Wilhelm Neurohr

​Was ist nur in unseren Bundespräsidenten gefahren bei seinen beiden letzten „großen Reden“? Auf der 50. Münchener „Wehrkundetagung“, neuerdings „Sicherheitskonferenz“ genannt – eine Ansammlung hochrangiger Militärs, Verteidigungsminister, Rüstungsindustrieller und Lobbyisten – forderte er: Die Wirtschaftsmacht Deutschland solle sich künftig stärker in die Weltpolitik als „europäische Führungsmacht“ einmischen, notfalls auch militärisch an allen Krisenschauplätzen. Angeblich würden die anderen Staaten eine solche Rolle vom „Drückeberger“ Deutschland erwarten. 100 Jahre nach Ausbruch des 1. Weltkrieges und fast 70 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs und des Holocaust müsse sich Deutschland als „militärischer Zwerg“ von seiner Schuldfrage und der Kultur der Zurückhaltung weltpolitisch verabschieden und quasi wieder eine „Weltmachtrolle“ einnehmen.

Soll Deutschland als drittgrößter Rüstungsexporteur nach Russland und Amerika sowie als zweitgrößte Exportnation nach China, mit der „mächtigsten Frau der Welt an der Spitze“, künftig also auch militärpolitisch in dieser Weltliga spielen – obwohl nach jüngsten Umfragen 60% der Bundesbürger dies ablehnen? Diese Zweifler möchte Bundespräsident Gauck jedoch nach seinen Worten zu einem „neuen Nationalbewusstsein führen“ und ein „Wissen um Deutschlands Stärke und Verantwortung vermitteln“. Beifall bekommt er dafür prompt auch vom Zeitungskommentator Günter Wolf unter dem Motto: „Deutschland darf sich nicht drücken“, deshalb müssten die Politiker die Menschen davon überzeugen, dass dies „für Deutschland der richtige Weg“ sei.

Solche „Großmacht-Allüren“ sind ganz im Sinne der Rüstungslobbyisten und Banker aus dem Beirat der Sicherheitskonferenz, die schon lange wegen 4,2% Umsatz-Rückgang eine Aufstockung des deutschen Rüstungsetats fordern und denen Gauck auf der Konferenz eine „herausragende Rolle“ attestierte. Seine neue Botschaft verkündet der Bundespräsident nicht ohne Rückendeckung, sondern in einer konzertierten Aktion. Denn Gleiches war bereits dem „außenpolitischen Strategiepapier“ der großen Koalition aus CDU und SPD zu entnehmen, aus dem Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin van der Leyen jüngst zitierten: Darin ist von einer „offensiveren deutschen Weltpolitik“ und von „weltweiten Interventionen jeglicher Art“ die Rede, von einem „machtvollen deutschen Auftreten“ und „stärkerer deutscher Führung“ sowie von „stärkerer Mitgestaltung der globalen Ordnung“. Offensichtlich soll entgegen dem Bürgerwillen wieder „am deutschen Wesen die Welt genesen“?

Immer dann, wenn es innenpolitische Probleme gibt, wird davon durch außen- und militärpolitischen Themensetzung geschickt abgelenkt – das ist eine altbekannte politische Taktik. Im Regierungsprogramm der großen Koalition mit den „starken Sozialdemokraten“ kommt die offensive Armutsbekämpfung oder sozial gerechte Steuerpolitik ebenso wenig vor wie in der inhaltsleeren Regierungserklärung von Kanzlerin Merkel. Flankierend hatte Bundespräsident Gauck deshalb vor zwei Wochen in seiner „wirtschaftspolitischen Grundsatzrede“ die „negative Beurteilung des Neoliberalismus“ durch die Bevölkerung missbilligt, obwohl der (gescheiterte) Neoliberalismus die soziale Spaltung unserer Gesellschaft und die Finanzmarktkrise verursacht hat. Ist der evangelische Pastor aus Rostock dabei, sich in Militär- und Wirtschaftsfragen als bürgerfernster Bundespräsident aller Zeiten zu entpuppen?