Wilhelm Neurohr

Vortrag am 24. 09. 2005 in Nürnberg

auf der Michaeli-Tagung der Anthroposophischen Gesellschaft

(100 Jahre anthroposophischer Sozialimpuls)

im Rudolf-Steiner-Haus

Für die Einladung zur Michaeli-Tagung nach Nürnberg zu einem sozialen Thema bedanke ich mich herzlich. (Ich hoffe, mich mit meiner Stimme verständlich machen zu können, da es mir in dieser Woche wegen vieler Vortragsverpflichtungen so ergeht wie den heiseren Bundestagswahlkämpfern: Ich habe keine Stimme mehr, nachdem ich sie ja vorige Woche abgegeben habe). Aus dem Ruhrgebiet kommend, muss ich zu Anfang ein Geständnis machen: Erstmals bin ich überhaupt in dieser schönen Stadt Nürnberg. Als gelernter Stadtplaner habe ich mich aber zuvor ein wenig mit Ihrer Stadt beschäftigt, in der diese heutige Tagung stattfindet: Denn es ist ja nicht unwesentlich, was von so einem Veranstaltungsort an Zukunftsfähigem ausgehen kann - für eine soziale Zukunft der Menschen.

Nürnberg ist ja eine Stadt der besonderen historischen Verantwortung - das brauche ich Ihnen als auswärtiger Gast nicht zu erzählen. In diesen Tagen findet ja hier das Gedenken statt an dasjenige, was vor genau 70 Jahren sich an diesem Ort ereignete: Die Verkündung der Nürnberger Rassegesetze. Die Nationalsozialisten erkoren diese Stadt in falschem Geschichtsbewusstsein zur „deutschesten aller deutschen Städte“. Danach bewirkten sie im zweiten Weltkrieg deren apokalyptische Zerstörung.

Die Stadt Nürnberg betreibt nun einen erfreulichen Ausgleich (ich will noch nicht von einem karmischen Ausgleich sprechen): Die Stadt verleiht seit 10 Jahren internationale Menschenrechtspreise. Just an diesem Wochenende, morgen in der Nürnberger Oper, ist ja die diesjährige Preisverleihung an Tamara Chikunova aus der Ukraine - die Gründerin der Nichtregierungsorganisation „Mütter gegen Todesstrafe und Folter“. In der Straße der Menschenrechte findet Sonntag auch die Nürnberger Friedenstafel statt und es gibt Vorträge, Konzerte und Filme zum Thema Menschenwürde. Sie haben das sicherlich alles in den örtlichen Zeitungen gelesen.

Zudem halte ich es für ungeheuer wichtig, dass eine vorbelastete Stadt wie Nürnberg inzwischen Beziehungen zu den Menschen in 13 Partnerstädten in Europa und der Welt unterhält – von Mazedonien und der Ukraine über Israel und der Türkei bis nach Nicaragua. Damit öffnen sich örtliche Lebensgemeinschaften für die Welt. (Wir haben das vorige Woche auch in Recklinghausen im Ruhrgebiet praktiziert mit einem großen Afrika-Kulturfest und Kulturtagen „Farbige Begegnungen mit Afrika“, die heute zu Ende gehen).

Die soziale Frage als brüderliche / geschwisterliche Menschheitsaufgabe im Zuge der Weltwirtschaft

Denn die soziale Frage ist ja nicht nur auf kleine Gemeinschaften beschränkt, auch nicht nur auf Staaten oder Völker, sondern sie ist eine Menschheitsaufgabe. Deshalb muss sich eine allgemeine Menschenbruderschaft über die ganze Erde hinweg bilden – wie es ja auch die zivilgesellschaftliche Bewegung anstrebt und in ihr die anthroposophische Bewegung.

Schließlich sind die menschlichen Bedürfnisse, namentlich die Konsumbedürfnisse, international und nicht national. Sie haben sich in der komplizierten Welt vereinheitlicht. Wären sie national, entstünde ja der zu beobachtende Wohlstandsegoismus einzelner Staaten gegenüber hungernden Menschen in anderen Staaten. Alle wollen ja menschenwürdig leben mit ausreichenden Mitteln. Aber auch der Egoismus ist ebenfalls international; wir erleben ja gerade eine Globalisierung des Egoismus.

Deshalb ist in Zeiten der Globalisierung ein gemeinsames Verständnis für die Weltproduktion nötig, denn es ist mittlerweile ein einheitliches Produktionsprinzip entstanden, das sich ja inzwischen weiter entwickelt hat von der industriellen Massenproduktion mit Automation zur arbeitsteiligen Produktion an verschiedenen Standorten – bis hin zur Verlagerung der Arbeitsplätze an die billigsten Produktionsstandorte.

Deshalb weist uns Rudolf Steiner einen Ausweg aus der Globalisierungsfalle, indem die Einheit des Geistes zur Einheit des Konsums hinwirken muss. (Zürich 1919). Ein Ausgleich wird geschaffen in der Zirkulation, d.h. in der weltweiten Vermittlung von Produktion und Konsumtion. Ich will das nicht weiter vertiefen, weil das ein eigenes abendfüllendes Thema wäre. Nur soviel: Wie beim Inneren des Menschen muss also aus vielen Organismen ein einheitlicher Organismus entstehen im Zuge der Weltwirtschaft. Deshalb sind die momentanen Diskussionen um den Welthandel und die gerechte Güterverteilung von zentraler Bedeutung.

Dazu kann jeder Ort und jede Wirtschaftsregion ihren speziellen Beitrag für das Ganze leisten. Je weiter die Globalisierung voranschreitet, desto wichtiger wird andererseits die Regionalisierung. Auch Nürnberg war ja schon im Mittelalter eine Weltstadt mit Fernhandel; auch der erste Erdglobus wurde hier hergestellt – (das nimmt allerdings bei uns im Ruhrgebiet auch die Universität Duisburg mit dem Geografen Mercator für sich in Anspruch). Im 15. Jahrhundert – das wissen Sie hier als Nürnberger alle viel besser als ich - war die Stadt überdies ein Zentrum des deutschen Humanismus (Celtis, Pirckheimer, Schedel), der Wissenschaften und Künste (Malerei und Bildhauerei / Albrecht Dürer). Es ist gut, daran anzuknüpfen – hier an diesem Ort, wo vor 187 Jahren ein Kaspar Hauser auftauchte (1828), das „Kind Europas“.

An jedem Erdenort muss anders sozialisiert werden zum weltweiten Wohle des Ganzen

Mit Interesse habe ich deshalb zur Kenntnis genommen, dass Sie hier Anthroposophische Forschungen zur Äthergeografie im Stadtgebiet und zum Genius der Stadt betreiben, zum genius loci, dem Geist des Ortes. Daraus kann Orientierung gewonnen werden für das unterschiedliche soziale Wirken an den einzelnen Erdenstandorten. Denn an jedem Erdenort muss anders sozialisiert werden.

Vielleicht ist einmal ein Austausch mit unserer Arbeitsgruppe“ Spirituelle Orte im Ruhrgebiet“ möglich, denn auch das Ruhrgebiet ist ja seit den Kriegszeiten und der Industrialisierung ein vorbelasteter Erdenort - als Waffen –und Rüstungsschmiede für zwei Weltkriege und als ökologisch ausgezehrte alte Industrieregion mit höchster Arbeitslosigkeit - also ebenfalls ein Erdenort, den es zu heilen gilt, zumal ja mit der Montanregion im Ruhrgebiet der Anfang gemacht wurde für die schrittweise Vereinigung Europas.

An vielen Orten findet nun nach den Jahrzehnten des lange zurückliegenden Wiederaufbaus und des materiellen Wohlstandes sowie der momentanen Krise von Staat und Wirtschaft - ein Suchen und Ringen der Menschen um eine neue soziale Ordnung statt – insbesondere im Anblick der Erosion der parlamentarischen Parteiendemokratie, die das künftig nicht mehr für uns erledigen wird. Die soziale Phantasielosigkeit nach den Bundestagswahlen vorige Woche ist ja ernüchternd.

Insofern habe ich mit Freude zur Kenntnis genommen, dass in Nürnberg auch eine Initiative für soziale Dreigliederung tätig ist! Denn es geht ja bei dem anthroposophischen Sozialimpuls nicht darum, was wir sagen, sondern darum, was wir tun!

Daneben gibt es auch in Nürnberg Initiativen zur lokalen Agenda 21 mit dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung in sozialer, ökonomischer und ökologischer Hinsicht. Als Konzept der Nachhaltigkeit ist ja der gesellschaftliche Gegenentwurf zum kurzsichtigen und ausbeuterischen Prinzip des Neoliberalismus: „Unsere größte Herausforderung in diesem Jahrhundert ist es, eine scheinbar abstrakte Idee, nämlich die nachhaltige Entwicklung, alltäglich für alle Menschen in der ganzen Welt zu realisieren“. Diese Aussage stammt vom UNO-Generalsekretät Kofi Annan, (der ja vor 10 Tagen auf dem größten UNO-Weltgipfel gescheitert ist mit seinen Reformplänen und der Verbindlichkeit der Milleniumsziele zur Armutsbekämpfung auf der Welt.)

Die Nachhaltigkeitsziele macht sich übrigens auch unser anthroposophischer Freund Ibrahim Abouleish zu eigen bei seinem weltbekannten Dreigliederungsprojekt der biologisch-dynamischen Sekem-Farm in Ägypten. (Dafür hat er den alternativen Nobelpreis erhalten und einen internationalen Preis als sozialer Unternehmer sowie die Ehrendoktorwürde). Soziale Unternehmer alten Typs mit ethischen Grundsätzen sind nahezu ausgestorben. Deshalb ist heutzutage jeder Einzelne aufgerufen, etwas Soziales zu unternehmen!

Die soziale Frage als Kampf um die spirituelle Identität der Menschen in einer kommerzialisierten Welt: Befreiung von der Lohnarbeit

Die soziale Frage ist zu Beginn unseres 21. Jahrhunderts wieder in den Mittelpunkt gerückt – der michaelische Kampf um die soziale Zukunft in einer kommerzialisierten Welt ist ein Kampf um die spirituelle Identität der Menschen. Die heutige Michaeli-Tagung findet ja vor dem Hintergrund von 100 Jahren Sozialimpuls Rudolf Steiners statt. Dessen Ursprung im Zusammenhang mit der Bedeutung von Arbeit und Freiheit heute morgen von Prof. Dr. Krüger dargestellt – die Befreiung des Menschen von der Erwerbsarbeit und die Abkehr von der Arbeitkraft als Ware als Voraussetzung für Menschenwürde. Die aktuellen Diskussionen über ein Grundeinkommen für alle gehen also in die richtige Richtung.

Vor 100 Jahren schrieb ja Rudolf Steiner zum ersten mal drei Aufsätze über die Grundfragen der sozialen Ordnung, vor allem über die notwendige Trennung von Arbeit und Einkommen, in der Zeit, als er auch an der Arbeiterbildungsschule in Berlin als Lehrer in der Erwachsenenbildung tätig war. Er hat diese scheinbar politischen Fragen immer in einen spirituellen Zusammenhang gestellt, als er begann, über Theosophie und soziale Frage zu schreiben.

100 Jahre nach Schillers Tod in Weimar (9.5.1805) begann er, die soziale Frage anzuknüpfen an den idealistischen, humanistischen und spirituellen Geist Weimars. Der Idealismus soll aber heute in konkrete Ideale und soziale Handlungsimpulse münden! Deshalb sollten wir auch mit meinem heutigen ersten Vortrag gemeinsam den Blick zunächst richten auf den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Spiritualität und Sozialität oder sozialem Engagement – (bevor ich im zweiten Teil nach der Kaffeepause auf praktische Beispiele und Projekte eingehe und von meinen eigenen Tätigkeitsfeldern wunschgemäß berichte.)

„Eine menschliche Welt kann nur noch durch die freie Zusammenarbeit von Individuen geleistet werden – durch spirituelle Entwicklung der Einzelnen“

Eine spirituelle Entwicklung kann ja nur der Einzelne vornehmen – und auch sozial handeln muss jeder Einzelne. Deshalb ist die Gemeinschaft so sehr auf jeden Einzelnen angewiesen! Spiritualität wird in jeder Hinsicht zum Prüfstein von Sozialität, da eine menschliche Welt nur noch durch die freie Zusammenarbeit von Individuen geleistet werden kann - die weit über die bisherigen Grenzen ihre Lebenszusammenhänge denken, fühlen und handeln lernen.

Wer glaubt, ein spirituelles Leben zu führen, ohne sich für das Soziale verantwortlich zu fühlen und sich dort tätig mit einzubringen, ist alles andere als spirituell. Denn alles was die Menschen bei ihrem Erdenleben im Sozialen durchmachen, ist Geistesleben. Was an den einzelnen Stellen des gesellschaftlichen Lebens sozial geschieht, ist der Ausfluss dessen, was in den Geistern der Menschen lebt, die an diesen Stellen wirken (GA 191).

Man muss also das Soziale nicht nur Denken, sondern das Soziale auch Wollen! Michaelische Kultur will ja das Denken in den Willen und den Willen in das Denken bringen – sie ist ein Willensweg und ein Gedankenweg zugleich. Dieser ist nötig, um moralische Kräfte und soziale Phantasie zu entwickeln – denn daran mangelt es derzeit in unserer politisch ratlosen und chaotischen Zeit. Das liegt am intellektuellen Kopfdenken, während das soziale Denken den Weg zum Herzen frei machen muss. Unser Michael-Zeitalter umschrieb ja Rudolf Steiner so: „Die Herzen beginnen, Gedanken zu haben“. Das Buch zum Denken ist ja die „Philosophie der Freiheit“ – und das Buch zum Handeln heißt „Die Kernpunkte der sozialen Frage“. Für das verbindende mittlere Element, das richtige soziale Fühlen, gibt es die übrigen menschenkundlichen Grundlagenwerke Rudolf Steiners – und die vielen Übungswege.

Anthroposophie ist ohne soziale Dreigliederung nicht lebensfähig und umgekehrt: die soziale Dreigliederung kann nur aus anthroposophischen Quellen gespeist werden - und nur unter Beteiligung auch aller Anthroposophen Wirkung entfalten. Soziale Dreigliederung in der Praxis ist ja gelebte Anthroposophie im Alltag. „Die soziale Dreigliederung vorzunehmen, ist die wichtigste öffentliche Aufgabe der gegenwärtigen und nächst zukünftigen Menschheit, damit diese überhaupt weiterleben kann“ (Steiner am 19.10.1919). „Derjenige, der heute diese Dreigliederung nicht will, der handelt der geschichtlichen Notwendigkeit der Menschheitsentwicklung entgegen“, so deutlich drückte es Rudolf Steiner aus (GA 331 a). Mittels der Dreigliederung werden wir im Sinne Michaels zu Wegbereitern des Christus!

Kriterien für Sozialität im michaelischen Zeitalter

Denn was bedeutet eigentlich in unserer Zeit, „michaelisch“ zu sein? Sieben Kriterien möchte ich dazu hervorheben:

  1. Die Überwindung von egoistischem Nationalitäts- und Religionsbewusstsein.
  2. Das Erwachen eines kosmopolitischen Bewusstseins – also Weltbürgertum.
  3. Die Spiritualisierung des Alltags: Das geistig Wirksame hinter dem Materiellen sehen.
  4. Das Handeln aus Freiheit.
  5. Der Mut zum Unkonventionellen, Neuen, noch nie Dagewesenen.
  6. Die Vertrauenskraft zwischen den Menschen.
  7. Das Handeln aus Geistesgegenwart statt aus Konditionierung (aus Routine oder Gewohnheit).

An einem Frageabend zum Wirtschaftsleben am 12. Oktober 1920 in Dornach erzürnte sich Rudolf Steiner mit ungewöhnlich scharfen Worten über solche Anthroposophen, die zwar von Menschenliebe reden, aber von Politik nichts wissen wollen, sondern sich lieber mit allerlei Mystik durchdringen – ohne zu merken, dass ein wahrhaft freies Geistesleben erst politisch erkämpft werden muss. Seine Kernpunkte der sozialen Frage seien nicht geschrieben worden, um die soziale Frage ins Theoretische oder Philosophische zu lenken, sondern um irgendetwas anzufangen im wirklichen Leben.

Deshalb möchte ich nachher im zweiten Vortragsteil nach der Kaffeepause dann konkrete Beispiele und Praxisberichte über soziale Initiativen und Aktivitäten in der Zivilgesellschaft und Dreigliederungsbewegung in der Gegenwart ansprechen - Berichte aus dem wirklichen Leben mit all seinen Unzulänglichkeiten… Es werden ja derzeit in Ansätzen viele zivilgesellschaftliche Keime gelegt für eine andere Lebens- und Wirtschaftsweise (Wolfgang Ritter hat ja dazu im Oktober / November noch eine Vortragsreihe hier in Nürnberg anzubieten). Wie nötig diese sind, zeigten uns vor 5 Tagen wieder die Zahlen zum internationalen Kindertag, mit Blick auf die erschreckende Zahl an hungernden, sterbenden, kranken Kindern ohne Schulbildung usw. weltweit.

Keine soziale Veränderung ohne eine Revolution im menschlichen Bewusstsein: Die äußere soziale Welt als Ausdruck unserer Innenwelt

Welches sind nun aber die Voraussetzungen eines tätigen Mitwirkens für das soziale Zusammenleben in der Menschengemeinschaft? Die Menschen tun sich ja immer schwerer im sozialen Umgang untereinander. Hierzu möchte ich eine Aussage des früheren tschechischen Ministerpräsidenten Vaclac Havel zitieren – der ja ein Kämpfer für die Menschenrechte ist. Er sagte 1990 vor dem Kongress der vereinigten Staaten von Amerika folgendes: „Ohne eine globale Revolution in der Sphäre des menschlichen Bewusstseins wird sich nichts zum Besseren verändern… und die Katastrophe, auf die sich die Welt hinbewegt, wird unausweichlich sein – nämlich der ökologische, soziale, demografische oder allgemeine Zusammenbruch der Zivilisation.“

Mit anderen Worten. Die äußere soziale Welt ist Ausdruck unserer Innenwelt, unseres Bewusstseinszustandes, sicherlich auch unserer Willensschwäche. Bekanntlich muss jedem Wandel im Äußeren ein Wandel im Inneren vorausgehen. In sich selber kann jeder Mensch die Inspirations- und Bewusstseinskraft des Michael finden. Jedem äußeren Schritt muss ein Schritt in der persönlichen Entwicklung vorausgehen, wenn er zum Erfolg führen soll. (Für einen anthroposophisch orientierten Zuhörerkreis sind das Binsenweisheiten).

Im Sozialen kann aber auch das Umgekehrte gelten: Erst im Reflektieren meines bereits vollzogenen äußeren Handelns kann ich anschließend oder zeitgleich feststellen, ab mein Handeln sozial oder unsozial war: Learning by Doing. Wie erleben mich meine Mitmenschen wirklich? Insbesondere wenn spontane Hilfe in der Not angesagt ist für das Leid des Nächsten, kann man nicht erst lange überlegen oder seine Erkenntnisarbeit pedantisch zum Abschluss bringen, sondern es ist Geistesgegenwart aus Mitgefühl heraus angesagt - hier und jetzt!

Das spirituelle Geheimnis im Wechselverhältnis von Individualität und Gemeinschaft

Wie bringe ich mich handelnd und dienend in die soziale Gemeinschaft ein? Ein gemeinsamer Wille, ein Gesamtwille muss in dem Einzelnen wirken. Geist und Seele des Einzelmenschen muss auch im Gesamtwillen der Gemeinschaft leben und umgekehrt – ein Gemeinschaftsverständnis für den einzelnen Menschen. Das ist das spirituelle Geheimnis im Wechselverhältnis von Individualität und Gemeinschaft. Sie kennen ja alle den beliebten Spruch bei fast allen anthroposophischen Tagungen: „Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft, und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele kraft.“ Das ist hiermit gemeint.

Die Gesellschaft als Gemeinschaft kann also durch den Einzelnen eine soziale Entwicklung gehen. Darum ist nicht nur der Einzelne vom globalen Weltgeschehen und von der Menschengemeinschaft abhängig – sondern jeder Einzelne kann auch die Weltentwicklung selber beeinflussen und ist deshalb so wichtig für die ganze Welt. Niemand darf sozial ausgegrenzt werden. Jeder wird gebraucht und hat seinen Platz.

Um das zu gewährleisten, hat jeder ein Lebensrecht und damit ein Recht auf Einkommen - unabhängig von einem Erwerbsarbeitsplatz! Das haben alle unsere Parteien mit ihren Phantomprogrammen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit – in Wirklichkeit der Arbeitslosen – nicht verstanden im Bundestagswahlkampf vorige Woche. Auch das war kein Thema: Teilen macht alle reich und die Reichen empfangen ihren Segen durch die Armen und nicht umgekehrt. Es geht also nicht um Almosen der Reichen für die Armen, (auch wenn ich gleich in der Pause um Spenden für unser Togo-Projekt bitten werde).

Das Gesetz des individuellen sozialen Handelns zugunsten der Gemeinschaft

Im Zwischenmenschlichen, im Sozialen, ist sozusagen das Göttliche wirksam, insbesondere bei der Ich-Begegnung im Leiden des Anderen. Der Sozialimpuls der Anthroposophie soll ja dazu führen, dass die Menschheit dem Christus im Sozialen begegnen kann. Nicht ein Einzelner kann den Christus wirklich erleben, sondern Christus wirkt in der Menschengemeinschaft – wenn mindestens zwei sich in seinem Namen versammeln.

Dieses Gesetz des individuellen sozialen Handelns zugunsten der Gemeinschaft gilt für unsere Zeit der seelischen und materiellen Nöte ja Tag für Tag. Auch Nicht-Handeln hat soziale Wirkungen – wie wir nicht erst seit der Naziherrschaft wissen. Mit dem Rückzug

auf bloßes Zuschauerdasein kann man sich also der Verantwortung im Sozialen gar nicht entziehen. Für die Folgen der Unterlassungssünden trägt man erst recht Mitverantwortung. Das gilt auch für die Unterlassungen und Versäumnisse der sozialen Dreigliederungsbewegung in den letzten 100 Jahren mit der Folge der heutigen sozialen Zustände und Missstände in der Welt.

Eine Arbeit im sozialen Bereich als Christusbegegnung mit der Menschenwürde

Eine Arbeit im sozialen Bereich im Dienste der Solidarität ist das Beste, was ein Christ machen kann, bei der Entdeckung des Angesichts Christi, das durch Liebe, Güte und soziale Arbeit zu uns spricht. Was offenbart uns der aktuelle Blick auf die heutigen Zustände? Eingangs sprach ich die Menschenrechte und die Menschenwürde an. Die alltägliche Verletzung der Menschenwürde findet nicht nur in totalitären Regimen statt, sondern auch hier bei uns im zwischenmenschlichen Zusammenleben - ein Zusammenleben, das auf Konkurrenz statt auf Kooperation angelegt ist in einer Wirtschaftsform, die totalitäre Züge annimmt, indem sie auch das kulturelle und das politisch-rechtliche Leben beherrscht unter dem Vorwand der Globalisierung.

Totalitäre Weltinstitutionen wie die WTO – ohne demokratische Legitimation – zwingen die Länder, und die EU z.B. ihre Verfassungen zu ändern, um sie mit den Interessen der Wirtschaftslobby konform zu machen – und zwar völlig vorbei am Rechtsempfinden der betroffenen Menschen. Wir leben inzwischen mit alten politischen Rechtsideen in einer vollständig neuen Wirtschaftsordnung – besser gesagt: Wirtschaftsunordnung. Offensichtlich soll der ganzen Welt eine Art Diktatur des Materialismus und Egoismus auferlegt werden.

Damit ändert sich auch das gegenseitige Fühlen der Menschen zueinander, aus dem sich ja das öffentliche Recht ergibt. Das öffentliche Recht setzt dem Wirtschaftsleben heutzutage aber keinen menschengemäßen Handlungsrahmen mehr, sondern es folgt lediglich den neoliberalen Wirtschaftsideologien und -interessen. Diese ordnen nicht dem Geistesleben, sondern dem Wirtschaftsleben die Freiheit zu. Und die Gleichheit im Rechtsleben hat sich zu einer Gleichmacherei oder Nivellierung des kulturellen Lebens verschoben. Statt Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben hat sich Kumpanei im politischen Rechtsleben breit gemacht.

Die teuflische Vertauschung und Vermischung der Ideale der französischen Revolution

Doch mit der bloßen Vertauschung der Ideale der französischen Revolution hat es nicht sein Bewenden - sondern man hat auch noch eine teuflische Vermischung vorgenommen: Das Rechtsleben hat sich mit dem Wirtschaftsleben verschmelzen lassen. Wirtschaftliche Interessen und Bedürfnisse wurden in öffentliches Recht ausgedrückt. Wir haben es heute mit wirtschaftlichen und staatlichen Interessen zu tun, die sich im Rechtscharakter ausdrücken. Die große Zahl der Lobbyisten z.B. in der EU-Hauptstadt Brüssel feiert täglich neue Erfolge bei den EU-Verordnungen usw.

Mit staatlicher und wirtschaftlicher Macht soll die Menschheit in einem Weltstaat zusammengeführt werden, in einem Weltwirtschaftsstaat, unter Missachtung der individuellen Freiheit. Mittlerweile kann deshalb mit Gewissheit vorausgesagt oder prophezeit werden, dass unser derzeitiges System weltweit ebenso zum Scheitern verurteilt ist wie bereits vor 15 Jahren die politischen Systeme im Osten. Den exakten Zeitpunkt kann man vielleicht genauso wenig voraussehen wie der Brückenbauer, der die falsch berechnete Statik bemerkt und nur weiß, irgendwann wird bei hoher Belastung die Brücke zusammenkrachen.

Der neoliberale globale Kapitalismus ist am Ende und wird schonrecht bald in wenigen Jahren notwendig zusammenbrechen, wenn nicht über einen Bewusstseinswandel eine ganz andere Richtung und soziale Ordnung angestrebt wird im Sinne der Nachhaltigkeit und Dreigliederung. Bei Veranstaltungen mit den Trägern des alternativen Nobelpreises vor einigen Monaten in München und Salzburg war dieses absehbare Scheitern ein wichtiges Thema. Zugleich zeigten sie aber an Modellprojekten auf, dass auch eine andere Welt möglich ist. So etwas macht Mut und gibt Hoffnung - andernfalls geht es bergab.

5 zwingende Gründe für den absehbaren Zusammenbruch des neoliberalen Kapitalismus

Ich nenne beispielhaft nur 5 Gründe für den sicheren Niedergang des alten Systems (beim Ausbleiben von Korrekturen), aus dem etwas Neues hervorgehen muss:

  1. Unser wirtschaftliches Konkurrenzsystem - mit den vom Wirtschaftskreislauf abgekoppelten Finanzmärken – geht von einem verkürzten Menschenbild aus – nämlich von einer sozialdarwinistischen Sichtweise des Überlebens der Stärkeren und des Untergangs der Schwächeren. Doch die Gewinner von heute werden die Verlierer von morgen sein und dafür sorgen, dass am Ende alle verlieren. Dieses System ist nur scheinbar erfolgreich, in Wirklichkeit siegt es sich zu Tode, denn das System ist menschenverachtend.
  2. Die Globalisierungseliten sind dekadente Mächte, denn sie sind dabei, die ethisch-moralischen Grundsätze einer Gesellschaft zu zerstören – und zwar durch den neoliberalen Kapitalismus und durch ein korruptes Staatswesen sowie durch eine käufliche Kultur. Machtkonzentration ist nicht nachhaltig. Staat und Markt als die entscheidenden Antriebskräfte in deren Welt haben die Kultur zum bloßen Handels- und Gebrauchsartikel degradiert – zum „weichen Standortfaktor“ zur Beförderung des harten Standortwettbewerbes. Ohne befreite Kultur gibt es keine Menschheitszukunft.
  3. Die Langzeit-Voraussetzungen für Nachhaltigkeit und Effizienz der Wirtschaftsmärkte und für den Erhalt der Naturgrundlagen werden untergraben – weil es wider besseres Wissen keine nachhaltige Ausrichtung vorgenommen wird, sondern die kurzsichtige Gewinnerwartung im Vordergrund steht. Solche Ideologien sind nicht tagfähig. Vom eigentlichen Wirtschaftsgeschehen abgelöste Spekulationen bringen das Finanzsystem zum Kollaps.
  4. Diese Art von Kapitalismus ist langsam dabei, das soziale Kapital der Gesellschaft aufzuzehren. Denn ohne Vertrauen der Menschen wird das soziale Kapital geschwächt. Ohne soziales Kapital, ohne Kultur, leidet die wirtschaftliche Produktivität. Der übermächtigen Wirtschaft steht kein hinreichender politisch-rechtlicher Bereich gegenüber, geschweige ein wirklich unabhängiges Kultur- und Geistesleben. So entsteht ein modernes Sklaventum – diese Entwicklung ist nicht ethisch und deshalb nicht zukunftsfähig.
  5. Die Wirtschaft kann nicht die Lebendigkeit der Kultur verletzen und der Staat kann nicht die Gleichheit im Rechtsleben verletzen, ohne dramatische Folgen für die Wirtschaft selbst. Sie sägt sich den Ast ab, auf dem sie sitzt. Diese Wirtschaft ist auch ökonomisch nicht effizient und schon deshalb zum Scheitern verurteilt.

Mit dem Niedergang der Wirtschaft wird allerdings die Kultur ebenfalls geschwächt und dann untergehen, weil ihr die materielle und finanzielle Grundlage fehlt (Stichworte: Spenden, Sponsoring, Schenkungen, Subventionen). Erst kommt ja die Kultur als soziales Kapital und dann die Wirtschaft, die auf Vertrauen baut.

Der Aufbruch der Zivilgesellschaft als wichtigstes Ereignis im 20. und 21. Jahrhundert

Das bereits sichtbare Scheitern des Systems z.B. mit der Unfähigkeit, das Nord-Süd-Gefälle auf dieser Erde auszugleichen, ist eine große Chance für den Aufbruch der Zivilgesellschaft – denn dieser ist das wichtigste Ereignis im 20. und 21 Jahrhundert. Die Zivilgesellschaft als soziale Kulturbewegung spielt eine wichtige Rolle für die Emanzipation des kulturellen Lebens von der wirtschaftlichen Vereinnahmung und für die ganze Entwicklung menschlichen Handelns. Mit ihrem klaren Verständnis der Aufgabenteilung von Wirtschaft, Politik und Kultur – also mit der Hinwendung zur sozialen Dreigliederung - kann sie die europäisch-amerikanische Kultur der Gegenwart vor dem Zugrundegehen retten. (Denn davor hatte Rudolf Steiner schon am 15.12. 1919 in Dornach gewarnt in seinen Ausführungen zur Sendung Michaels.)

Die Fehlentwicklungen aus dem politischen oder wirtschaftlichen Leben selber heraus zu korrigieren, wie es Wirtschaft und Politik versuchen, erscheint illusorisch. Daran werden auch die vor einer Woche stattgefundenen Bundestagswahlen in Deutschland nicht viel ändern. Denn von den Parteien oder vom Parteienwesen ist nichts Heilsames für eine soziale Zukunft zu erwarten. (Dem deutschen Bundeskanzler Schröder waren vor 2 Wochen Wahlkampfauftritte hier in Nürnberg und bei uns in Recklinghausen wichtiger als die Teilnahme am UNO-Reformgipfel in New York, wo es ja um die Milleniumsziele der Halbierung der Armut in der Welt ging).

Die Parteien haben sich allesamt mehr oder weniger auf die Ökonomisierung aller Lebensfragen und Lebensverhältnisse fixiert. Das geschieht in dem Bestreben, unter den Menschen die weit verbreitete Stimmung zu erhalten, dass es für das öffentliche Leben genüge, wenn dafür gesorgt wird, dass die Menschen wirtschaftlich zufrieden gestellt werden. (Diese Aussage kommt Ihnen vielleicht bekannt vor, denn diese Feststellung traf Rudolf Steiner in seinen Vorträgen zur Christologie: Steiner-Vortrag über Christus im Verhältnis zu Luzifer und Ahriman). Damit sollen die Menschen auf die äußere Natur zurückgeworfen werden und vom Geistig-Seelischen abgebracht werden – obwohl gerade das globale Wirtschaftsleben dazu beitragen könnte, die Menschen in brüderlicher Weise einander näher zu bringen.

Wenn wir soziale Gestaltung durch soziale Menschen wollen, dann kann man jedoch nicht im Wirtschaftsleben selber das Heilmittel suchen für eine Gesundung des sozialen Lebens – sondern in den Gebieten des Geistes und des Rechtes. „Das Wirtschaftsleben ist immer die Absonderung des Geisteslebens und bekommt von ihm seine Form“, so drückte es Rudolf Steiner aus (GA 337a). Die Suche nach Sinn und Zweck von Wirtschaft und menschlicher Existenz gehört in die Sphäre der Kultur – doch solche Sinn- und Suchfragen werden heute kaum noch gestellt.

Nur in einem freien Geistesleben kann eine Liebe zur menschlichen gesellschaftlichen Ordnung entstehen

Die soziale Frage ist also zunächst eine Geistesfrage – aber diese leidet an der Unfreiheit und Leerheit des heutigen Geisteslebens. Deshalb stellt sich heute die Frage: kann die Zivilgesellschaft die geistige Leere füllen? Erst die Gedankenfreiheit setzt ja soziale Kräfte frei! Denn nur in einem freien Geistesleben kann eine Liebe zur menschlichen gesellschaftlichen Ordnung entstehen. - Warum aber fällt es uns, die wir um diese Zusammenhänge wissen, so schwer, aus dieser Liebe heraus sozial zu handeln?

Der verstorbene holländische Anthroposoph Bernhard Livegood machte uns darauf aufmerksam, dass die Anthroposophen natürlich bei der Bewußtseinsseele angekommen sind Diese enthält keine sozialen Tendenzen mehr, sondern neigt zum Antisozialen. Das Soziale muss fortan aus Freiheit getan werden, wenn es einem wichtig ist. Das aber bedeutet den Sprung in das Geistselbst. Nur das geistig tätige und handelnde Individuum schafft soziale Ordnung durch seinen tätigen Einfluss – und durch sein Eingebundensein in Kultur, Politik und Wirtschaft.

Der verinnerlichte Wille der Bewußtseinsseele müsste also die Frage freisetzen: Was ist das Gute und wie kann es getan werden? Gibt es überhaupt noch absolute Maßstäbe für das Gute? Es ist dazu nicht unbedingt jahrelange Biografie-Arbeit nötig, um vielleicht endlich in der 2. Lebenshälfte den Roten Faden in seinem Leben zu finden für seine eigentliche Lebensaufgabe oder seine Wirkungsstätte oder seinen Bestimmungsort. Heutzutage konfrontiert uns doch der Alltag unmittelbar und jederzeit mit unseren individuellen Herausforderungen, und zwar an dem Ort und Lebenszusammenhang, wo uns das Schicksal gerade hingestellt hat – und mit denjenigen Menschen, die wir gerade in unserem Umfeld und in unseren Beziehungen vorfinden. Das sind ja keine bloßen Zufälle.

So wichtig der häufige Blick nach innen ist, so sollten wir aber nicht vor lauter Selbstbezogenheit vergessen, den Blick auch wieder ständig nach außen zu richten und uns sogar selber wie ein Außenstehender zu betrachten, um die realen Herausforderungen zu erkennen. Wir müssen ja lernen, die künstliche Grenze zwischen innen und außen aufzuheben und den Dualismus zu überwinden.

Eine soziale Zukunft mit Sozialkompetenz verlangt Abschied von sozialer Stellung, Herkunft, Titel und gesellschaftlicher Position

Nicht jeder, der jahrelang sucht, was er denn wirklich will und auf dieser Erde eigentlich soll, wird seine soziale Mission finden, wenn er stets das Allernächste als Herausforderung übersieht. Vor allem ist eine weitere wichtige Voraussetzung zu erfüllen: Der sozial tätige Mensch muss Abschied nehmen von einer inneren Einstellung, die noch zu sehr fixiert ist auf Herkunft, Bildung, Erziehung, Studium, gesellschaftliche Position usw.

Wenn Sie mir eine ganz persönliche Bemerkung erlauben: Ich habe als Bergarbeiterkind aus einfachsten Verhältnissen im Ruhrgebiet immer sehr darunter gelitten, als ich nach der 8-klassigen Volksschule zunächst schon als 14-jähriger im Bergbau lernen und arbeiten musste - um mir dann mühselig auf dem 2. und 3. Bildungsweg abends diejenige Bildung halbwegs anzueignen und die Studienreife zu erwerben, die andere Kraft ihrer Herkunft und sozialen Stellung der Eltern von vornherein mitbekommen haben. Ich bin aber rückblickend dankbar für diesen Umweg, denn er hat nicht nur den eisernen Willen gestärkt, sondern auch die soziale Sicht verändert – und das Heischen um Anerkennung zurückgedrängt.

Es kommt ja im Umgang mit anderen Menschen nicht auf die soziale Stellung der Menschen oder ihren akademischen Titel an, sondern einzig und allein auf den Ich-Wesenskern des anderen Menschen. Die soziale Herausforderung ist also allgegenwärtig und fordert uns unentwegt soziales Handeln ab - sei es in unseren wirtschaftlichen, kulturellen oder politischen Betätigungsfeldern. In der Nachbetrachtung zu den eigenen sozialen Handlungen kann man Missstände infolge eigenen Fehlverhaltens dann beseitigen, daraus lernen und weiter an der eigenen Sozialkompetenz arbeiten.

Die Förderung der Sozialkompetenz ist heutzutage auch das wichtigste Anliegen in den Betrieben und Verwaltungen. Selber bin ich ja in einer großen Kommunalverwaltung als Personalratsvorsitzender für 1500 Beschäftigte tätig, wo wir uns täglich den sozialen Konflikten stellen müssen – ein soziales Übungsfeld ohnegleichen, das ich nicht missen möchte. Erinnern sie sich an Rudolf Steiners Mysteriendramen mit den Szenen im Büro.

Die soziale Entwicklung von der Zukunft her denken, führt in die Spiritualität

Es kommt gleichwohl darauf an, den Blick auch häufiger nach innen zu richten, um ein Gespür für die Aufgaben der Zukunft zu entwickeln. Wenn wir beginnen, soziale Entwicklung von der Zukunft her zu denken – wohin der Mensch als soziales Wesen sich entwickeln will - dann stoßen wir in sozialen Zusammenhängen unweigerlich an spirituelle Fragen.

Um Spiritualität zu finden, kann man z.B. zwei Mal am Tag meditieren – aber man muss es nicht. Meditation ist heutzutage nur eine Möglichkeit, zu innerer Spiritualität zu finden. Es gibt noch andere Wege, die in den Alltagsanforderungen integriert sind:

  • in jeder Menschenbegegnung,
  • mit jeder sozialen Erfahrung,
  • mit jedem Bewusstseinswandel,
  • durch Wahrnehmen von Eigenverantwortung usw.

In der sozialen Bewegung ist deshalb der Begriff aufgetaucht von der so genannten „Erfahrungsspiritualität“ oder „Begegnungsspiritualität“. Diese neue zeitgemäße Erfahrungsspiritualität ist erlebbar im Schnittpunkt zwischen Individualität und Gemeinschaft, aber auch zwischen Individualität und Wissenschaft (z.B. wissenschaftliche Grenzerfahrungen, die sich nur übersinnlich erklären lassen). Diese Erfahrungsspiritualität ist unverzichtbare Voraussetzung für weitere Fortschritte in Nachhaltigkeit und Bewusstseinsentwicklung.

Erfahrungs- oder Begegnungsspiritualität als Alltagsspiritualität auch ohne tägliche Meditation

Wir erleben im Alltag immer intensiver: Die Menschen sind einander gegenseitig die spirituellen Lehrerinnen und Lehrer, die sich gegenseitig helfen, sich mit ihrer eigenen inneren Stimme in Berührung zu setzen. Der Alltag wird sozusagen zu einem Tag im All, zum allumfassenden Menschheitserlebnis, bei dem die Gedanken, Gefühle und Taten des Einzelnen verändernd auf das ganze Weltgeschehen einwirken können – und uns so aus unserem bequemen Zuschauerdasein heraushelfen – aus unserer vermeintlichen Ohnmacht gegenüber dem globalen Weltgeschehen.

Diese Art von Erfahrungs- und Begegnungsspiritualität ist die primäre Grundlage für jene ganzheitliche Kultur, die das 21. Jahrhundert dringend benötigt, will es nicht in eine unkontrollierte Häufung von Katastrophen münden. Manchmal ist man ja geneigt zu fragen: Haben sich die geistigen und kulturellen Werte, um die ein ganzes Jahrhundert zuvor gekämpft hat, in Luft aufgelöst? - Wir müssen diese gemeinschaftlichen Werte individuell wieder ganz neu erringen. Durch eigene Handlungen aus spirituellem Berührtsein etwas an der sozialen Situation zu ändern, zu verbessern, das ist die heutige Herausforderung - sozusagen das ganze Leben mit seinen Menschenbegegnungen als spiritueller Einweihungsweg. Im Sinne von Joseph Beuys: „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt“. Und jeder Mensch ist ein Sozialkünstler, der lebenslänglich an der sozialen Gemeinschaftsplastik mitgestaltet.

Spiritualität im sozialen Alltag als Handlungsleitende innere Kraft in äußerlich schweren Zeiten

Spiritualität findet also im Alltag statt, am Arbeitsplatz, im Büro, in der Fabrikhalle, im Konferenzraum, in Gesprächsrunden, in gemeinsamer Teamarbeit usw. Alltagsspiritualität ist die innere Kraft, die uns Menschen gerade im Sozialen leitet und unterstützt, aus unserem inneren Wesenskern heraus. Diese Erfahrungen erleben immer mehr Menschen in dieser bewegten Zeit immer öfter – z.B. bei all den Aktivitäten und Initiativen der Zivilgesellschaft, als ein Zusammenschluss von handlungswilligen Individualitäten, über die es heute noch intensiver zu sprechen gilt.

Im anthroposophischen Sinne ist ja auch von den Michaelschülern oder Michaeliten die Rede, die wir ja nicht nur in eigenen Reihen wiederfinden, sondern über die ganze Welt und die Zivilgesellschaft verteilt. Überall finden wir Mitstreiter und Gleichgesinnte in einer Art Wahlverwandtschaft, wenn auch manchmal nur vereinzelt. Es ist sozusagen das spirituelle Geheimnis der Zivilgesellschaft, dass sie als ausgleichende kulturelle Kraft wirkt - zwischen den totalitären Tendenzen von Staat einerseits und Markt oder Wirtschaftsdiktat andererseits. Jeder einzelne in der Zivilgesellschaft hat in sich die ausgleichende Kraft zwischen Egoismus bzw. Materialismus und Obrigkeitshörigkeit.

Die Schlüsselrolle der Zivilgesellschaft und ihr spirituelles Geheimnis

Wir alle neigen ja mehr oder weniger dazu, das politische und wirtschaftliche Weltgeschehen den dafür verantwortlichen Politikern und Wirtschaftsführern zu überlassen. Wie gebannt starren wir über die Medien auf das, was da oben auf deren Ebene geschieht für all die davon Betroffenen, anstatt selber eigenverantwortlich zu handeln. Immer lauter wird aber die Frage: Was ist eigentlich Sache des Staates, was ist Sache der Wirtschaft und was ist Angelegenheit der Zivilgesellschaft – die ja eine Schlüsselrolle im Bereich des kulturellen Lebens innehat?

Das Aufkommen der aktiven Zivilgesellschaft ist eine globale Erneuerung, etwa so bedeutend wie die Erfindung der Nationalstaaten oder der Marktwirtschaft. Dieses Thema hat ja unser anthroposophischer Freund und Mitstreiter in der sozialen Dreigliederungsbewegung, Nicanor Perlas von den Phillippinen, in seinem Buch herausgearbeitet mit dem Titel. „Die Globalisierung gestalten“. Das soziale Leben hat demnach eine dreigliedrige Natur, so sind auch Zivilgesellschaft, Staat und Markt 3 Phänomene des sozialen Lebens unserer Zeit.

Wir dürfen aber nicht bei der Betrachtung der Phänomene stehen bleiben, sondern wir stehen ja im wirklichen Leben täglich in allen 3 gesellschaftlichen Lebensbereichen darinnen, so auch in der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft ist dabei im letzten Jahrzehnt zu einer großen virtuellen und teilweise spirituellen Gemeinschaft herangewachsen. Sie ist das kulturelle Element im gesellschaftlichen Gefüge. (In Putins Russland betrachtet man dies zunehmend als eine „Gefahr“ für das bestehende Macht- und Herrschaftsgefüge, so dass dort versucht wird, die Nichtregierungsorganisationen in ihrer Betätigungsfreiheit zu beschneiden, zu sortieren und zu registrieren).

Die soziale Frage als Geistes- und Kulturfrage

Die soziale Frage ist letztlich eine Geistes- und Kulturfrage, um das noch einmal zu betonen. Kultur kann in der sozialen Welt nur durch den einzelnen handelnden Menschen oder durch einzelne in Gemeinschaft entfaltet werden, durch gemeinsame Aktionen. An solchen Gemeinschaftsaktionen hat es in den letzten Jahren wahrlich nicht gemangelt. Es ist etwas in Bewegung gekommen.

Wenn wir einmal ein paar Jahre zurückgehen, in das Milleniumsjahr zur Jahrhundert- oder Jahrtausendwende, da war ja die Frage virulent: Was wird uns das neue Jahrhundert oder Jahrtausend bringen? Wird nach dem kriegsdunklen 20. Jahrhundert nunmehr das 21. Jahrhundert ein soziales und spirituelles Jahrhundert? Ein Jahrhundert des Friedens und der Brüderlichkeit? Oder wird es ein Jahrhundert der sozialen Krisen und ökologischen Katastrophen, ein weiteres Jahrhundert mit Krieg und Terror?

Offensichtlich ist beides veranlagt und noch beides unentschieden? Denn wir haben es selber in der Hand, was wir Menschen aus diesem Jahrhundert machen, wie wir es nutzen und miteinander gestalten: welches Gesicht unser 21. Jahrhundert zeigen wird und ob sich in seinem Antlitz der Zeitgeist Michael spiegelt. Ob wir erneut 100 Jahre versäumen, das soziale Heilsame des spirituellen Dreigliederungsimpulses auch nach außen zur Wirkung zu bringen - indem wir uns vornehm zurückhalten, um aus höherer Warte zu beurteilen, was die anderen alles falsch gemacht haben, die da als so genannte Entscheidungsträger ratlos und hilflos durch das soziale Chaos taumeln?

Die Menschheit als Schicksalsgemeinschaft kommt an der spirituellen Lösung der sozialen Frage nicht vorbei

Nun hat es seit dem Millenium, aber auch schon vorher, immer wieder einige weltbewegende Ereignisse und Handlungen gegeben, die uns zeigen, dass die Menschheit als eine große Schicksalsgemeinschaft an spirituellen Fragen gar nicht vorbeikommt und auch die soziale Frage ganz neu stellen muss. Es hat ja mehrere weltbewegende Ereignisse in dem letzen Jahrzehnt bereits vor dem Millenium und in den 5 Jahren seit dem Millenium gegeben, welche die gespaltene Menschheit aufgewühlt, teilweise auch verbunden haben. Ich will nur einige Beispiele nennen:

  • Der Zusammenbruch der kommunistischen Staaten im Osten und die von den Menschen friedlich erzwungene Öffnung der DDR 1989 führte einerseits zum Ende der Spaltung in Ost und West, andererseits zu der Ideologie, dass mit dem weltweiten Siegeszug des Kapitalismus nunmehr das Ende der Geschichte erreicht sei - obwohl sich das siegreiche System inzwischen längst zu Tode siegt und sein Zusammenbruch absehbar ist.
  • Und auch das nach dem Mauerfall ermöglichte Abrüsten nach dem Ende des kalten Krieges hat sich inzwischen längst wieder zu einem Höchststand an Rüstungsausgaben umgekehrt. Allein die Mitgliedsaaten der EU investieren derzeit jährlich 160 Mrd. Euro in Waffensysteme und würden - nach Artikel 40 Absatz 3 der von der Zivilgesellschaft abgelehnten EU-Verfassung - zu einem permanenten Aufrüsten verpflichtet, um für die weltweiten Präventivkriege und so genannten militärischen Friedensmissionen und Anti-Terror-Kriege gerüstet zu sein. Die USA sind mit über 900 Mrd. Dollar längst beim Höchststand ihrer Rüstungsausgaben in der Geschichte angelangt. Im globalen Wirtschaftsleben spielt die Rüstungslobby eine sehr einflussreiche Rolle. Das Geld für die deiche und den Küstenschutz in New Orleans ist in die Militärsysteme geflossen, so dass eine ganze Stadt apokalyptisch unter Wasser verschwand.
  • Die Vermischung wirtschaftlicher Interessen mit politisch-militärischen Interessen ist alles andere als dreigliederungsgemäß. Sie führt zu Not, Leid, Elend. Das neue Jahrhundert begann folglich sogleich wieder mit Krieg: in Jugoslawien, in Afghanistan, in Zentralafrika, im Irak. Dazu der andauernde Krisenherd im Konflikt zwischen Israel und Palästina.
  • Dann erstarrte die Menschheit am 11. September 2001 - der Jahrestag war vor 2 Wochen - als sich mit dem Terroranschlag auf das Hochhaus der Welthandelsorganisation in New York der Aufstand der Ärmsten in blutigen Terror und religiösen Fanatismus gegen die Reichen entladen hatte. Fortan bedrohen die Maßnahmen im bloß polizeilich-militärischen Antiterrorkampf die Freiheitsrechte und damit die Menschenrechte der Bürger in vielen Staaten dieser Erde, die von weiteren Terrorakten heimgesucht werden.
  • Dann aber gab es vor dem sich anbahnenden Irak-Krieg ein noch nie da gewesenes spirituelles Großereignis am 15. Februar 2003: 18 Millionen Menschen in 160 Städten der Erde gingen ohne große Absprache am gleichen Tag auf die Straße, um gegen den geplanten Irak-Krieg zu protestieren – die größte Friedensbewegung in der Menschheitsgeschichte. Die Zivilgesellschaft mit ihren wachen Weltbürgern bildete spontan eine aus dem Individuellen sich bildende Gemeinschaft und gab den Mächtigen zu verstehen: Ihr handelt nicht in unserem Namen.
  • Immer dann, wenn die Ohnmacht der Menschen am größten scheint und die Politik und das Wirtschaftsgeschehen in ihrer Dominanz; Macht und Unbeweglichkeit zu erstarren drohen, bricht wieder etwas auf: So war es auch bei den vielen Großveranstaltungen der Reichen und Mächtigen auf dieser Erde, bei den Weltwirtschaftsgipfeln, den Konferenzen von Weltbank und Welthandelsorganisation oder den reichen G-8-Industriestaaten. Stets waren viele Menschen der global vernetzten Zivilgesellschaft ebenfalls präsent, um den Bestrebungen von Kommerz und Konkurrenz Widerstand und Alternativen entgegenzuhalten – z.B. auch auf eigenen Weltsozialforen in Brasilien, Südamerika oder Indien mit Hunderttausenden Teilnehmern aus aller Welt - oder auf Europäischen Sozialforen in Florenz, Paris und London, jüngst auch beim ersten deutschen Sozialforum in Erfurt oder zuvor auf dem großen Perspektivenkongress in Berlin, (an denen ich selber auch beteiligt war).
  • Am 2. April 2004 demonstrierten Millionen Menschen in Europa, alleine 500.000 in Deutschland, für ein soziales Europa. Die Medien hatten nicht einmal darüber berichtet. Oder erinnern wir uns an die kürzlich von der Zivilgesellschaft weltweit durchgeführten Live-8-Konzerte - zugunsten des Hunger-Kontinentes Afrika mit millionenfacher Publikumsunterstützung und Bewusstseinsbildung – trotz aller berechtigten Kritik an Wirkung und Erfolgsmaßstab und Kulturniveau dieses Konzertspektakels.
  • Eine nachhaltige Alternative und einen Gegenentwurf zur Kommerzialisierung der gesamten Welt zeigten auch die großen Weltkonferenzen oder „Erdgipfel“ von Rio 1992 und Johannesburg 2002 auf, die von der Uno zusammen mit der Zivilgesellschaft veranstaltet wurden. 180 beteiligte Länder entwickelten die Vision eine nachhaltigen globalen Entwicklung unter der Fragestellung: Wie kann eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen und Generationen auf der Erde geschaffen werden, ohne die ökologischen Grenzen zu sprengen und die soziale Spaltung zu verschärfen? Wirtschaft, Soziales und Umwelt sollen so in Einklang gebracht werden, dass wir nicht auf Kosten der Armen und zu Lasten unserer Kinder und Enkel leben.
  • Seither wird im Rahmen der weltweiten Agenda 21 versucht, im Dialog zwischen Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft eine Änderung der Lebensstile zu leisten unter dem Motto: „Global denken, lokal handeln“. Alleine in Deutschland beteiligen sich mehrere tausend Städte und Gemeinden sowie Initiativen und Institutionen an den Projekten der sozialen, ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit, so auch die Stadt Nürnberg. Die Agenda 21 ist der Prüfstein im 21. Jahrhundert für die Wirksamkeit und Zukunftsfähigkeit des geistigen Menschenwesens und dessen nachhaltige Willenskräfte in der Welt. Denn wenn die Ökonomie mit dem totalen Markt alles andere beherrscht, dann würden die Kultur erstickt und das individuelle nivelliert, ein brüderliches Zusammenleben unmöglich gemacht und die Seele würde verkümmern und erkalten, statt am Schicksal des anderen zu erwachen und sich für den anderen zu erwärmen.
  • Die sozial motivierte Gegenbewegung aus den Aktiven der Zivilgesellschaft , die u. a. für einen Ausgleich zwischen Arm und Reich auf dieser einen Welt und damit für ein brüderliches Wirtschaftsleben eintritt, hat ihre Wirkung nicht verfehlt: Pläne mächtiger Interessengruppen wurden durchkreuzt, Verhandlungen der WTO scheiterten, erstmalig in Seattle, jüngst wieder in Genf. Immer dann, wenn Staatsmacht und Wirtschaftsmacht vereint auftreten als gemischte Könige, sind sie nach den Gesetzen der sozialen Dreigliederung zum Scheitern verurteilt.
  • Auch das Bestreben in Europa, den bald 371 Mio. mündigen EU-Bürgern ohne gemeinsame Willensbildung eine Verfassung von oben überzustülpen, - die u. a. vorsah, wirtschaftliche Lobbyinteressen und das wirtschaftliche Konkurrenzprinzip in den Verfassungsrang zu erheben - scheiterte an der wachen und aufgeklärten Zivilgesellschaft in mehreren Ländern Europas und deren Vernetzung.
  • Nunmehr wird eine überfällige breite Leitbild- und Verfassungsdiskussion von unten angestoßen unter der Frage: Was ist Europa und was wollen wir Europäer für die Zukunft und für die Menschheit? Ich hoffe, wir beteiligen uns alle daran! (Siehe Dreigliederungsrundbrief 3/2005 mit meinen 7 Thesen zur nachhaltigen Zukunft in Europa als Beitrag zur Leitbilddiskusion). Wollen wir ein kommerzielles oder ein kulturelles Europa? Die Frage nach der sozialen und ausgleichenden Rolle Europas zwischen den Polaritäten ist zugleich auch die Frage nach der spirituellen Identität Europas und seiner Menschen - und nach den geistigen Wurzeln Europas.
  • Oft sind es aber nicht nur politische oder kriegerische Ereignisse oder wirtschaftliche Bestrebungen, mit denen die Menschen in der Zivilgesellschaft weltweit auf den Plan gerufen werden. Manchmal sind es auch Naturereignisse wie zum Jahreswechsel 2004/2005, als mit Tsunamis eine Flutwelle in Südasien Hunderttausende Menschen aus dem Leben riss, darunter auch viele Touristen aus Europa. Eine noch nie da gewesene Spendenbereitschaft und Hilfsbereitschaft aus dem Mitleiden und Mitgefühl heraus ließ für eine zeitlang die gespaltene Menschheit als globale Schicksalsgemeinschaft wieder enger zusammenrücken angesichts der zerstörerischen Kräfte der Naturgewalten – und die spirituelle Frage wurde aufgeworfen, ob diese mit den zerstörerischen Kräften in der menschlichen Gesellschaftsordnung zusammenhängen?
  • Eine ungewohnte Anteilnahme fand weltweit auch ein anderes Ereignis wie der Tod des alten kranken Oberhauptes der katholischen Kirche, Papst Johannes Paul der VI – und später der kirchliche Weltjugendtag in Köln mit seinem Nachfolger. Ganz offensichtlich fesselten unreflektierte spirituelle Sehnsüchte vor allem der jungen Menschen die Aufmerksamkeit auf den Personalwechsel an der Spitze der dogmatischen römisch-katholischen Kirche, - obwohl diese das Religiöse und Spirituelle eher in das Materielle geführt hat, wie Rudolf Steiner in mehreren Vorträgen dargelegt hat. Ich will das hier nicht näher vertiefen – und es auch bei diesen Beispielen belassen.

Das wache Beobachten des Weltgeschehens gehört zu den Voraussetzungen, um als Weltbürger in das Geschehen handelnd und urteilsfähig einzugreifen zu können, zusammen mit anderen Menschen. (Darum bemühe ich mich seit einigen Jahren, in der Wochenschrift Goetheanum und im Dreigliederungsrundbrief und anderen Publikationen wichtige Weltereignisse für die Leser aufzubereiten und zu kommentieren sowie den Blick darauf zu lenken). Soziale Dreigliederung ist ja diejenige Arbeit, die mit anderen Menschen zusammen getan wird, und die über das Geistes- und Kulturleben auch in die Politik und Wirtschaft verändern eingreift (Nicanor Perlas).

Wir brauchen Spiritualität im politischen Alltagshandeln – Das Politische will geistig durchdrungen werden

Wir brauchen eine Politik aus anderem Geist, einen künstlerischen Politikbegriff – eine Spiritualität auch im politischen Alltagshandeln – deshalb bitte keine Angst vor dem Politischen, das ja geistig durchdrungen werden will. Die Zivilgesellschaft, die das erstrebt, ist keine neue Macht, kein dritter Machtfaktor neben Staat oder Wirtschaft, sondern Kämpfer gegen das Machtprinzip - zugunsten der Handlungsmacht der freien und mündigen Menschen, die solidarisch ihr Zusammenleben gestalten, - das ist die Mission der sozialen Dreigliederung (Chistoph Strawe).

Mit dem Jahrhundertwechsel ist durch die Zivilgesellschaft also keine neue weltliche Macht, aber eine neue globale und spirituelle Kraft aufgetreten, – wenn man so will eine geistige Macht mit der Kraft der Nächstenliebe. Wir stehen vor dem christlichen Mysterium von Individualität und Gemeinschaft – mit dem Prüfstein der Sozialität. Ohne kulturelle, soziale und spirituelle Sensibilität erreichen wir keine Nachhaltigkeit. Wie sozial und wie spirituell gestalten wir das neue Jahrhundert und wie entwickeln wir die Menschheitskultur?

Lehren aus der Geschichte ziehen bei spiritueller Geschichtsbetrachtung

Beginnen wir damit bei uns in Deutschland. Hier stehen wir äußerlich in mancher Hinsicht vor einer politisch durchaus vergleichbaren Situation wie vor knapp 100 Jahren vor dem Aufkommen der aktiven Dreigliederungsbewegung 1919, auch wenn Geschichte sich nicht wirklich wiederholt und historische Zustände nicht vergleichbar sind. Die Gegenwart in Deutschland ist jedenfalls geprägt von:

  • Hoher Massenarbeitslosigkeit,
  • Verarmung von Bevölkerungsteilen,
  • ideologisch-klassenkämpferischen Auseinandersetzungen,
  • Krise der Parteien und des Parlamentarismus
  • mit Spaltung der Sozialdemokratie,
  • drohendem Börsencrash (durch die vom Wirtschaftsleben abgekoppelten Finanzmärkte),
  • Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte (unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung),
  • Zulauf der Neonazis in Teilen Deutschlands und bei der Jugend,
  • Brandmarkung von Menschen bestimmter Glaubensrichtungen mit Blick auf die islamischen Mitbewohner,
  • Krieg wird wieder als Mittel der Politik angesehen,
  • Imperialistische Bestrebungen in der Politik bekommen wieder Aufwind, (Amerika, Europäer in Afrika, Balkan-Konflikt),
  • enge Verquickung zwischen Industriellen und politischen Führern und deren Interessen usw.

Das 21. Jahrhundert will ein soziales, friedliches und spirituelles Jahrhundert werden

Es gibt aber auch etwas, das neu ist: Die Initiativkraft der international vernetzten Zivilgesellschaft, die das globale Geschehen im Sinne der Menschenrechte längst mit beeinflusst. Die zunehmenden Aktivitäten der Zivilgesellschaft machen deutlich: Das 21. jahrhundert will nach dem Willen der Menschen eigentlich ein soziales Jahrhundert werden, ein friedliches Jahrhundert, ein spirituelles Jahrhundert, ein ethisches Jahrhundert, ein ökologisches Jahrhundert – ein Jahrhundert der individuellen Verantwortung für die globalen Entwicklungen und die Mitmenschen. Millionen Menschen sind in Deutschland ehrenamtlich für das Gemeinwesen tätig, ohne für diese Arbeit bezahlt zu werden. Wenn jedoch die Erwerbsarbeitszeit für die immer knapper werdende Lohnarbeit zwangsweise verlängert wird, bleibt kaum noch freie zeit für das gemeinnützige Engagement.

Wie die Menschen miteinander leben und umgehen und was sie mit der ihnen anvertrauten Erde als ihre Lebensgrundlage anstellen – das sind die Kernfragen dieses Jahrhunderts. Sie sind nicht neu und waren schon in der 2. Hälfte des zurückliegenden Jahrhunderts virulent. Aber jetzt ist unwiderruflich soziales Handeln angesagt, sonst ist es am Ende des Kampfes „jeder gegen jeden“ unser letztes Jahrhundert.

Lassen Sie mich mit Bezug auf die heutige Michaeli-Tagung ganz zum Schluss nur noch einige Aussagen anfügen: Mit michaelischem Mut und mit eiserner Willenskraft müssen wir uns diesen Tatsachen und Herausforderungen stellen. Das 21. Jahrhundert wird dann ein michaelisches Jahrhundert für die Menschheitsfamilie. Der Zeitgeist Michaels lebt in den kulturellen Bestrebungen der Zivilgesellschaft.

Zukunftshoffnung: Gelebte Spiritualität von Millionen sozial engagierter Menschen in der Zivilgesellschaft

Millionen Menschen in aller Welt haben aus freiem Entschluss beschlossen, die Welt neu zu beginnen. Sie entwickeln kreative Alternativen, indem sie nicht nur ihre Herzen und Gedanken erneuern, sondern auch ihr eigenes Leben verändern: das ist gelebte Spiritualität! Das vermeintliche Ende der Geschichte kann somit der Anfang einer neuen Geschichte sein. Einer Geschichte, bei der wir uns neu auf die Suche begeben nach dem eigentlichen Sinn und Zweck von arbeitsteiligem Wirtschaften und von menschlicher Existenz.

Das sind kulturelle Fragen, die aus der Zivilgesellschaft heraus beantwortet und in Politik und Wirtschaft hineingetragen werden müssen. Dort sind diese Fragen fast völlig aus dem Blick geraten. Die Eliten in Politik und Wirtschaft sollen nicht über die Betroffenen oder für die Betroffenen nachdenken, sondern mit den Betroffenen. Dann wird allen Beteiligten recht schnell deutlich: Soziale Ungerechtigkeit verletzt das Rechtsgefühl. Aus diesem Gefühl wird einerseits die soziale Einsicht angeregt, andererseits das soziale Wollen angespornt. Wie sagte schon der Hl. Augustinus als Staatsrechtslehrer im Altertum: „Ein Staat, dem es an sozialer Gerechtigkeit mangelt, was ist der anderes als eine große Räuberbande“.

Ein gesundes soziales Leben kann sich nicht aus abgehobenen Entscheidungen von oben, sondern nur aus gemeinschaftlichen Entscheidungen heraus entfalten – also auch nicht als Ergebnis weltbeglückender Programme Einzelner oder von Parteien. Für die demokratische Mitwirkungsmöglichkeit aller betroffenen Menschen als Gleiche unter Gleichen kämpft ja auch die Initiative für direkte Demokratie – mit wachsenden Teilerfolgen.

Lebensfähig ist ein sozialer Organismus nur dann, wenn die Beteiligungsmöglichkeiten und die Menschenwürde aller Menschen gewahrt bleibt. Und wenn er jedem Menschen ermöglicht, sich in einer menschenwürdigen Weise die Frage zu beantworten: „Was bin ich eigentlich als Mensch?“

Ideen-Impulse der Menschen werden zu Wirklichkeiten – An jedem Punkt des Lebens kann mit sozialem Handeln begonnen werden

Im sozialen Organismus sind Ideen-Impulse des Menschen Wirklichkeiten: Es ist also nicht möglich, die Entwicklung objektiv zu betrachten wie in der Natur. Man muss die Entwicklung selber bewirken! „An jedem Punkt des Lebens kann angefangen werden mit der sozialen Dreigliederung, wenn man nur will, wenn man ihren Sinn richtig versteht“ so schreibt Rudolf Steiner in den Kernpunkten der sozialen Frage.

Dreigliederung ist also nicht nur ein Ziel, sondern ein Weg. „Die Idee der Dreigliederung ist eben eine solche, der man ganz dienen muss, wenn man ihr überhaupt dienen will“. (Steiner in „Staats- und Menschheitspolitik“). Werden wir (in diesem Sinne des anthroposophischen Sozialimpulses und michaelischen Zeitgeistes) alle zu Dienern der sozialen Dreigliederung und damit zu spirituellen Dienern der Menschheitsentwicklung im Alltag!