familien und Alleinerziehende sowie die Kinderarmut und den Bildungsnotstand in der Emscher-Lippe-Region innerhalb weniger Jahre steigen, ohne die zunehmende Arbeitslosigkeit und die Firmenkonkurse sowie die Schließung sozialer und kultureller Einrichtungen damit zu bremsen – im Gegenteil. Die grüne Landschaft wird trotz abnehmender Bevölkerung zersiedelt durch einen Flickenteppich von neuen Gewerbegebieten und Verkehrsstraßen mit Verlust von Wohn- und Freizeitqualität in unseren Städten, in denen zumeist vergeblich auf die Ansiedlung neuer Arbeitsplätze und auf verbesserte Lebensbedingungen gehofft wird auf kurze Sicht.
  • Auf der anderen Seite ringen engagierte Menschen an runden Tischen gemeinsam um kleine Schritte auf einem neuen solidarischen Weg in eine nachhaltige Zukunft - auch für spätere Generationen. Unter dem Begriff der „lokalen Agenda 21“ werden in einem Netzwerk von über 2500 Gemeinden, Städten und Kreisen alleine in Deutschland, so auch im Kreis Recklinghausen, viele Anstrengungen unternommen sowie Ideen und Projekte entwickelt, um eine soziale, wirtschaftliche und ökologische Zukunft nach menschlichem Maß zu gestalten unter der Fragestellung: Wie wollen wir im 21. Jahrhundert menschenwürdig leben und überleben - auch auf lange Sicht.

Beide Seiten reden von „Globalisierung“, aber aus unterschiedlicher Sichtweise:

  • Zukunftsängste wegen des Konkurrenzkampfes und Standortwettbewerbes in der grenzenlos gewordenen Wirtschaftswelt auf der einen Seite führen zu einem verzweifelten „Wettkampf der Besessenen“, bei dem es am Ende keine Gewinner sondern nur Verlierer geben wird. Einkommen und Lebensqualität sollen auf das Niveau der ärmeren Länder abgesenkt werden. Nicht die Armen und Schwachen stehen im Mittelpunkt der Politik, sondern die Interessen und Privilegien der Reichen. Die Wirtschaft anstelle demokratischer Politik bestimmt die Marschroute, mit dem Ziel einer Umverteilung von unten nach oben. Die Politiker werden zu willfährigen Erfüllungsgehilfen dieser Politik, anstatt das Wohl des Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wenden, wie sie in ihrem Eid auf die Verfassung geschworen haben.
  • Zukunftshoffnung und Initiative in der zusammenwachsenden Welt durch Zusammenarbeit und Kooperation mit gleichgesinnten Menschen an runden Tischen auf der anderen Seite führen zu einer Vision von einer anderen Welt als die der Zerstörung und Gegnerschaft - eine Welt, in der das Zusammenleben ein Gewinn für alle Menschen, für die Natur und die ganze Erde bedeutet. Beteiligen wir uns an der Mitgestaltung unserer Zukunft und die unserer Kinder und Enkel!

Agenda 21: Teilen macht alle reich! Neues Denken und Zukunftshandeln lösen altes Denken und Ideologien der Vergangenheit ab

Zwei unterschiedliche Denk- und Sichtweisen sowie Handlungsmuster von Menschen in der einen Welt, die sich im Wandel befindet. Altes und Neues Denken und Verhalten prallen aufeinander und offenbaren den Zwiespalt der Menschen. Die Grenzen zwischen arm und reich verlaufen nicht mehr zwischen Staaten und Kontinenten, sondern mitten durch unsere Bevölkerungsgruppen in unseren Stadtteilen.

Der Kreis Recklinghausen mit seinen 630.000 Bewohnern und 10 Städten ist ein Teil dieser Erde und Menschheit, der von allen anderen Teilen der Erde und ihren Menschen abhängig ist und umgekehrt. Nicht im egoistischen Kampf gegen die anderen zu siegen rettet das eigene Überleben, sondern der regionale Beitrag auch des Kreises Recklinghausen in der arbeitsteiligen Welt gereicht zum Wohle aller Erdenbewohner und sichert uns auch die Reichtümer aus den anderen Regionen: Nur Teilen macht alle reich, denn die Ressourcen dieser Erde gehören allen und niemand privat: Die Menschen, die Erde, die Natur, die Gesundheit und die Arbeitskräfte sind keine Ware auf dem Markt.

Dieses Umdenken ist an der Tagesordnung für das 21. Jahrhundert: Agenda 21.