Wilhelm Neurohr

Heiligendamm an der Ostsee – die „Seele Europas“ – vor dem G-8-Gipfel, dem Treffen der Staatschefs der 8 reichsten Industrienationen vom 6. bis 8. Juni 2007: Eine gespenstische Szenerie und aufgeheizte Diskussionen im Vorfeld infolge der überzogenen Sicherheitsvorkehrungen drängen die Themen Afrika und Klimaschutz in den Hintergrund. Wie demokratisch und dialogfähig ist die Politik im 21. Jahrhundert? Dringt die weltweite soziale Bewegung mit ihren inhaltlichen Anliegen durch oder lässt sie sich einschüchtern, bändigen und mundtot machen?

„Wir werden alles tun, damit wir einen friedlichen Gipfel haben“, betonte der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lorenz Caffier (CDU). In Wirklichkeit passiert provokativ das genaue Gegenteil: Der Staat rüstet gegen seine kritischen jungen Bürgerinnen und Bürger auf und kriminalisiert sie schon im Vorfeld, obwohl sie lediglich zivilen, gewaltfreien Ungehorsam angekündigt hatten. Ein 12 Mio. € teuerer hoher Zaun mit Stacheldraht wurde schon vor Monaten rings um die Tagungsstätte errichtet. 16.000 Polizisten und Sicherheitskräfte sind in vorbereitenden Übungen. 1.100 einsatzbereite Bundeswehrsoldaten wurden angefordert, um in „Amtshilfe“ zur Absicherung des Tagungsortes aus der Luft und von der See aus mit Minenjagdbooten zu sorgen.

Großangelegte Razzien an 40 Orten in mehreren Städten auf der Suche nach angeblich 18 namentlich bekannten „terrorismusverdächtigen“ und „gewaltbereiten“ Globalisierungskritikern sorgten für Empörung. Angedroht sind Vorbeugehaft, das Errichten von Massengefängnissen, beschleunigte Verfahren, Aussetzen des Schengener Abkommens für freien Grenzverkehr zur Abweisung „militanter“ Demonstranten aus dem Ausland und weiteres mehr. Computerserver wurden beschlagnahmt, um die Mobilisierung der Demonstranten zu erschweren, die generell als Globalisierungsgegner“ gebrandmarkt werden. Dabei streiten sie für eine menschenwürdige und gewaltfreie Art und Weise der Globalisierung.

Aus Genua nichts gelernt?

Genua lässt grüßen: Beim G-8 Gipfel 2001 im italienischen Genua hatte die Polizei als Vorwand, auf friedlich schlafende jugendliche Demonstranten nachts einprügeln zu können, selber durch eingeschleuste vermummte Gewalttäter auf brutalste Weise für ein blutiges Szenario gesorgt, um die Demonstranten zu kriminalisieren. (siehe Goetheanum Nr….) Ein anschließendes Untersuchungsverfahren hat nach der öffentlichen Empörung dies bestätigt; hohe Polizeikräfte verloren ihren Posten und wurden rechtskräftig bestraft. Der „starke Staat“ des Herrn Berlusconi war blamiert und demaskiert.

Der „Terror der Ökonomie“ (A. Forrestier) mit den „Marktradikalen“ und deren politischen Helfern zeigt offenbar „sein wahres Gesicht“ und bestätigt die Globalisierungskritiker. Es handelt sich laut Kritiker um eine allenthalben gewaltsame Form der Globalisierung, bei der es um handfeste Interessen der Wirtschaft und der Finanzmärkte geht, zu Lasten demokratischer Entscheidungen und Gestaltungen – denn die Politiker sehen sich überall in erster Linie in einer dienenden Funktion für die einseitigen Interessen der Wirtschaft, zum Preis der Demokratie und Freiheit.

Dialog mit Nichtregierungsorganisationen

Dabei hatte es im Vorfeld des G-8-Gipfels so gut begonnen: Zum ersten Mal trafen sich offizielle Vertreter der Teilnehmerstaaten mit Nichtregierungsorganisationen vor allem zum zentralen Thema Klima zum Meinungsaustausch. Die wirksame Reduzierung der Treibhausgase solle notfalls ohne die USA beschlossen werden, so die Globalisierungskritiker zu den Regierungsvertretern. Zum Thema Afrika hätten die G-8-Staaten ihre vollmundigen Zusagen zur Aufstockung der Entwicklungshilfe, die seither sogar um 8% geschrumpft sei, nicht eingehalten. Die Vorsitzende der Welthungerhilfe. Ingeborg Schäuble, kritisierte, dass der G-8-Gipfel die falschen Schwerpunkte für Afrika setze und den ländlichen Raum vernachlässige, wo 80% der Hungernden leben.

Auch für die Initiative zur Entschuldung der armen Staaten bedürfe es eines konkreten Zeitplanes. Hilfen für Afrika und Klimawandel stehen zwar auch diesmal vorrangig auf der Tagesordnung, so verkünden die Staatschefs. Kaum jemand mag jedoch noch daran glauben, dass die führenden Repräsentanten eines in der Wirkung „tödlichen“ neoliberalen Wirtschaftssystems, das sprichwörtlich „über Leichen geht“ angesichts der 100.000 Hungertoten täglich in den Armutsregionen – so drastisch kritisiert Jean Ziegler als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung - zu ehrlichen Lösungen für die Ärmsten und für den Lebensraum Erde beitragen.

Deutschland bleibt seinen eingeforderten Beitrag für die Entwicklungshilfe weiter schuldig. Und gerade erst hat Bundesumweltminister Gabriel auf der UNO-Umweltkonferenz am 12. Mai in New York für die EU die Unterschrift verweigert unter ein gescheitertes Klimaabkommen, weil dieses einen Rückschritt bedeutet hätte gegenüber den innerhalb der EU bereits getroffenen Zielsetzungen.

Vergrößerte Kluft zwischen Regierenden und Bürgern: Freiheitsimpuls und Dialogfähigkeit

Mit den eingeforderten und angekündigten Problemlösungen für Afrika und den Klimawandel ist also auf dem Gipfel in Heiligendamm kaum ernsthaft zu rechnen, wohl aber mit vermehrtem Interesseneinfluss der reichen Staaten beim Welthandel und Rohstoffzugriff, obwohl sie nur einen Bruchteil der Weltbevölkerung beherbergen. Gleichwohl forcieren sie eine gewaltsame neoliberalen Globalisierung, die eine Rohstoffsicherung für die reichen Industriestaaten mit militärischen Mitteln etabliert hat und ungebremst die Ausbeutung der ärmeren Länder unter dem Deckmantel der Humanität betreiben..

Zwischen abgeschirmten Politikern in einer Hochsicherheitszone und protestierenden Bürgerinnen und Bürgern, die für eine menschenwürdige Art und Weise der Globalisierung eintreten, ist deshalb die Kluft und Distanz größer denn je. Veränderungen sind nur durch die mutige Zivilgesellschaft, nicht durch die gewählten politischen Machthaber zu erwarten, die eben diese Zivilgesellschaft unter Kontrolle zu bringen versuchen. Jetzt wird sich erweisen, wie groß der Freiheitsimpuls der Menschen und die wahre Dialogfähigkeit einer längst eingeschränkten Demokratie ist.