Wilhelm Neurohr

Erstveröffentlichung in der Wochenschrift Goetheanum

Welternährungsgipfel in Rom

Erst wenn die Medien das Leid der 862 Mio. hungernden Menschen in 37 Ländern der Welt wiederholt in die Häuser der wohlhabenden Länder übertragen, reagiert die internationale Gemeinschaft, so wurde auf dem UN-Welternährungsgipfel in Rom gegenüber den 40 Staats- und Regierungschefs und 5000 Delegierten der 191 Teilnehmerländer bedauert. Die Ursachen für die aktuelle globale Ernährungskrise sind vielfältig, die Folgen dramatisch und die Lösungsansätze breit gefächert. Die Zeit des Redens ist vorbei und nachhaltiges Handeln mit einer umfassenden Erneuerung der globalen Agrarpolitik angesagt.

Das nicht mehr erreichbare Ziel des Millenium-Gipfels von 2000, die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren, ist nach Einschätzung des Generaldirektors von FAO realistischerweise auf das Jahr 2150 zu projizieren. Vielen galt der Hunger in der Welt scheinbar als schon „weitgehend besiegt“. Doch das erweist sich als trügerisch: Das Fehlverhaltens aller Beteiligten hat zu einer dramatischen Verschärfung der Welternährungskrise beigetragen statt zu einer Linderung der Not – ein Skandal in der Menschheitsgeschichte.

Ein Scheitern des Welternährungsgipfels kann sich die Weltgemeinschaft nicht leisten, doch mit Geld allein sind nicht alle Nöte zu beheben, obwohl finanzielle Soforthilfe unverzichtbar ist: 9,7 Mrd. € jährlich nach Aussage von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon; einmalig bereitgestellt wurde aber nur 6,5 Mrd. €. Doch auch Produzenten, Händler und Verbraucher müssen ihr Verhalten ändern und den „Weckruf“ vernehmen.

Lebensmittel als Luxusgüter - Unruhen und Aufstände der hungernden Menschen

Wenn nicht weiterhin jeder siebte Mensch weltweit hungrig zu Bett gehen und jede Sekunde ein unterernährtes Kind an Folgen des Hungers sterben soll, sind „mutige und kühne Sofortmaßnahmen“ gegen die Krise angesagt, um gefährliche Entwicklungen mit Risiken für die politische Stabilität zu vermeiden. In mehreren Ländern gab es bereits hungerbedingte Aufstände und zornige Proteste; in weiteren 33 Ländern befürchtet die Weltbank Unruhen, weil die Menschen ihre zu Luxusgütern gewordenen Lebensmittel nicht mehr bezahlen können. In den vergangenen 3 Jahren sind die Preise für Lebensmittel, vor allem für die Grundnahrungsmittel Weizen, Reis und Mais laut Weltbank um 83% und mehr gestiegen. Allein im ersten Vierteljahr 2008 lag weltweit die Lebensmittepreisinflation bei 53%.

EU und USA exportieren die Nahrungsmittelkrise – Hunger als Kehrseite des Wohlstandes

Die EU und die USA gelten als Hauptverursacher der zugespitzten Krise wegen ihrer Agrarsubventionen, Exportbeschränkungen, Zölle und Preiskontrollen bei Nahrungsmitteln zu Lasten der armen und zugunsten der wohlhabenden Länder –ohne Einigung bei den Verhandlungen zum Welthandelsabkommen der WTO. Der Hunger der einen ist der Preis für den Wohlstand der anderen, denn die EU und USA exportieren die Nahrungsmittelkrise.

Um ihre Abhängigkeit vom Rohöl zu verringern, fördern sie außerdem den Trend zu Biokraftstoffen und tragen damit zum zweistelligen Preisanstieg der Lebensmittelpreise in den Entwicklungsländern bei, während bei uns die zu niedrigen Lebensmittel-Dumpingpreise den Bauern die Existenzgrundlage entziehen, wie der Streik der deutschen Milchbauern zeigt. Es stellt sich die Frage nach dem „gerechten Preis“ für Nahrungsmittel. Die Lebensmittelmärkte werden von Monopolisten beherrscht. Die Industrieländer geben zudem ein Vielfaches für die um 30% auf Rekordhöhe von 1,2 Billionen Dollar gestiegenen Rüstungsausgaben aus statt einen Bruchteil für Welternährungsprogramme.

Mit einer „grünen Revolution“ an den eigentlichen Ursachen ansetzen

Weitere Ursachen für Lebensmittelknappheit und -verteuerung sind der Klimawandel mit Dürre, Missernten und Überschwemmungen auf Landwirtschaftsflächen, von denen gerade die ärmeren Länder mit ohnehin knappen Lebensmitteln betroffen sind. Bevölkerungswachstum und Fleischkonsum tragen ihr übriges dazu bei. Weltweit werden zunehmend Flächen genutzt, um Rohstoffe für Biosprit anzubauen, während zugleich immer weniger Nahrungsmittel produziert werden, so dass ein Preisanstieg unvermeidlich ist. Gerade die ärmeren Staaten haben ihre eigene Landwirtschaft teilweise aufgegeben oder stützen nur noch die Produktion von Exportfrüchten. Bis 2030 müsste jedoch die Landwirtschaftsproduktion verdoppelt werden.

In Afrika und weltweit ist eine „grüne Revolution“ mit Wiederbelebung der Landwirtschaft und der ländlichen Entwicklung angesagt und ein verbesserter Zugang zu Saaten und Düngemitteln. Grundlegende Reformen im System der Nahrungsmittelhilfen und langfristige Investitionshilfen für die Kleinbauern sind vonnöten. Doch obwohl sie 80% der globalen Nahrungsmittel produzieren, wurden sie zum Ernährungsgipfel nicht eingeladen.

Die dürftige Abschlusserklärung des Gipfels empfanden Vertreter der Zivilgesellschaft als „leere Worte für die leeren Bäuche“; mit der Koordination der Hungerhilfe durch Weltbank und IWF würde „der Bock zum Gärtner gemacht“ und überdies die Biokraftstoff-Problematik ausgeklammert. Auf einer alternativen Gegenkonferenz hatten sie zuvor eine Abkehr vom landwirtschaftlichen Liberalisierungskurs und einen internationalen Nothilfeplan für 53 besonders betroffene Länder. Dazu gehören Agrarberatung und -forschung zur nachhaltigen Ernährungssicherheit, faire Handelsbedingungen, Investitionen in Bildung und Gesundheit, soziale Sicherungssysteme und Gewöhnung der Verbraucher in Industrieländern an höhere Nahrungsmittelpreise. Nicht zuletzt gilt: Ohne geistige Nahrung für die Menschheit ist der Hunger in der Welt nicht zu besiegen!